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Abgefackelt
Sollen sie doch Händchen halten

Die Marathon-Zwillinge Anna und Lisa Hahner sind in Rio als 81. und 82. ins Ziel gekommen – Händchen haltend und strahlend. Angesichts des mäßigen Ergebnisses wurden sie dafür stark kritisiert. Zu Unrecht.

Von Victoria Reith | 15.08.2016
    Die deutschen Zwillinge Lisa und Anna Hahner kommen beim olympischen Marathon in Rio de Janeiro Händchen haltend ins Ziel.
    Pose wichtiger als Platzierung? Dann hätten es die Hahner-Twins wohl gar nicht erst nach Rio geschafft. (imago sportfotodienst)
    Hand in Hand, ein Lächeln im Gesicht, abgekämpft, so kamen Anna und Lisa Hahner gestern beim olympischen Marathon ins Ziel. 2:45:32 die Zeit, fast 20 Minuten entfernt von den persönlichen Bestleistungen. Und trotzdem eine Aufnahme für die Jahrbücher, wie die beiden – geboren am gleichen Tag im November 89, gleichzeitig durchs Ziel kamen. Sind den Hahners schöne Bilder etwa wichtiger als ihre Leistung?
    Die erfolgreiche deutsche Langstreckenläuferin Sabrina Mockenhaupt übte nach dem Auftritt der Zwillinge öffentlich Kritik: "Ich wünschte mir endlich mal die Ehrlichkeit, dass sie zugeben, dass es mal nicht so gelaufen ist", schrieb die 35-Jährige bei Facebook: "Warum muss man mit aller Gewalt verkaufen wollen, dass man immer lacht und alles immer super ist? Ich bin traurig, dass Anja Scherl bei dieser Inszenierung völlig untergegangen ist."
    Nachvollziehbar, dass man sich wundert
    Scherl war acht Minuten früher als die Hahners auf Platz 44 ins Ziel gekommen – und hatte tatsächlich weniger Aufmerksamkeit abbekommen. Stattdessen richteten sich die Kameras auf die trotz enttäuschender Platzierung strahlenden Zwillinge. Nachvollziehbar, dass sich da manch einer wundert.
    "Es wirkt daher eher so, dass sie sich lieber selbst promoten, statt sportliche Leistung zu zeigen", schreibt ein Kommentator auf der Facebook-Seite der beiden. "Peinliche Selbstinzenierung" schreibt ein anderer.
    Kritik von Offiziellenseite
    Aber nicht nur andere Sportler und Athleten kritisierten die Zwillinge, sondern auch DLV-Sportdirektor Thomas Kurschilgen. Die Hahners hätten so gewirkt, als absolvierten sie einen Volkslauf und nicht die olympische Entscheidung. Dass Platzierung und Zeit bei einem olympischen Wettbewerb bei den Hahners in den Hintergrund getreten seien, dann sei das "respektlos und ein Schlag ins Gesicht aller anderen Athleten der deutschen Olympiamannschaft", so Kurschilgen. Ob das die anderen Athleten tatsächlich so sehen - keine Ahnung. Kurschilgens Aussage ist jedenfalls ein Schlag ins Gesicht von Anna und Lisa Hahner.
    Was ist denn die Alternative zur Inszenierung? Olympische Sportler müssen sich selbst in den Fokus rücken, um ein Stück des kleinen Aufmerksamkeitskuchens abzubekommen, der alle vier Jahre bei den Spielen verteilt wird. Es ist gleichzeitig ein Kampf um Fernsehminuten, um die Aufmerksamkeit möglicher Sponsoren, vereinfacht gesagt: um den Lebensunterhalt. Eine Alternative wäre vielleicht eine komfortablere finanzielle Ausstattung für Spitzensportler.
    Wer Sport nur als Nebensache begreift, packt keine Olympianorm
    Und: Wenn der Sport für die beiden im Hintergrund stünde, wie der DLV-Sportdirektor mutmaßt, hätten sich die Hahners vermutlich nicht für die Olympischen Spiele qualifizieren können – bei 2:30:30 lag die Olympianorm, die Scherl und die Hahners geschafft hatten.
    Die Deutschen waren von vornherein ohne Medaillenchance – und die Zwillinge hatten vor dem Start erklärt, dass es ein Traum für sie wäre, gemeinsam die Ziellinie zu überqueren. So kam es dann – wenn auch weiter hinten im Feld als ihren eigentlichen Fähigkeiten entsprechend – schließlich gewann Anna den Wien-Marathon 2014, Lisa wurde beim Frankfurt-Marathon 2015 sechste.
    Sollen sie betont traurig sein?
    Aber hätten sie mit hängenden Köpfen ins Ziel kommen müssen, betont demütig, nachher im Interview vielleicht eine Träne der Enttäuschung verdrücken sollen? Wäre das dann nicht auch inszeniert gewesen?
    Die Zwillinge nahmen auf ihrer Facebookseite Stellung: Sie seien nicht zufrieden, trotzdem sei das Überqueren der Ziellinie einer ihrer großen sportlichen Momente gewesen, auf den sie vier Jahre lang hingefiebert hatten.
    Sabrina Mockenhaupt - die sich selbst in den sozialen Netzwerken recht geschickt vermarktet - löschte ihren Facebook-Eintrag mit der Kritik an den Hahners nach kurzer Zeit wieder. Sie selbst war mehrmals bei Olympischen Spielen. 2004, in Athen, kam sie über die 10.000 Meter als Überrundete eineinhalb Minuten nach der Siegerin ins Ziel – und weinte. Allerdings nicht aus Enttäuschung über ihre Platzierung im Mittelfeld. Sondern aus Freude. "Es ist so schön bei Olympischen Spielen ins Ziel zu laufen, ich bin glücklich", sagte sie damals.
    Die Kritikerin bewies so einst selbst: Wie groß Freude oder Enttäuschung über eine Platzierung sind, und wie sie gezeigt werden, bestimmt der Athlet selbst.