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Abgetakeltes Bild der Wirklichkeit

Lydia Davis, 1947 geboren: Der Vater war Professor für Englisch, die Mutter veröffentlichte Erzählungen. Neben ihrer Schriftstellerei ist sie als Professorin für Creative Writing an der Universität von Albany beschäftigt. Ihre "Formen der Verstörung" tischen rund 60 Modalitäten des Trauerns auf.

Von Gisela von Wysocki | 23.11.2011
    Es ist ein tiefenloses, abgetakeltes Bild der Wirklichkeit, das Lydia Davis, mehrfach preisgekrönt und eine der zur Zeit meistdiskutierten amerikanischen Schriftstellerinnen, durch das Sammelsurium ihrer Aphorismen und Anekdoten, Skizzen, Szenen, Abrisse und Ausschnitte geistern lässt. Ein Mann lässt seinen Weinkeller auf Vordermann bringen; eine Katze will ins Haus gelassen werden; ein Ehepaar durchläuft gemeinsam einen Geschmackstest; eine Frau bestellt in einem Coffeeshop in Brooklyn einen Kaffee; eine andere denkt über die Möglichkeiten des Trauerns nach.

    "Werde ich nachts im Bett Kriminalromane lesen, wie C.? Werde ich unmäßig rauchen und trinken, wie K.? Werde ich mir eine graue Taube und einen grauen Jagdhund halten, wie L.? Werde ich in meinem Tiefkühlschrank kübelweise Muscheln aufbewahren, wie C.? Werde ich kleine Dinnerpartys geben, wie M.? Werde ich zum Abendessen oft eine einzelne gebackene Kartoffel essen, wie Dr. S.?"

    Rund 60 Modalitäten des Trauerns tischt uns diese Geschichte auf. Sie löscht die Empfindungswelt der Trauer, genießt die Leere der Attitüden, fügt diese zu einem Text. Zu einem sprachlichen Bravourstück. Die eigensinnigen Geschichten von Lydia Davis handeln von Personen ohne Persönlichkeit und von Geschichten, die sich, handlungsarm und dramenflüchtig, in einer leergeräumten Umgebung abspielen: eine auf die "Verstörung" des Lesers abzielende Unternehmung, die sich bereits im Titel des Buches ankündigt. Lydia Davis lässt keinen Zweifel daran, dass es uns nur mithilfe der Wörter und der Zuschreibungen, der sprachlichen Spiegelungen und Nachbildungen möglich ist, in Augenhöhe mit unserem Leben zu verkehren. Nicht unbedingt das, was ein Leser erfreut zur Kenntnis nimmt, der eine gut geführte, dramaturgisch verlässlich erzählte Short Story erwartet. Lesestoff wie bei Sam Shepard, David Means oder Richard Ford kann er sich aus dem Kopf schlagen.

    Davis verlangt stattdessen, ihr dabei zuzuschauen, wie sie für ihre Geschichten arbeitet. Wie sie der Sprache Muster und Methoden entnimmt, um sie als Netz auszuwerfen. Formeln zu finden wie in der Mathematik. Gleichungen, Größenverhältnisse. Hier erkämpft sich jemand mit jeder Zeile ein Stück Gegenwärtigkeit: ein Jetzt und ein Hier, losgelöst vom sogenannten Fluss des Lebens wie ein abgehängter Eisenbahnwagen.

    Ihren Miniaturen und dem für sie so charakteristischen Ton der Bestandsaufnahme bescheinigte "Times Literary Supplement" die herbe Schönheit der Schnörkellosigkeit. Man darf die Dinge nicht sich selbst überlassen, die Wirklichkeit braucht ein Gesicht. Lydia Davis weiß: Die Sprache verleiht es ihr. Das lenkt ihr Schreiben in unbekannte Richtungen, etwas Junges, Aufrührerisches lebt in den Sätzen. Nach diesem Pioniergeist-Fluidum kann man süchtig werden. Nach den Überraschungen am Anfang der Geschichten, nach den Gags, Einfällen und Eingebungen, mit denen sie fortgeführt werden und die Figuren ein kristallines, fast durchscheinendes Leben annehmen, jenseits von Fatum und von literaturtauglicher Ferne.

    Die Wissbegier dieser Autorin kann von inquisitorischer Eindringlichkeit sein. Für Lydia Davis stehen Poesie und Denkschärfe nicht im Widerspruch, wie ihre gelegentlichen Anspielungen auf die Mystik erkennen lassen. Zwei Formate, ein Geist; ein und derselben höheren Intelligenz entstammend. Das Sterben des Vaters führt sie zu der Frage, auf welche Weise der Zustand zwischen Leben und Tod am besten zum Ausdruck gebracht werden kann; "Fragen der Grammatik", so heißt diese Geschichte.

    "Er kommt in eine Büchse, nicht in einen Sarg. Und wenn er in dieser Büchse ist, sage ich dann: "Das in der Büchse – das ist mein Vater" oder: "Das, in der Büchse, das war mein Vater". Werde ich, wenn er die Form von Asche angenommen hat, auf die Asche zeigen und sagen: "Das ist mein Vater"? Oder: "Diese Asche da ist das, was einmal mein Vater war?'"

    Die Geburt in einem literarisch hochgebildeten Elternhaus schenkte Lydia Davis nicht nur das Leben, sondern lieferte ihr gewissermaßen gleich auch die Sprache mit. Man darf die Dinge nicht sich selbst überlassen, die Wirklichkeit braucht ein Gesicht. Lydia Davis weiß: Die Sprache verleiht es ihr. Das lenkt ihr Schreiben in unbekannte Richtungen, etwas Junges, Aufrührerisches lebt in den Sätzen. Nach diesem Pioniergeist-Fluidum kann man süchtig werden. Nach den Überraschungen am Anfang der Geschichten, nach den Gags, Einfällen und Eingebungen, mit denen sie fortgeführt werden und die Figuren ein kristallines, fast durchscheinendes Leben annehmen jenseits von Fatum und von literaturtauglicher Ferne.

    Einige der Geschichten kommen ganz ohne Menschen aus. Eine handelt vom Staunen darüber, wie viele Annehmlichkeiten man sich für nur 60 Cent kaufen kann, eine andere von einer Fliege im Toilettenraum eines Autobusses; "diesem sehr kleinen, illegalen Passagier". Zwei Themen, zwei Abhandlungen, überleitend ins Gedankenspiel, in den Kurzessay mit Pointe. Man fühlt sich an Traditionen des Tao erinnert und dessen Idee von der "Vollendung bis zur Unauffälligkeit". Hin und wieder stürzt eine Geschichte ab, verkümmert unter der Last einer emsigen Mitteilsamkeit. Sie bleibt im Ton der Vergewisserung stecken, und die in Sichtweite gezoomte Welt sieht aus, als wäre sie in eine Ausnüchterungszelle gesperrt worden. Etwa in dem als "Studie" bezeichneten Bericht über Helen und Vi, zwei sehr alten Damen, deren Lebensumstände die Frage beantworten sollen, wie es zu der lang anhaltenden "physischen und spirituellen Gesundheit" der beiden gekommen ist. Oder in den umfänglichen Notaten, die, in Form eines Soziogramms, haarklein bis zur Kleinkrämerei die Gründe protokollieren, die zur Einstellung oder Kündigung von sage und schreibe sechszehn Hausangestellten führten.

    Einmal, während eines Aufenthalts in Cap Cod, einer Halbinsel von Massachusetts, hat Lydia Davis in der Abenddämmerung ein eigenartiges Erlebnis.

    "Ich blicke vom Strand zurück aufs Land und sehe etwas, das wie vier weißgewandete Frauenstatuen auf einem Friedhof aussieht, die sich vor dem Himmel anheben. Aber dann schaue ich genauer hin und stelle fest, dass es sich um vier weiße, zusammengefaltete Strandschirme mit großen Knöpfen an der Spitze handelt."

    Die Naheinstellung ist das Herz, besser gesagt, die Schaltstelle in den coolen Geschichten dieser Autorin. Ihre Könnerschaft als traumlos zu bezeichnen wäre aber ein Missverständnis. Jemand, der so wie sie über vier zusammengefaltete Strandschirme schreibt, als wäre es die blanke Wirklichkeit, hat einen Traum.

    Lydia Davis, Formen der Verstörung, Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Klaus Hoffer. 272 Seiten. Literaturverlag Droschl, 2011. 22 Euro