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Abgeschottet und versteckt

Russland plant, seine Ausgaben für die Nuklearwaffen im kommenden Jahr um 25 Prozent zu steigern. Mehr ist allerdings nicht bekannt, denn hochgerüstet wird in den Weiten Sibiriens oder in den Wäldern des Ural, wo seit Sowjetzeiten ganze Städte von der Umwelt abgeschirmt werden. Eine davon war Ozersk, Sitz der Nuklearanlage Mayak.

Von Andrea Rehmsmeier | 16.11.2012
    "Und du sagst, da strahlt nichts mehr!", sagt der Mann mit dem Geigerzähler, und zeigt mit Finger auf das Display. Sein Begleiter schaut schweigend auf die digitalen Ziffern, die beständig nach oben klettern. Die beiden Männer möchten unerkannt bleiben. Beide wohnen in der Stadt Ozersk, und diese ist Sitz der Nuklearanlage Mayak. Wer sich hier mit ausländischen Journalisten trifft, kann leicht Ärger bekommen.

    "Ein Großteil der radioaktiven Partikel ist inzwischen abgewaschen, nach über sechs Jahrzehnten. Sie wurden vom Gebäude herunter in den Boden gewaschen. Sommerhitze, Wintereis, Herbstregen - und immer noch liegt die radioaktive Strahlung bei 40 Mikroröntgen."

    Die Ruine, an deren Mauerwerk die beiden Männer die radioaktive Strahlung messen, ist früher einmal eine Schule gewesen. Sie steht in einem der Geisterdörfer, von denen es in dieser Gegend mehrere gibt - hier, inmitten der Wälder des Ural, etwa 100 Kilometer nordwestlich der Industriemetropole Tscheljabinsk. Zu Sowjetzeiten wurde in der Nuklearanlage Mayak Waffenplutonium für die sowjetischen Atombombenarsenale hergestellt. Im Jahr 1957 explodierte ein Container mit 80 Tonnen Atommüll. Tausende Uralbewohner wurden damals evakuiert, viele starben; bis heute sind weite Landstriche des Ural unbewohnbar.

    Die Männer mit dem Geigerzähler sind nun dort unterwegs, wo damals der radioaktive Staub niedergegangen ist. Mayak produziert zwar kein Waffenplutonium mehr, doch bis heute wird alles, was in der Anlage geschieht, wie ein Militärgeheimnis behandelt. Denn noch immer sind zivile und militärische Produktion dort untrennbar verbunden - wie in allen aus Sowjetzeiten stammenden Industrieanlagen.

    "Bei uns gibt es nichts Ziviles. In der gesamten Sowjetunion hat es keine rein zivile Produktion gegeben. Sogar Passagierflugzeuge sind damals so konzipiert worden, dass sie innerhalb von Stunden für Militäreinsätze umgerüstet werden konnten. Ich habe selbst in so einem Flugzeugwerk gearbeitet. Die Industrieanlagen dienten Rüstungszwecken. Und nebenbei haben sie auch etwas Ziviles hergestellt, Kühlschränke oder so etwas."

    Gerade im Nuklearsektor liefert die Vermischung von militärischer und ziviler Produktion immer wieder Anlass für internationale Kritik: Dieselben Anlagen, die zu Stalins Zeiten hoch geheime Atombombenfabriken waren, beliefern heute den Weltmarkt mit Nukleartechnologie. Und viele Produktionsbereiche, die für internationale Sicherheitskontrollen breit zugänglich sein sollten, sind noch immer vom Militärgeheimnis geschützt. Denn in Russland sind nicht nur die Industrieanlagen selbst geschützt, oft ist die gesamte Stadt abgeriegelt wie ein Hochsicherheitsgefängnis. Hinein darf nur, wer sich - wie die beiden Männer - mit einem speziellen Dokument als registrierter Einwohner ausweisen kann.

    "Dort oben steht geschrieben: 'Nicht an Dritte weitergeben!' Dafür, dass ich dieses Dokument gerade einer deutschen Staatsbürgerin gezeigt habe, kann ich bis zu fünf Jahre ins Gefängnis kommen, laut Gesetz. Ich habe Ihnen nämlich gerade ein Staatsgeheimnis verraten!"

    "Geschlossenes administrativ-territoriales Gebilde" - so bezeichnet die russische Amtssprache die Nuklearstadt Ozersk. In Russland gibt es über 40 solcher geschlossenen Städte. Wer hier wohnt, darf keine Gäste von außerhalb empfangen - es sei denn, zu besonderen Anlässen wie Hochzeiten oder Trauerfällen, und auch das nur mit staatlicher Sondererlaubnis. Doch dient eine solche Bürokratie tatsächlich der Sicherheit der Nuklearanlage? Die beiden Männer haben ihre Zweifel:

    "Als normaler Bürger darf man eine geschlossen Stadt nicht betreten. Aber wer dort ein Geschäft eröffnen will, der bekommt die Zugangserlaubnis sofort. Ein Spion braucht also nur einen entsprechenden Antrag zu stellen, und schon ist er drin - mit offizieller Genehmigung! Wenn es ums Geschäft geht, dann denkt plötzlich niemand mehr an Sicherheit."