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Der Dichter und Theologe Christian Lehnert
"Die Silbe Gott leer halten"

Christian Lehnert ist Schriftsteller und evangelischer Theologe, geboren 1969 in Dresden. Für seine Lyrik ist er mehrfach ausgezeichnet worden. Er scheut sich nicht, auch große Fragen nach Gott, Liebe oder Tod anzusprechen. Seine Gedichte sind geprägt von christlicher und jüdischer Spiritualität. In den Kirchen beobachtet er Depressivität und spirituelle Dürre.

Von Burkhard Reinartz | 28.03.2016
    Der Lyriker und Pfarrer Christian Lehnert.
    Der Lyriker und Pfarrer Christian Lehnert. Im Sinne der negativen Theologie entzieht sich für ihn jede existentielle Erfahrung der sprachlichen Festlegung (dpa / picture alliance / Lukas Schulze)
    "Das Gleichmaß im allem: Licht, das geschichtete
    Licht im Glas. Harztropfen trocknen bei Tage aus.
    Ich werfe Steine ins Meer und sehe,
    wie sich Wellenringe immer weiter ausbreiten,
    bis ich sie vergesse.
    Ein Kind schwimmt in einem Bernstein.
    Ich trage ihn im Mund gegen den Tod.
    Ich bin dein Echo, du bist meine Stimme
    ich höre mich, wenn ich in dir verschwimme.
    Du bist der Raum, in dem ich widerhalle
    und endlos falle."
    Christian Lehnerts erster Gedichtband "Der gefesselte Sänger" erschien im Jahr 1997. Das Buch beginnt mit der programmatischen Zeile: "Überhaupt, das gesicherte Vokabular besagt nichts". Inzwischen hat der Dichter sechs Gedichtbände geschrieben – sowie den Essayband "Korinthische Brocken" und im Musikbereich unter anderem das Libretto für Hans Werner Henzes Oper Phaedra. Lehnert erhielt etliche Literaturpreise und gilt als eigenständige Stimme innerhalb der deutschen Lyrik. Vom Beginn seines literarischen Schaffens an distanzierte er sich von der postmodernen Haltung der ironischen Brechung jeder Aussage. Obwohl selbst ausgesprochen sprachskeptisch, traut er sich, auch die großen Fragen wie Gott, die Liebe oder den Tod zu thematisieren.
    "Viele Leute haben so eine Bewusstseinshaltung, in allem, was sie tun und denken, eine Hintertür zu öffnen, ein ironische Hintertür, über die man immer wieder noch hinaus kann. Und das geht bei bestimmtem Fragen nicht: Fragen, wo es ums Ganze der Existenz geht."
    Die Formen seiner Gedichte reichen von freien, fragilen Versen bis zum klassischen Sonnettenkranz. Die Themen spannen einen weiten Bogen von der Antike bis in die Gegenwart und sind geprägt von christlicher und jüdischer Spiritualität. Seine Gedichte stellen mehr Fragen, als dass sie vorschnell Antworten geben.
    "Das Licht trifft mich wie eine leise Strahlung.
    Welchem Leben ist es Nahrung?
    Jene auch, die in die Straßenbahn stiegen,
    sind es die gleichen, die sie verlassen?
    Eines ist, in die Ferne zu fallen mit klarem Blick,
    doch das fließende Grenzgebiet Wirklichkeit, wo ist's?"
    Dass die Gedichte Christian Lehnerts oft eine spirituelle Unterströmung haben, ist angesichts seiner Biographie alles andere als selbstverständlich. Er wird am 20. Mai 1969 in Dresden geboren. Die Eltern sind Ärzte. Der Junge wird zwar getauft, doch eine Kirche hat er bis zum vierzehnten Lebensjahr nicht betreten. Religion spielt in seiner Familie keine Rolle. Als Heranwachsender wächst in ihm "der Hunger nach einer wahrhaftigen Sprache, die nicht mit zweierlei Zungen redet".
    "Als ich so vierzehn, fünfzehn war, habe ich begonnen zu lesen und andere Musik zu hören und hatte dann plötzlich auch eine Berührung mit der Kirche. Das aber weniger aus einer spirituellen Erweckung, sondern stärker, weil die Kirche ein freier, offener Raum war, wo man sich ganz anders und in einer freien Weise artikulieren konnte. Ich bin zu einer Jungen Gemeinde gegangen und in dieser Jungen Gemeinde ging es auch um religiöse Fragen, aber vor allem über den Austausch über die Welt und das Leben; und das war für uns ganz essentiell, weil wir nirgendwo sonst ein Feld hatten, wo wir so sprechen konnten."
    Die Junge Gemeinde, so hießen die Jugendgruppen evangelischer Kirchengemeinden in der DDR, sie prägt ihn. Noch zu DDR-Zeiten verweigert Christian Lehnert den Wehrdienst und arbeitet als sogenannter Bausoldat auf Rügen und in den Leuna-Werken. In seiner Erinnerung eine Zeit permanenter Schikane. Er beginnt intensiv zu schreiben. Erste Gedichte entstehen. In Leipzig und Jerusalem studiert er Evangelische Theologie, Religionswissenschaft und Orientalistik. Nach Aufenthalten in Israel und im nordspanischen Santiago de Compostela, die ihn ebenfalls nachhaltig prägen, arbeitet Lehnert einige Jahre als evangelischer Pfarrer in einem kleinen Ort bei Dresden. Er wird Studienleiter an der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt in Wittenberg. Seit 2012 leitet er das Liturgiewissenschaftliche Institut an der Universität Leipzig, setzt gleichzeitig die Arbeit an seinem lyrischen Werk fort. Christian Lehnert ist ein weltoffener Zeitgenosse. Jede dogmatische Enge ist ihm fremd.
    "Man kann in unserer modernen Welt vollgültig in einer verantwortlichen Weise, ohne jemals die Frage nach Gott gestellt zu haben, leben. Es gibt gewissermaßen, eine Explosion, eine Vielfalt von möglichen geistigen Wegen, die ein Mensch heute gehen kann; und davon ist der christlich-religiöse, der traditionell christliche einer – und selbst unter Christen ergibt sich eine zunehmende Pluralität von Zugangsweisen."
    Christian Lehnert versteht sich als Christ. Doch seine Spiritualität, hat nichts mit begrifflich festgezurrten Glaubenssätzen zu tun. Im Sinne der negativen Theologie entzieht sich für ihn jede existentielle Erfahrung der sprachlichen Festlegung – und drängt gleichzeitig nach sprachlichem Ausdruck. "Worüber man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen", heißt es in Ludwig Wittgensteins "Tractatus logico-philosopicus". In seiner Laudatio zur Verleihung des Lessing-Förderpreises an Christian Lehnert fragte der Schriftsteller Hans Hartung, ob Lehnert nicht eher sagen würde: "Worüber man nicht sprechen kann, darüber soll man dichten – oder singen?"
    "Gedichte versuchen durch Bilder, Metaphern, Sprachklänge, ungewöhnliche Syntax in Gebiete vorzudringen, die sprachlich ungewohnt sind, Räume zu betreten, die ich noch nicht kenne. Ein Gedicht ist immer ein Raum, der sich nicht abschließen lässt, der auf etwas Offenes weist, ganz so wie der Glaube, der auf etwas hinweist, was meinen Horizont übersteigt. Für mich haben in der Religion Aussagen über Weltende, Apokalypse, Jüngstes Gericht wesentlich einen poetischen Horizont."
    "Es gibt eine Angst gegenüber Ausdrucks-oder Erfahrungswelten, die sich nicht sofort dem Zugang der Sprache erschließen. Das betrifft die Liebe, das betrifft den Tod, die Religion, das sind alles Felder - und auch die Poesie – in die ich mich hinein sprechen muss, suchend sprechen muss, wo ich gewissermaßen auf nichts zurückgreifen kann und meine eigenen Worte suchen muss, sprechend oder lesend."
    "Du hörtest Laute, die deine Sprache nicht kannte,
    die tonlos zurück sanken in die panische Dunkelheit,
    bevor du warst, Geräusch,
    das du nicht begrenzen konntest:
    Nacht eines Körpers, den es nicht gab,
    Nacht eines Gottes, der niemals war …
    aus strömender Leere gelesen
    "Dem Einsamen ist Gott ein Spiegel:
    Er sieht den Talgrund, wo Gebirg verströmt,
    erkennt den Wind, der für Sekunden dröhnt
    und treibt davon. Gebrochen ist das Siegel:
    Mit jedem Schritt geht meine Welt zu Ende
    fällt mir als Blatt durchlöchert in die Hände."
    "Noch stärkere Macht als in Kraut und Stein liegt in dem Wort", heißt es in Jakob Grimms "Deutscher Mythologie". Und weiter: "Bei allen Völkern gehen aus ihm Fluch oder Segen hervor. Es sind aber gebundne, feierlich gefasste Worte, wenn sie wirken sollen, erforderlich: Darum hängt alle Kraft der Rede, deren sich Priester, Arzt und Zauberer bedienen, mit den Formen der Poesie zusammen". Und der Barockdichter Martin Opitz schrieb Im Jahr 1642: "Die Poeterey ist anfanges nichts anders gewesen als eine verborgene Theologie und Unterricht von göttlichen Sachen".
    Gedichte und Gebete haben gemeinsame Wurzeln. In einem Artikel hat Christian Lehnert diesen Zusammenhang so erläutert:
    "Das Gedicht hat auf der einen Seite von sich aus immer ein religiöses Grundgeräusch, ein Urgeräusch, so ein Grundschwingen. Das hängt mit seiner Herkunft zusammen aus dem kultischen Gesang und dem kultischen Tanz. Und gleichzeitig geht das Gedicht völlig eigene Wege und hat für mich als Dichter mit Religion erst einmal nur sekundär zu tun.
    Poesie und Gebet verbindet eine Form des suchenden Sprechens. Ich habe sowohl in der Poesie als auch im Gebet für das, was ich sagen will, noch keine Worte. Im Gebet nähere ich mich dem Unsagbaren Gottes; und in der Poesie setzte ich mich als Dichter ja nicht hin und schreibe, weil ich irgendetwas anderes, was ich sagen will, kunstvoll in Worte bringen will, sondern weil ich im Schreiben in Bereiche vordringe, die ich vorher noch nicht sagen konnte."
    "Das Gebet richtet sich an das Göttliche. Das Gedicht an einen unbekannten Leser."
    "Das Gebet ist auf ein Gegenüber gerichtet. Es ist in einer konkreten Beziehung verwurzelt. Es ähnelt darin gewissermaßen dem Gespräch zwischen Liebenden, während die Poesie sich ganz offen hinein spricht in alle Phänomene des Wirklichen."
    "Beschwichtigt schauen wir auf Kies und Land.
    Verlässlich wirkt die Aussicht. Doch die Schatten
    misstrauen uns, wie sie auf uns verweisen.
    Was gilt es denn im Nahen zu beweisen?
    Dass wir noch einen Grund zum Beten hatten,
    weil sich kein Grund für unser Schweigen fand?"
    Über Jahrzehnte war das Sprechen über Gott in der Gegenwartsliteratur verpönt. Die moderne Dichtung sei für Gottes-Diskurse nicht mehr zuständig, quasi aus der Kirche ausgetreten. Christian Lehnert widerspricht ausdrücklich der Position Gottfried Benns, der Gott als "schlechtes Stilprinzip" bezeichnete. Der diskrete Metaphysiker Lehnert zeigt in seinen stilsicheren Gedichten das Gegenteil – und stellt sich in den folgenden Zeilen bewusst in die Tradition eines Angelus Silesius.
    "Der Gott, den es nicht gibt, in mir ein dunkler Riss,
    Ist meiner Seele nah, so oft ich ihn vermiss."
    "Die Fragen nach dem an- und abwesenden Gott ist für heutige spirituelle Menschen eine zentrale Frage geworden, weil wir spüren – stärker vielleicht als frühere Jahrhunderte - wie stark unsere Ausdrucksformen in der Religion ideologisch und geschichtlich überformt sind, wie sie an Grenzen gekommen sind durch Missbrauch über Jahrhunderte. Wir sind heute in einer Situation, wo wir ganz neu buchstabieren müssen: Was ist das eigentlich, Gott? Und wir erleben Gott eben zunächst als etwas, das nicht da ist, wo etwas fehlt, wo man quasi hinübergehen muss aus dem, was man schon kennt und begriffen hat."
    "Zwischen dem Glas der Karaffe auf dem Tisch
    und dem Wein darin
    gibt es eine Grenze,
    die sowohl aus Glas als auch aus Wein besteht.
    Zwischen Juden und Nichtjuden braucht es eine Grenze,
    damit sich beide berühren.
    Zwischen dem Christus und mir,
    eine Grenze, die genauso zwischen mir und mir verläuft.
    Gott, wie es gesagt ist,
    kann nicht Gott sein, wenn nicht die Grenze ist,
    die Gott setzt, um zu trennen.
    Zwischen Hoffnung
    und Tod, diese Grenze,
    die wie die Haut eines Kindes ist,
    so weich, so weich, so sterblich."
    "Es gibt den schönen Satz von Pascal: 'Tröste dich, du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht gefunden hättest'."
    "Der Gottesbegriff ist nun in einer besonderen Weise kontaminiert. Es ist in der Tat so, dass dieses Wort schal geworden ist. Dass man es quasi nur als Gefäß verwenden kann, das gewissermaßen leer geworden ist, leer im Sinne von offen, dass etwas hinein strömen kann. Dass man immer von einem lieben und guten Gott spricht, dahinter verbirgt sich in meinen Augen Ängstlichkeit. De facto ist es ja so, dass der christliche Glaube nicht immer Lebensfragen beantwortet. Im Gegenteil: Er wirft sie in verschärfter Form auf."
    "Religion ist ja nichts, was uns das Leben erleichtert oder Menschen per se glücklich macht. Sie ist keine psychologische Technik, um sich wohler zu fühlen. Sie wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Die Depressivität, die Kirchen heute durchzieht, ist Ausdruck einer spirituellen Dürre und einer krisenhaften Zeit."
    Lehnert sieht seine religiöse Verortung in der Tradition der Mystik, die er als "Glutkern" aller Religionen bezeichnet.
    "Das war für die Mystiker ja eine Grunderkenntnis, dass Gott immer zugleich entzogen wie gegeben ist. Was mir sehr wichtig ist: wie in der Mystik die religiöse Erfahrung ernst genommen wird. Es gibt Erfahrungsbereiche, für die wir neuzeitlichen Menschen relativ unempfindlich geworden sind. Nichts desto weniger gibt es sie. Und es gehört zur religiösen Übung, seine Sinne zu schärfen, seine Antennen aufzurichten, um zu lauschen und zu hören, was mir entgegen kommt."
    "Ich habe gelernt wie ein Blinder zu sehen, im Dunkel
    zu lauschen, wann die trockenen Samen rascheln,
    der Oststurm Gesträuch über die Dünen trägt.
    Immer bin ich an dem Punkt, wo gerade die Atmung einsetzt.
    Wie viel Verlassenheit das ist: der Atem, schwebender Stein,
    wie einer von den Haufen, den ich aufrichtete,
    um dem Nachtwind den Namen Gott zu geben, ihn zu wiederholen,
    zu wiederholen, bis ich endlich leer bin, alles zu erwarten vermag."
    Scharfe Kritik übt Christian Lehnert an der Praxis der Kirchen: Sie wirkten immer mehr wie eine Organisation neben anderen – etwa wie Parteien oder Gewerkschaften. Eine Kirche, die hofft, sich mit Methoden des Qualitätsmanagements zu verbessern und ihre Gottesdienste mittels Eventkultur aufzuwerten, verfehle das Mysterium des Religiösen. Ein Gottesdienst sei keine Talkshow.
    "Ich denke an den alten paulinischen Begriff der Kirche als Strömung und Bewegung. Denn was geschieht denn? Es entwickeln sich weite religiöse Bewegungen in so einem Randbereich von Kirche. Man kann ja heute ganz schwer bestimmen, wer Christ ist und wer nicht, wenn man mal von der banalen Kirchenmitgliedschaft absieht."
    "Es geht darum wahrzunehmen, dass es auf eine unsichtbare Kirche ankommt. Dass Kirche eher ein von Gott gestifteter Strömungsprozess ist, der immer ins Offene führt und sich doch nach außen in Form von Liebe zeigt. Eine Strömung mit unabsehbaren Folgen. Nichts ist beunruhigender!"
    Von den ersten Gedichten Lehnerts bis zu den 2015 erschienenen "Windzügen" durchzieht das Thema Natur sein Werk – mal ungezähmt wie an den Küsten der bretonischen Finistère, dann domestiziert wie in den Nischen des Urbanen. In dem Band "Ich werde sehen, hören und schweigen" untersucht er im Zyklus "Gedichte aus einem Garten" die "rote Trauer" einer Tomatenpflanze, den "verholzten Schatten" des Salbeis oder "die Wunde am Stamm" des kranken Pfirsichbaums.
    "Meine Naturgedichte sind eben auch eine Verteidigungsrede. Ich verteidige gewissermaßen den einzelnen Moment, den bestimmten Baum etwa, hole ihn bewusst in die Sprache, lasse ihn noch einmal anders wirklich werden."
    "Es gibt bei mir ein tiefes Urvertrauen, sowohl was die Natur betrifft als auch das Ganze der Wirklichkeit. Das äußert sich erst mal in einer grundsätzlichen Bejahung dessen, was ist. Das ist eine poetische Haltung, die mich gelegentlich auch einsam werden lässt, weil die poetischen Entwicklungen heute ja auf die Analyse, die Selbstreflexion aus sind und ich gelegentlich so einen ganz einfachen Zug habe, dass ich mich angesprochen weiß, von dem, was mir begegnet."
    "Es gibt so vieles, worauf ich mich blind verlassen muss:
    dass die Erde auftaut im April
    dass die schweren Wurzeln
    des Nussbaums nicht auf meine Seele übergreifen
    dass Gedächtnis und Begehren nicht von innen
    den Körper aufbohren,
    dass Stein und Treppe und Haut
    etwas bedeuten, das unterschieden ist vom Traum.
    Dass eine bestimmte Wärme im Frühjahr
    Keime aus dem feuchten Boden dringen läßt, und die Wege
    weit ins Land reichen und wieder
    zurückführen ins allbelebte Erinnern im Frühling."
    "Ich kann verstehen, dass man in meinen Gedichten religiöse Untertöne sucht. Und es gibt ja auch die religiösen Untertöne. Nur ist mein lyrisches Schaffen durch den Begriff des Religiösen nur unzureichend erfasst. Es gibt unzählige Gedichte, die ganz andere Dinge betreffen."
    Wie zum Beispiel das Gedicht von der in der Luft stehenden Libelle aus den "Windzügen":
    "Sie ist mir eingegeben die Libelle,
    ein stilles Komma in der Luft, sie steht
    als ihr das Graslicht in die Augen weht,
    noch immer zögert sie an einer Stelle.
    Weil die Bewegungen nicht ihre waren?
    Weil nichts erklärt, wie etwas folgen soll?
    Weil das, was kommt, nicht uns gehört, und
    voll die Flügel stehen, voll von Unsichtbarem?
    Und wie sie zittert, ist sie ganz für sich -
    ein unwägbares zitterndes Gestein.
    Ein blaues Licht schließt sie von innen ein.
    Ich sehe ihren Glanz – er schaut doch mich.
    Wie aufgereihte Perlen, ihre Glieder,
    in ihrem Schimmer kehrt der Sommer wieder."
    Gegen das, was Octavio Paz die "Entsakralisierung der Seelen und Körper" nannte, setzt Christian Lehnert sein mutiges Projekt, Zweifel und Nicht-Wissen mit Gottesgewissheit und Urvertrauen zu versöhnen. Bewegende Dichtung, die in Zeiten umfassender Krise ein Zeichen in der deutschsprachigen Literaturlandschaft setzt. Und darüber hinaus.
    "Der Tag ist eine Gnade.
    Dein Gang und deine Frage,
    Narkotikum und Fall.
    Ein langer Widerhall.
    Der Gott hat eine schnelle Hand,
    ist stets vergangen und verschwand
    und steht vor dir so nah:
    Er wendet sich, dass du stets heimwärts gehst.
    Das Licht, wohin du dich bewegst
    ist ausgeruht und klar."
    "Langsam spreche ich mich aus der Welt heraus"
    Bücher von Christian Lehnert
    Der gefesselte Sänger (1997)
    Der Augen Aufgang (2000)
    Ich werde sehen, schweigen und hören (2004)
    Auf Moränen (2008)
    Aufkommender Atem (2011)
    Korinthische Brocken – ein Essay über Paulus (2013)
    Windzüge (2015)