Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Aberdeen und das Öl (3/5)
Neue Jobs dank der Krise

Der Ölpreisverfall hat die schottische Stadt Aberdeen hart getroffen. Zehntausende Arbeiter, Berater und Ingenieure aus der Ölindustrie haben seit 2014 ihre Jobs verloren. Aber manche sehen die Krise auch als Chance, nutzen die sinkenden Mieten und machen sich selbstständig.

Von Erik Albrecht | 26.09.2018
    Mechelle Clark am Eingang zu ihrem Imbiss "Melt" in der schottischen Stadt Aberdeen
    In ihrem Imbiss "Melt" verkauft Mechelle Clark vom Schinken-Käse-Toast bis zum Chili-Toast alles, worauf geschmolzener Käse passt (Deutschlandradio/ Erik Albrecht)
    Elegant strahlt der Granit in der Sonne an den Fassaden der Crown Street . Durch das geöffnete Fenster dringen die Schreie der Möwen in die Büros der Transportgewerkschaft RMT. Jake Molloy hat selbst Offshore gearbeitet, bevor er Organizer für die Gewerkschaft wurde, Ansprechpartner für rund 5.000 Ölarbeiter vor der Küste von Aberdeen. In seinem langen Arbeitsleben hat er schon viele Rezessionen erlebt. Doch keine wie 2014:
    "Hunderte, Tausende Arbeiter und Ingenieure wurden entlassen. Bohrprojekte wurden quasi über Nacht gestoppt. Das zog sich dann durch die Zuliefererketten. Hubschrauber, Versorgungsschiffe und Bohrschiffe. In der gesamten Zuliefererbranche wurden Jobs schlicht ausradiert."
    Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Aberdeen in Schottland - Das Ende vom Öl" in der Sendung "Gesichter Europas".
    Bis zu 50 Prozent des Gehalts gekürzt
    160.000 Jobs sind nach Angaben des Branchenverbandes UK Oil & Gas in der Krise verloren gegangen. Als Gewerkschafter konnte Molloy nur zusehen, wie immer mehr Projekte einfach stillgelegt wurden. Wer Glück hatte und seinen Job behalten konnte, arbeitet seitdem für deutlich weniger Geld:
    "Es wurden mindestens 15 Prozent des Gehalts gestrichen. Manche haben bis zu 50 Prozent verloren. Viele Tausende musste von einem Zwei-Wochen-auf See-drei-Wochen-zu-Hause-Rhythmus zu einem Drei-Wochen-drei-Wochen-Rhythmus wechseln. Ohne mehr Urlaub oder Freizeit."
    Gewerkschafter Jake Molloy im Hafen von Aberdeen
    Gewerkschafter Jake Molloy im Hafen von Aberdeen: "In der gesamten Zuliefererbranche wurden Jobs schlicht ausradiert", berichtet er vom Krisenjahr 2014 (Deutschlandradio/ Erik Albrecht)
    "Wenn es keinen Job gibt, muss ich mir einen schaffen"
    Und wer konnte, verließ die Branche. Und baute sich etwas Neues auf.
    "Dieser ist mit Chili und Käse. Dieser ist mit Haggis und Speck. Und der hier wird wohl auch Haggis drin haben."
    Mit viel Schwung wendet Mechelle Clark zwei große Weißbrotscheiben auf dem Grill. Dazwischen zerläuft geriebener Käse zu einer goldgelben Masse. Zehn Jahre lang warb die Mittdreißigerin neue Arbeiter für die Öl- und Gasindustrie an. Bis 2014.
    "In der Personalabteilung muss man als Erste gehen. So habe ich meinen Job verloren, aber sechs Monate später einen neuen gefunden. Doch dann wurde ich wieder gefeuert."
    Zum Schluss wurde Mechelle fast wöchentlich zu Bewerbungsgesprächen eingeladen. Doch letzten Endes fehlte den Firmen stets das Geld.
    "Irgendwann habe ich dann entschieden, dass es reicht. Wenn es keinen Job für mich gibt, muss ich mir eben einen schaffen."
    Während des Ölbooms waren die Mieten zu hoch
    Und so eröffnete Mechelle "Melt", einen hippen Imbiss im Retro-Stil mit psychedelischen 70er-Jahre-Tapeten, der vom Schinken-Käse-Toast bis zum Chili-Toast alles verkauft, worauf geschmolzener Käse passt. Bald soll ein richtiges Restaurant mit Feinkostladen folgen. 20 Mitarbeiter will Mechelle neu einstellen. Eine Erfolgsgeschichte für Aberdeen.
    Viele sagen, der Ölpreisverfall habe die Stadt auch ein Stück lebenswerter gemacht. Denn zu Boomzeiten wären die Mieten schlicht zu hoch gewesen, um einen Laden wie "Melt" zu eröffnen.
    Wie viele in Aberdeen, hat Mechelle die Entwicklung des Ölpreises im Blick. Und der steigt. Doch auch wenn sie derzeit kaum mehr als 10.000 Euro im Jahr verdient, will Mechelle nicht zurück in die Branche – und ihre Freunde auch nicht:
    "Viele halten das Risiko einfach für zu hoch. Bei vielen war auch noch der Partner in der Ölindustrie. Wenn es beide traf, war es besonders bitter. Ich denke, wer kann, hat die Branche verlassen."
    Man kommt leichter an Kapital
    In Vierergruppen zieht das Fließband die Aluminium-Dosen in die Abfüllanlage hinein. Auf der anderen Seite verschließt eine Maschine die Bierdosen, dann bekommen sie ein Etikett: "Fierce Beer", Geschmacksrichtung Rasberry Sour: Himbeer-Sauerbier.
    Dave McHardy und sein Geschäftspartner Dave Grant haben die kleine Craftbier-Brauerei vor zweieinhalb Jahren gegründet. McHardy hatte damals gerade seinen Job als IT-Spezialist in einer Ölfirma verloren. Und auch Grant hatte die Branche kurz zuvor verlassen.
    "Nach ein paar Bier und nach einigen gemeinsamen Brauversuchen haben wir dann beschlossen, es zu versuchen und Fierce zu einem richtigen Unternehmen auszubauen."
    Heute brauen knapp 20 Mitarbeiter eine halbe Million Liter Bier pro Jahr – Tendenz steigend. Im Januar zog Fierce Beer in eine Lagerhalle am Flughafen von Aberdeen. Die meisten Firmen in dem Gewerbegebiet arbeiten noch immer für die Öl- und Gasindustrie. Doch seit der Krise sei es für junge Unternehmen deutlich einfacher geworden, sagt McHardy. Nicht nur die Mieten seien niedriger. Man komme auch leichter an Kapital.
    "Die Investoren schauen jetzt auch jenseits der traditionellen Branchen. Früher wäre das etwas schwieriger gewesen."
    Zurück auf die Bohrinseln will keiner mehr
    Gewerkschafter Jake Molloy hat sein Büro verlassen und ist an einen Aussichtspunkt gefahren, hier mündet der Fluss Dee in die Nordsee. Fast friedlich liegt der Hafen von Aberdeen in der Sonne. Lagerhallen und Silos mit Schlamm für die Ölbohrungen versperren den Blick auf die Stadt. Von hier aus starten die Schiffe zu den Ölplattformen. Doch heute sind die meisten Quais verwaist - anders als vor dem Niedergang des Ölpreises:
    "Man konnte sich kaum bewegen. Der Hafen war brechend voll."
    Als Gewerkschaftler weiß Jake Molloy, dass längst nicht jeder so leicht einen neuen Job an Land gefunden hat, wie die Gründer von "Fierce Beer" oder "Melt". Doch zurück auf die Bohrinseln wolle keiner mehr, sagt Molloy. Auch wenn der Ölpreis derzeit wieder steigt.
    "Leute, die früher Tauchboote ferngesteuert haben, fahren heute Busse auf den Straßen von Aberdeen. Und sie sind glücklich dabei. Sie verdienen nur noch halb so viel, aber sie schlafen jede Nacht in ihrem eigenen Bett. Daran kann man sich sehr schnell gewöhnen."