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9. November 1989
Mauerfall im DDR-Knast

Am 9. November wird Deutschland den 25. Jahrestag des Mauerfalls feiern. Andere Gefühle dürfte der Tag bei den ehemaligen politischen Gefangenen der DDR wecken. Sie wurden zum Teil Wochen später aus der Haft entlassen - und erfuhren erst dann von den politischen Umwälzungen.

Von Dirk-Oliver Heckmann | 27.10.2014
    Ehemaliger politischer Gefangener Gilbert Furian in Gefängniszelle der Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus
    Ehemaliger politischer Gefangener in Gefängniszelle der Gedenkstätte Zuchthaus Cottbus (picture alliance / dpa / Patrick Pleul)
    Anne Hahn geht selbstbewusst durch den langen, kahlen Flur. Am Boden: hellbrauner PVC-Boden. Rechts und links: gesicherte Metalltüren, eine neben der anderen. Alle paar Meter durchschneidet eine Gittertür den Gang des Zellentrakts, die laut krachend ins Schloss fällt. Anne Hahn ist schon öfter hier gewesen, seit ihrer Entlassung – aber auch sie entdeckt Dinge im ehemaligen Stasi-Knast, die sie bisher nicht kannte. Sie schaut in eine Zelle mit drei Holz-Pritschen.
    "Kenne ich noch gar nicht hier. Fürchterlich eng, wenn man da zu dritt drin ist. Hilfe!"
    Anne Hahn geht noch ein paar Meter weiter, und entdeckt den Ort, an dem sie die meiste Zeit ihrer dreimonatigen Haft in Hohenschönhausen verbringen musste:
    "Das war meine Zelle hier. Genau, da ist die Wand dazwischen."
    Eine graue Wand teilt den schäbigen Raum in zwei Teile – ein bisschen Intimsphäre in der Zwei-Mann-Zelle: Für Anne Hahn war das schon Luxus.
    Die ehemalige politische Gefangene Anne Hahn im Stasi-Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen
    Die ehemalige politische Gefangene Anne Hahn im Stasi-Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen (Dirk-Oliver Heckmann)
    Brauner Schreibtisch, brauner Sessel, graues Telefon
    Auch wenn es mit der Ruhe schnell vorbeisein konnte – wenn wieder mal die Schließer kamen und die Tür mit großem Getöse öffneten:
    "So, dann haben Sie richtig mit dem Fuß die Tür zugeschlossen. Das ratterte. Schlüssel rum. Das ist ein furchtbares Geräusch, wenn man in der Zelle drin sitzt. Und auf einmal unvermittelt kracht es an der eigenen Tür. Oder die Klappe kracht runter, das war schon sehr brutal als Geräusch. Dann wusste man, es passiert irgendetwas."
    Ein paar Schritte weiter: der Trakt mit den Verhörzimmern. Brauner Schreibtisch, brauner Sessel, graues Telefon mit Wählscheibe auf dem Tisch. Das grelle Licht der Neonröhre weckt ungute Erinnerungen.
    Flucht nach Aserbaidschan
    Die Umgebung scheint ihr dennoch keine Furcht einzuflößen. Anne Hahn erzählt sachlich und präzise. Wie sie als Jugendliche in Magdeburg der Staatsmacht auffällt, weil sie Punk-Konzerte organisiert. Wie sie vor die Alternative gestellt wird: entweder eine Strafe anzunehmen und ihre Punk-Freunde zu verlassen. Oder ihren Job und ihren bereits zugesagten Studienplatz an der Berliner Humboldt-Uni zu verlieren. Wie sie sich für Letzteres entscheidet. Und damit dafür, ihre Heimat zu verlassen.
    Ausreise-Antrag? Auf dem Amt wird sie ausgelacht. Heiratsantrag mit ihrem Freund, dem es bereits gelungen ist, nach West-Berlin auszureisen? Ebenso. Dann blieb nur die Flucht, mit dem besten Kumpel. Der Weg nach Prag oder Budapest war versperrt – beide waren zu bekannt in Magdeburg; auf dem Gleis hätte man sie bereits verhaftet. Deshalb die irrwitzige Idee: Eine Touristenreise nach Baku, Aserbaidschan, zur Flucht in die Türkei zu nutzen:
    "Wir sind erst 400 Kilometer an die Grenze gefahren, haben uns dort einen Tag lang versteckt und dann im Grenzort die Grenzanlagen überwunden. Wir waren in so einem Rausch, weiterzukommen, das war schon aller höchste Alarmstufe, die ganze Zeit."
    Die Flucht scheitert. Was folgt, sind Verhaftung, Verhöre, die Rückführung in die DDR, ins Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen. September 1989, nach der Verurteilung, die Verlegung nach Hohenleuben bei Plauen. Anders als in anderen Stasi-Knästen bekommt Anne Hahn von den politischen Umwälzungen einiges mit – wenn auch indirekt. Die Gefangenen stellen eine gesteigerte Unruhe bei den Vollzugsbeamtinnen fest – die sie "Wachteln" nennen. Und kleinste Auflösungserscheinungen:
    Die Wachteln werden weicher
    "Man hatte ja ein Redeverbot bei den Treffen mit den Angehörigen über die Haft. Das war schwierig, weil alles betrifft die Haft, wenn man im Gefängnis sitzt. Aber es lockerte sich allmählich das Dazwischentreten der Wachteln. Und wenn dann jemand von den Angehörigen über die Demonstrationen redete, dann wurde auf den Tisch gehauen. Und das hörte auf. Die wurden stiller und moderater, die ließen mehr zu. Da haben wir gemerkt, es verändert sich was."
    Hat sie denn auch den Fall der Mauer mitbekommen?
    "Ne, da sind wir schlafen gegangen."
    Wann hat sie dann davon erfahren?
    "Am nächsten Morgen. Ob das eine Kriminelle war oder die Wachteln... Alle wussten es plötzlich."
    Und, hat sie die Nachricht glauben können?
    "Klar, das war eine Nachricht, die konnte man sich nicht ausdenken."
    Sieben Tage nach dem Fall der Mauer wird Anne Hahn mitgeteilt: Sie wird entlassen. Ihre Eltern holen sie vom Gefängnis ab. Was für ein Gefühl das war?
    "Toll erst mal, großartig raus. Auch sehr verwirrend. Wieso auch meine Eltern. Ich hatte ja nicht vorgehabt, dass ich den Weg in den Westen mache, damit mich Papi am Ende abholt. Das war auch demütigend irgendwo. Ich war wütend, zornig. Weil ich dachte, jetzt sind alle weg, meine Freund."
    War es rückblickend ein Fehler, die Flucht versucht zu haben, kurz vor dem Mauerfall? Anne Hahns Antwort fällt eindeutig aus:
    Nein, man konnte ja nicht wissen, dass die Mauer fällt. Und die Erfahrung hat mir nicht so geschadet wie anderen, wie anderen, wo ich sehe, dass es prägende Lebenserfahrungen waren. Es war für mich nicht prägend. Es war folgerichtig, konsequent. Ich hab das durchgestanden. Ich hatte kein Kind draußen, ich war gerade nicht verliebt, ich war jung, war 23, hatte mein Abitur in der Tasche und konnte einfach loslegen, wozu ich Lust hatte. Das wäre in anderen Jahrzehnten, in anderen Härtegraden anders ausgegangen. Ich hatte einfach Glück."
    Anne Hahn, geboren 1966 in Magdeburg, studierte Kunstgeschichte und Germanistik an der Humboldt-Universität Berlin. 1989 wurde sie bei einem Fluchtversuch an der aserbaidschanisch/ iranischen Grenze verhaftet und war sechs Monate politische Gefangene in der DDR. Ihr 2005 veröffentlichter Roman über diese Flucht wurde unter dem Titel "Gegenüber von China" im Ventil Verlag neu aufgelegt. Anne Hahn lebt mit ihrer Familie in Berlin.