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Abgesackte A20
So lebt es sich im Autobahn-Ersatzstrecken-Dorf

Auf der A20 in Mecklenburg-Vorpommern stürzte im Herbst 2017 die Fahrbahn ein. Die Straße durch den Ort Langsdorf ist seitdem der Autobahnersatz. Die Anwohner klagen über die Verkehrsflut - und bezweifeln, dass der Plan der unveränderten Streckenführung der neuen A20 besonders schlau ist.

Von Silke Hasselmann | 25.06.2018
    Die Umleitung der A20 führt durch Tribsees in Mecklenburg-Vorpommern.
    Die Umleitung der A20 führt erst durch Tribsees, dann durch Langsdorf (Silke Hasselmann)
    "Und was? Schoko-Vanille?" Mann: "Ja, Schoko-Vanille". "Für 2,50 Euro das Große? Und Schoko-Vanille?"
    Das ist Gisela Urlaub.
    "Ja, mir tut schon manchmal jeder Kunde leid, die sich hier über die Straße quält, ne. Man müsste eigentlich jedem einen Blumenstrauß geben, der sich hier rüber quält. (lacht)"
    "Die Straße" ist die schmale Landesstraße 19, die das Dorf im Trebeltal der Länge nach teilt. Und einen Blumenstrauß hätte zum Beispiel Erika Kordt verdient. Die Langsdorferin wohnt auf der anderen Seite der Straße, die seit einem Dreivierteljahr für beide Fahrtrichtungen Autobahnersatz ist. Will sie nun den Eisladen besuchen und dabei nicht überfahren werden, geht Frau Kordt zunächst 250 Meter Richtung Dorfmitte zur einzigen Ampel und dann auf der anderen Straßenseite 200 Meter zurück. Doch das sei längst nicht die ärgerlichste Folge des A20-Kraters.
    "Es ist entschieden schwieriger geworden. Dass man vorne mal rausgucken kann, das funktioniert alles nicht mehr. Und die Leute, die hier wohnen und jeden Tag zur Arbeit müssen, die wandern mit ihrem Schlafzimmer nach hinten, da wo sie noch einigermaßen zum Hof raus Ruhe zu finden. Es ist ganz einfach nicht schön. Es ist nicht schön."
    Ostseeverkehr schon früher durch Langsdorf
    Gut, früher, als es noch keine Ostseeautobahn gab, wälzte sich ein Gutteil des Ostseeverkehrs durch Langsdorf. Doch 2005 wurde der A20-Abschnitt durch das Trebeltal freigegeben. Seitdem brettert der Verkehr ohne Tempolimit rund 1,5 km an Langsdorf vorbei.
    Im September dann der Krater. Und wieder brummen, klappern, tuckern täglich tausende Autos und Schwerlasttransporter in nächster Nähe an den Häusern der 200 Langsdorfer vorbei. Auch an dem von Gisela Urlaub, die mir ein köstliches Schoko-Vanille in die Waffel tropfen lässt.
    "Die PKWs würden einen gar nicht so stören. Aber die LKWs - da dürfen Sie nachts nicht wach werden. Dann ist es doll laut. Am Wochenende, wenn die nicht fahren, ist das ruhiger. Aber was meinen Sie: Sonntagabend, wenn die losfahren, so halb elf. Dann klappert es nur noch. Ist schlimm."
    Doch nicht nur das, ergänzt Bauer Küffner wenig später:
    "Eng war´s schon immer. Aber jetzt durch den Verkehr dementsprechend noch größere Vorsicht walten lassen. Anders geht es nicht. Und dementsprechend kommen die Autos jetzt von uns aus gesehen links - also von Bad Sülze - erst recht zu schnell rein. Weil: Vorher waren 50 Stundenkilometer; da sind sie mit 70 reingefahren. Jetzt sind es 30 Stundenkilometer; fahren sie immer noch mit 60 rein meistens. Leider."
    "In den Massen haben wir das nicht gehabt"
    Nun sage ja manch' Auswärtiger: Habt euch nicht so. Bevor es die Autobahn gab, hattet ihr auch viel Verkehr! Wenn sie das schon höre, so Gisela Urlaub:
    "Da habe ich auch schon Eis gemacht, das mach ich schon 28 Jahre. Also in den Massen haben wir das nicht gehabt. Helga: Wir haben jetzt, naja, das Zehnfache, ne?"
    Frau Urlaub sucht die Bestätigung ihrer Mitarbeiterin.
    "An Verkehr jetzt hier. Das Zehnfache wie früher."
    Rollten im vorigen Winter und Frühjahr täglich rund 18.000 Fahrzeuge durch Langsdorf, rechnen sie im Schweriner Verkehrsministerium mit zehntausend mehr in der gerade beginnenden Urlaubshochsaison. Ob das A20-Loch denn wenigstens auch mehr Kunden bringe, frage ich Gisela Urlaub. Die 71-Jährige winkt ab.
    "Es ist weniger. Wo sollen die halten? Wir haben ja Halteverbot, das ganze Dorf."
    Anders ergeht es Thomas Hoth. Seinem auf der anderen Straßenseite befindlichen Pannen- und Abschleppdienst bringe die Dauerbaustelle am Trebeltal-Abschnitt geschäftlich eher Vorteile.
    "Die Serviceleistungen sind mehr geworden. Vielleicht zehn, zwanzig Prozent. Die Pannen, so diese kleinen Sachen - ob es der Liter Öl ist oder Scheibenwischwasch oder Reifenschäden -, diese kleinen Sachen sind bedeutend mehr. Manchmal ist es von morgens bis abends nonstop."
    Parallel neu aufgebaute Autobahn in vier Jahren
    Immerhin: Seit Anfang Juni ist die tonnenschwere Asphaltfahrbahn auf einer Länge von 800 Metern weggefräst, der knapp zwei Meter hohe Damm darunter abgetragen. Nun sind Tiefbauer dabei, eine neue, stabile Gründung in den morastigen Boden des Trebeltales zu bringen. Schon bald sollen dort Betonpfeiler 30 Meter tief in die Erde gerammt werden und eine Behelfsbrücke halten.
    Ab Herbst soll der Autobahnverkehr über diese Brücke statt durch Langsdorf rollen und in spätesten vier Jahren über die parallel neu aufgebaute Autobahn. Doch Gisela Urlaub ist skeptisch. Ob die unveränderte Streckenführung durch das zu DDR-Zeiten trockengelegte und inzwischen wieder vernässte Trebeltal schlau ist? Das sei ja nun schon einmal schiefgegangen - ein Dauerthema in ihrem Eisladen.
    "Man baut eben über ein Moor. Wissen Sie, wenn sie jetzt die Älteren aus Tribsees oder Langsdorf gefragt hätten: 'Hält das da?' Jeder Alte hätte gesagt: 'So? Das hält nicht.' Also wenn so die Älteren kommen, die sagen alle: 'Das war doch vorauszusehen, ne'."