Donnerstag, 25. April 2024

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Abbas kündigt Oslo-Abkommen auf
"Er ist mit seinem Latein am Ende"

Die Aufkündigung des Oslo-Abkommens durch Palästinenserpräsident Mahmud Abbas war eine Verzweiflungstat, meint Bettina Marx von der Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah. Er wisse nicht, wie er sonst zu einem Ergebnis mit den Israelis kommen solle, sagte sie im DLF. Sie glaubt allerdings nicht, dass er zurücktreten und die Autonomiebehörde auflösen werde.

Bettina Marx im Gespräch mit Jasper Barenberg | 01.10.2015
    Palästinenserpräsident Mahmud Abbas spricht vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen.
    Bettina Marx: "Abbas hat die Zustimmung in der palästinensischen Bevölkerung schon lange weitgehend verloren, er hat keine demokratische Legitimation mehr." (AFP/Don Emmert)
    Jasper Barenberg: Draußen vor dem Hauptquartier der Vereinten Nationen am Hudson River in New York weht sie jetzt, die Flagge Palästinas. Mahmud Abbas hat sie dort eigenhändig gehisst. Vorher allerdings hatte er in der Generalversammlung angekündigt, dass sich die Autonomiebehörde nicht mehr länger an die Friedensabkommen von 1993 gebunden sieht, weil Israel die Absprachen von Oslo missachte. - Am Telefon ist jetzt Bettina Marx. Sie leitet das Büro der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah im Westjordanland. Heute erreichen wir sie allerdings in Berlin. Schönen guten Tag, Frau Marx.
    Bettina Marx: Ja, guten Tag.
    Barenberg: Frau Marx, wir haben heute Morgen hier im Deutschlandfunk mit Avi Primor gesprochen, dem früheren Botschafter Israels in Deutschland. Lassen Sie uns zu Beginn gemeinsam hören, wie er die Worte von Abbas eingeschätzt hat.
    Avi Primor: "Ich halte das für Verzweiflung. Es geht ihm schlecht. Erstens geht es den Palästinensern schlecht, es geht dem Friedensprozess schlecht und es geht ihm persönlich schlecht. Der Mann sieht nicht, wie er aus der Klemme rauskommen kann. Er verliert seine Beliebtheit in seiner Bevölkerung, weil er keine Ergebnisse hat, und mit der heutigen Regierung in Israel kann er auch nicht mehr zurechtkommen."
    Barenberg: Hat Avi Primor recht? Ist das eine reine Verzweiflungstat?
    Marx: Ja. Ich glaube, er hat schon sehr, sehr weitgehend recht. Es ist wirklich eine Verzweiflungstat. Eigentlich hatte man sich ja sogar noch ein bisschen mehr erwartet in den palästinensischen Kreisen. In Ramallah war die ganze Zeit davon die Rede, dass Abbas eine Bombe platzen lassen würde. Er würde nicht nur verkünden, dass er sich nicht mehr an den Friedensprozess gebunden fühlt, sondern er würde auch die Autonomiebehörde auflösen und selbst zurücktreten. Das waren die Gerüchte, die in Ramallah die ganze Zeit umgegangen waren. Das hat Abbas nun offensichtlich nicht gemacht, sondern er hat nur einen sehr kleinen Schritt gemacht und hat gesagt, er fühlt sich nicht mehr an diesen Friedensprozess gebunden. Ich glaube, dass Avi Primor da vollkommen recht hat. Er hat dies getan, weil er einfach nicht mehr weiter weiß. Er ist komplett am Ende mit seinem Latein. Er hat die Zustimmung in der palästinensischen Bevölkerung schon lange weitgehend verloren, er hat keine demokratische Legitimation mehr und er weiß einfach nicht, wie er hier irgendwie zu einem positiven Ergebnis mit den Israelis kommen soll.
    "Palästinensische Führung wird Verantwortung nicht einfach abschütteln"
    Barenberg: Dieser Unterschied ist ja wohl sehr wichtig, dass er nicht, wie Sie gesagt haben, die Bombe hat platzen lassen, sondern gesagt hat, ich fühle mich nicht mehr gebunden an Oslo. Aber er hat das Abkommen nicht aufgekündigt. Heißt das auch, dass die nächsten Schritte, mit denen man im Westjordanland möglicherweise ja auch gerechnet hat, nicht folgen werden, dass die Autonomiebehörde aufgelöst wird beispielsweise?
    Marx: Ich glaube, dass dieser Schritt nicht folgen wird. Das ist eine Erwartung, die viele Palästinenser haben. Das ist eine Forderung, die viele Palästinenser haben an ihre Führung, dass sie sagen, ihr könnt mit dieser Autonomiebehörde überhaupt nichts erreichen, ihr habt keine Möglichkeit, eine selbstständige Politik zu betreiben, das einzige wofür ihr zuständig seid, das sind die Dinge, die Geld kosten, das ist zum Beispiel das Erziehungswesen, das ist das palästinensische Gesundheitswesen. All dies sollt ihr regeln, darum sollt ihr euch kümmern. Die Dinge, die wirklich wichtig sind, zum Beispiel die innere und die äußere Sicherheit, dafür seid ihr nicht zuständig. Darum haben viele Palästinenser, die kritisch sind der Autonomiebehörde gegenüber, erwartet, dass Abbas diese Autonomiebehörde auflöst, aber das wird er nicht tun. Denn die große Frage ist ja auch für die palästinensische Führung: Wie würde es denn weitergehen? Was soll denn passieren? Es ist eine sehr, sehr große Verantwortung für die palästinensische Führung und diese Verantwortung wird sie nicht so einfach abschütteln, auch weil sie es nicht kann. Die Gefahr, dass ein Vakuum entsteht und dann niemand da ist, der dieses Vakuum füllen kann, die ist viel zu groß. Die Lage in den palästinensischen Gebieten ist ausgesprochen explosiv. Wenn Abbas jetzt sagen würde, ich schmeiß den Bettel hin, ich mach nicht mehr mit, ich löse die Behörde auf, mit den dazugehörenden Sicherheitskräften, mit der Kooperation mit den israelischen Sicherheitsbehörden, dann wäre die Gefahr wirklich groß, dass ein neuer Aufstand ausbrechen würde, der dann nicht mehr beherrschbar wäre.
    "Er hat das Thema wieder auf die Tagesordnung gebracht"
    Barenberg: Muss man unterm Strich sagen, dass Palästinenser-Präsident Abbas so geschwächt ist in seiner Position, dass er nicht einmal in der Lage ist, Oslo tatsächlich aufzukündigen?
    Marx: Man kann es sagen, dass er so geschwächt ist. Man kann aber auch sagen, dass er sehr vorsichtig lavieren muss. Er versucht jetzt einen Mittelweg, indem er so eine halbe Sache macht, vielleicht doch damit wieder ein bisschen Zustimmung in seiner eigenen Bevölkerung bekommt. Und vor allen Dingen, was ganz wichtig ist, und ich glaube, das ist ihm gestern gelungen: Er hat das Thema, die Situation in den palästinensischen Gebieten, die Lage der Palästinenser, wieder auf die Tagesordnung gebracht. Die war ja sehr in den Hintergrund gerückt, auch vor dem Hintergrund der Flüchtlingsströme und anderer Themen, die sehr im Vordergrund stehen, generell des Umbruchs in der arabischen Welt. Da spielte die palästinensische Frage keine große Rolle mehr. Er hat das wieder in den Vordergrund gespielt. Das immerhin ist ihm gelungen und das muss man ihm auch zugutehalten, dass er das gestern geschafft hat.
    Barenberg: Bettina Marx, sie leitet das Büro der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung in Ramallah. Danke für das Gespräch heute Mittag.
    Marx: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.