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9 aus 58 für möglichen Regierungswechsel

Jedes Mitglied der Grünen ist bis Sonntag aufgerufen, seine neun wichtigsten Themenschwerpunkte zu benennen. Ausgewählt werden kann aus 58 Projekten, die auf dem Parteitag beschlossen wurden. Die Top 9 werden bei einem Regierungswechsel dann als Erstes in Angriff genommen.

Von Catrin Stövesand | 06.06.2013
    "Beim Thema Energiewende und Ökologie habe ich auf jeden Fall schon mal das Schlüsselprojekt 1 angekreuzt."

    Ein paar Favoriten stehen für Marie Dazert bereits fest. Die 20-Jährige ist Sprecherin des Grünen-Kreisverbandes im westfälischen Hamm, eine konservativ regierte Gemeinde mit viel Handlungsbedarf in Sachen Energiewende.

    "Beim Bereich Gerechtigkeit habe ich ganz viele Fragezeichen und ganz viele Kreuzchen gemacht."

    Im Parteibüro in der Hammer Innenstadt blättert die junge Frau im aktuellen Mitgliedermagazin der Grünen. Dort sind die 58 Schlüsselprojekte aufgelistet, aus denen am Wochenende die Top 9 ausgewählt werden sollen.

    Schlüsselprojekte, das sind konkrete Vorhaben, etwa:

    "Die Steuerreform, die Entlastung und GeringverdienerInnen und die höhere Belastung von höheren Vermögen und Einkommen, gleicher Lohn in der Leiharbeit, die Bürgerversicherung."

    Auf ihrem Programmparteitag Ende April haben Bündnis 90/Die Grünen ihre politischen Ziele für den Bundestagswahlkampf abgestimmt. Die verschiedenen Bereiche sind unter drei Hauptpunkte gefasst:

    1. Energiewende & Ökologie
    2. Gerechtigkeit
    3. Moderne Gesellschaft

    Die Prioritäten in diesen Bereichen setzt nun die grüne Basis. Wie schon bei der Urwahl der Spitzenkandidaten sind die mehr als 60.000 Mitglieder gefragt. Aus den genannten drei Politikfeldern sollen sie wiederum jeweils drei Vorhaben auswählen, die für sie die wichtigsten sind und die - ihrer Meinung nach - bei einer Regierungsbeteiligung zuerst umgesetzt werden sollen. Mit einem zusätzlichen Joker-Punkt können sie ein Projekt ganz besonders hervorheben oder ein Viertes unterstützen. Und sich festzulegen, das fällt bei 9 aus 58 offenbar tatsächlich schwer. Marie Dazert zeigt auf ihre zahlreichen Kreuze und Notizen:

    "Also, ich habe ein ganz großes Problem, mich im Bereich Gerechtigkeit zu entscheiden, weil da so viele wichtige Punkte stehen. Beim Bereich "Moderne Gesellschaft" habe ich mir auf jeden Fall das Schlüsselprojekt 40 'Für echte Jugendpartizipation und Wahlalter 16' angekreuzt, weil das auch so immer mein Anliegen war, in der Grünen Jugend dafür zu kämpfen, dass auch junge Menschen mitbestimmen können."

    Und mit diesem Anliegen will Marie Dazert auch in den Bundestag einziehen. Für die Wahl im September hat die Studentin in Nordrhein-Westfalen Listenplatz 21 ergattert.

    Mit im Hammer Büro sitzt Laura Bothe von der Grünen Jugend. Die 20-Jährige tut sich ebenfalls schwer, ihre neun Punkte schon jetzt zu verteilen:

    "Ich finde es genau so schwierig. Für mich habe ich jetzt ausgemacht, dass ich das Projekt Ganztagsschule unterstützen werde, dafür werde ich auch meinen Joker einsetzen. Gerade auch, weil man in Hamm auch sieht, wie wichtig es ist, dass Kindern Bildung ordentlich vermittelt wird, dass genug Zeit dafür da ist, dass vielleicht auch Freizeit in der Schule stattfinden kann."

    Am Samstag und Sonntag wird abgestimmt. Die Mitglieder treffen sich in den Büros der bundesweit mehr als 250 Kreisverbände oder haben ihre Favoriten schon per Briefwahl nach Berlin an die Geschäftsstelle der Partei geschickt. Im Hamm soll am Sonntag ein Grillfest möglichst viele Mitglieder zur Abstimmung locken.

    Schon jetzt kann eine Internetseite der Grünen bei der Entscheidungsfindung helfen. "gruener-mitgliederentscheid.de" listet alle Schlüsselprojekte auf, liefert Erläuterungen und bietet die Möglichkeit Argumente auszutauschen. Das allerdings findet eher woanders statt.

    "Auch wenn es auch dieser Internetseite vielleicht noch ein bisschen leiser ist, in den Sozialen Netzwerken geht’s da auf jeden Fall schon heiß her jetzt."

    Prominente Grüne haben vorab veröffentlicht, welche Projekte ihre Stimmen bekommen werden oder sie werben - etwa auf Facebook - ganz gezielt für einzelne Schlüsselprojekte. Marie Dazert klappt ihren Laptop auf.

    "...also die sind alle in Form von Veranstaltungen erstellt..."

    Die Studentin klickt sich durch die verschiedenen Einladungen, die sie erhalten hat.

    "Volker Beck pusht die ganze Zeit Schlüsselprojekt 48 - Gleiche Rechte für gleiche Liebe. Bärbel Höhn hat ´ne Veranstaltung bei Facebook erstellt für die 100 Prozent Erneuerbare Energien, für dieses Schlüsselprojekt 1 - ich kann das ja einfach mal zeigen ..."

    Die junge Grünen-Politikerin ruft die von Volker Beck initiierte Facebook-Seite auf:

    "Ganz spannend ist es beim Projekt 48, die Facebook-Gruppe, die haben jeden Tag ein Argument für die gleich Ehe..."

    Und haben mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur steuerlichen Gleichstellung heute zusätzlichen Rückenwind bekommen.

    Bevormundet fühlen sich Laura Bothe und Marie Dazert durch die offensive Werbung der Bundes-Grünen für deren Projektfavoriten nicht:

    "Ich finde das auch wichtig, dass man Argumente von allen Seiten bekommt, im Endeffekt entscheidet man immer noch selber. Ich werde mich davon nicht beeinflussen lassen, aber ich werde natürlich auch mal lesen, was nimmt denn jetzt wer in welchem Flügel als Wichtigstes auf. "

    Am Abend werben die beiden auch beim Grünen-Frauentreff für den Mitgliederentscheid. Zehn Mitglieder und Interessierte sprechen in einem Straßencafé über Frauenthemen:

    "Es wäre ja schon interessant, wie viele Führungspositionen in Hamm von Frauen besetzt sind..."

    Und über die Herausforderungen des Mitgliederentscheids.

    "Es war sehr schwer, aber ich hab‘s gemacht. Und ich hab’s schon weggeschickt."

    Spätestens am Sonntagnachmittag übermitteln die Kreisverbände dann ihre Top 9 an die Bundesgeschäftsstelle in Berlin, dort wird schließlich ausgezählt und verkündet, mit welchen Schwerpunkten der Wahlkampf bestritten wird. Die grünen Frauen sammeln schon mal Prognosen zum Ranking:

    "Ich denke schon, dass Projekt 1 zur Energiewende gewählt wird. Ja, ich auch. Da bin ich gespannt, welche Prioritäten da wirklich kommen."