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Abel Gance
Zwischen Heroisierung und Anklage

Vor 125 Jahren wurde der französische Filmpionier Abel Gance geboren. Er drehte den ersten Antikriegsfilm der Geschichte, später allerdings auch ein verklärendes Epos über Napoleon. Schon damals sah er im Film "das größte Medium des menschlichen Geistes".

Von Katja Nicodemus | 25.10.2014
    Der französische Regisseur Abel Gance (r) während der Dreharbeiten zu seinem Film "Napoleon" im Jahr 1926.
    Der französische Regisseur Abel Gance (r) während der Dreharbeiten zu seinem Film "Napoleon" im Jahr 1926. (picture alliance / dpa)
    Es war ein größenwahnsinniges Projekt. 19.000 Statisten, 19 Millionen Francs Produktionskosten, 450.000 Meter Film – "Napoleon" von Abel Gance, das war 1927 die größte Materialschlacht, die das französische Kino bisher gesehen hatte. Der Aufwand entsprach dem Inhalt: Erzählt wird die Biografie von Napoleon Bonaparte als Genese eines Übermenschen. Und schon in der Eröffnungssequenz, einer Schneeballschlacht in der Kadettenanstalt, ist alles enthalten.
    Eine zahlenmäßig unterlegene Gruppe von Jungen stürmt den Hügel der Gegner. Angeführt wird sie von einem kleinen zarten Knaben: Napoleon. Während der Attacke verschmilzt sein Gesicht durch schnelle Schnitte mit den Bewegungen der Kameraden. Einer für alle! Der Wille wird siegen!
    Abel Gance, am 25. Oktober 1889 in Paris geboren, konstruiert die Epochenfigur Napoleon durch eine einmalige Ballung von Filmtechnik und formalen Einfällen. Etwa die Verbindung von drei Bildern zu einer Vorform des Breitwandformats Cinemascope. Auf der Leinwand arbeitet Gance mit Doppelbelichtungen, geteilten Bildern, Vor- und Rückblenden, Parallelfahrten, dem schnellen Wechsel von Totalen und Nahaufnahmen. Aber auch mit seiner Geschichte, so Gance später, sei sein Film Lichtjahre entfernt gewesen von der Unterhaltungsware jener Zeit.
    Gance: "Die meisten Menschen betrachteten das Kino damals als reines Mittel der Zerstreuung. Man konnte sich einfach noch nicht vorstellen, dass es eines Tages so wie die Literatur zum größten Medium des menschlichen Geistes werden würde. Die Drehbücher wurden sehr schnell geschrieben, man drehte die Filme in acht bis zehn Tagen. Aber ansonsten bestand das Kino nur aus Aktion. Die Produzenten forderten von uns damals keine Filme, die tiefere Gedanken und tiefere Gefühle ansprachen."
    Fehlende Mittel, fehlende Kritik
    Der fünfeinhalbstündige "Napoleon"-Film endet mit den ersten militärischen Heldentaten des jungen Generals. Ursprünglich war er als Projekt von mehreren Dutzend Stunden konzipiert. Das gesamte Leben des Kaisers sollte erzählt werden, von der Militärakademie bis zum Tod im Jahre 1821 auf Sankt Helena. Doch für diese Dimension fehlten Gance die finanziellen Mittel. Man fragt sich, was ein dreißig- bis vierzig-stündiger Film über Napoleon geworden wäre: die totale Heroisierung? Ein Nationalepos, das an sich selbst erstickt? Oder wären allein durch die Länge psychologische Risse in der Heldenfigur entstanden?
    Tatsächlich gab es Zeitgenossen, die Gance seinen vollkommen unkritischen Blick auf Napoleon vorwarfen. Zehn Jahre zuvor wäre diese Verherrlichung womöglich sogar Abel Gance selbst anstößig erschienen. Damals wurde er während des Ersten Weltkrieges als Soldat aus der Armee entlassen, von Senfgas vergiftet. Im Gedanken an seine Freunde, die auf den Schlachtfeldern zurückblieben ging er durch Paris.
    Gance: "Es war die Zeit, in der die meisten meiner Freunde, Klassenkameraden, Altersgenossen starben. Damals schoss mir ein Gedanke durch den Kopf, als ich die Avenue de Neuilly entlang ging: Meine Existenz auf dieser Welt hat überhaupt keinen Sinn, wenn ich nicht versuche, gegen dieses Sterben anzukämpfen, indem ich einen Film darüber mache."
    "Tote auf Bewährung"
    Abel Gance dreht "J' accuse". Dafür kehrt er 1917 noch einmal in den Krieg zurück. Er lässt die französischen Soldaten Filmsoldaten spielen: eine Armee der Toten, der Phantome.
    Gance: "Diese Männer waren Tote auf Bewährung. Und sie wussten es. Am Vorabend von Verdun wussten sie, dass zwei Drittel von ihnen sterben würden. Sie stellten den Krieg in den Uniformen nach, in denen sie schon monatelang gekämpft hatten. Sie sollten sich auf den Boden legen als Tote und dann nach Hause zurückkehren, um zu schauen, ob ihr Tod zu etwas gedient hat. Es war ein in zweifacher Hinsicht unvergessliches Schauspiel. Weil es Tote auf Bewährung waren, die das Geisterbild ihres eigenen Todes spielten, so wie es normale Statisten nie gekonnt hätten."
    Die verdreckten, bleichen Soldaten in "J'accuse", einem der ersten Antikriegsfilme der Filmgeschichte, wirken auf makabre Weise wahrhaftiger als die Armeen in Abel Gance' Napoleon-Film. "J'accuse" zeigt das Gemetzel. Er zeigt Phantome des Krieges, die in eine Gesellschaft zurückkehren, die sie schon vergessen hat. "Napoleon" zeigt einen hypnotischen Feldherrn, der seine Truppen mit einem einzigen Blick zu geordneten Heeren macht. Abel Gance drehte mit "Napoleon" den ersten kriegerischen Monumentalfilm der Filmgeschichte. Aber damit hat er seinen Antikriegsfilm "J'accuse" verraten.