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Abgründe des Kulturbetriebs

Rainer Wieczorek hat in der Vergangenheit mit den Künstlernovellen "Die zweite Stimme", "Tubanovelle" und "Der Intendant kommt" auf sich aufmerksam gemacht. Nun legt der 56-Jährige seinen ersten Roman vor - eine umfassende Kritik des kommerziellen Kulturbetriebs.

Von Ralph Kerstenberg | 21.01.2013
    Freie Hand! Wer hätte die nicht gern, gar im Kulturbetrieb, wo jeder jedem reinredet, verschiedene Interessen zu berücksichtigen sind und nicht zuletzt auf ein Publikum "abgezielt" werden muss, von dem stets jemand ganz genau weiß, was es sich wünscht, wie viel man ihm zumuten kann.

    Paradiesische Zustände also, die Rainer Wieczorek am Anfang seines Romans beschreibt, in dem der Ich-Erzähler und sein Freund Wazwab aus der ehemaligen Isolierstation eines evangelischen Krankenhauses einen Veranstaltungsort machen, der "ZwölfElf" heißt – wie das Gedicht von Christian Morgenstern. Die Finanzierung steht, das Kulturamt und verschiedene Sponsoren sind mit im Boot, die frischgebackenen Veranstalter können sich ganz auf ihr Programm konzentrieren, das vorwiegend aus Lesungen und Jazzkonzerten oder einer Mischung aus beidem bestehen soll.

    "Wir hatten, gerade speziell, wenn Lyriker kamen, man konnte ja nicht eine Stunde ein Gedicht nach dem andern vorlesen, hatten wir immer gute Musiker engagiert."

    Rainer Wieczorek macht keinen Hehl daraus, dass er in seinem Roman autobiografische Erlebnisse verarbeitet hat. Von 1995 bis 2009 leitete er das Darmstädter Literaturhaus, gemeinsam mit seinem Kollegen Andreas Müller, dem die Figur des agilen und überzeugungsstarken Wazwab nachempfunden ist. Doch sein Buch ist weder ein Schlüsselroman über die Darmstädter Kulturszene, noch eine romanhaft aufbereitete Kolportage über Freud und Leid eines Veranstalters, sondern eine komplexe Erzählung mit mehreren Perspektiven.

    "Einer ganz inneren, das Erlebnis des Ich-Erzählers mit dem Leben in seiner Familie, dann ein Außen, das System der Sterne, dann gibt es diese dokumentarischen Auftritte und dann dieses Leben in der Isolierstation. Und alles zusammen soll eine Geschichte kulturellen Verfalls in einer sehr wohlhabenden Gesellschaft zeigen."

    Zunächst läuft das ZwölfElf gut. Die Veranstalter durchforsten Verlagskataloge und entdecken Autoren abseits des Mainstreams. Im Zentrum des Buches stehen Würdigungen der Autoren und Musiker, die dort auftreten: Gert Jonke, Peter Rosei, Christoph Meckel und andere. Bei den Schilderungen der Veranstaltungen spürt man, wie Wieczorek hier seine geistige Verwandtschaft ins Rampenlicht rückt, zu der auch der Schweizer Schriftsteller Bruno Steiger zählt, ein Autor, der schon gar nicht mehr damit gerechnet hat, vom Literaturbetrieb überhaupt wahrgenommen zu werden.

    "Ich ließ mir vom Verlag die Telefonnummer Steigers geben, um mit ihm einen Termin auszumachen und ein Honorar zu vereinbaren. Steiger wirkte etwas erstaunt, vielleicht war es auch das langsamere Sprechtempo in Kombination mit dem Schweizer Akzent: "Das ist wirklich eine Überraschung." Viele Autoren hatten sich längst damit abgefunden, dass sich niemand für sie interessierte, sie schrieben aus dem Abseits heraus in ein anderes Abseits hinein, ihr literarisches Werk glich einem seltsamen Spiel auf der Außenlinie."

    Zu einem solchen Spiel wird irgendwann auch das Geschehen im ZwölfElf. Die Eventkultur greift um sich, gegen lange Nächte mit populären Autoren kommen die ruhigen, konzentrierten Abende nicht mehr an. Auch im Kulturamt ändert sich die Windrichtung. Doch die Veranstalter bleiben bei ihrem Konzept, wollen ihren Ort für die Literatur erhalten.

    Die Mühen und Absurditäten des kommunalen Kulturbetriebes, kontrastiert Rainer Wieczorek mit Betrachtungen des Weltalls. Sein Protagonist verdient sich ein Zubrot, indem er für die Sendung Sternzeit des Deutschlandfunks die Texte des geschätzten Kollegen Dirk Lorenzen in das gewünschte Anderthalb-Minuten-Format bringt. So bleiben Lorenzens Originaltexte eine Konstante im Geschehen um das Zwölfelf, in dem der Astronom am Rande sogar ein paar Auftritte hat.

    "Ich war gerade an der Konzeption des Romans "Freie Hand", als ich im Radio, im Deutschlandfunk diese Sendung hörte, die immer vor 17 Uhr läuft, "Sternzeit". Und da hörte ich den Dirk Lorenzen, wie er Phänomene aus dem Bereich der Tiefen des Weltalls erklärte. Und ich dachte: Das ist genau der Widerhall, den ich brauchte. Wie man gute Texte lesen lernen muss, so muss man auch den Weltraum erst lesen lernen. Sonst sieht man daran nichts."

    Am Ende pfeifen die Veranstalter auf den Publikumserfolg und machen unbemerkt von der Öffentlichkeit und den verantwortlichen Stellen das, was sie für gut und richtig halten.

    "Unter merkantilen Gesichtspunkten waren wir so nutzlos wie die Sterne geworden. Man brauchte unser Programm nicht, fast niemand brauchte es. Wer braucht Literatur?"

    "Ja, wer braucht Literatur? Man kann ohne sie leben. Man kann ohne Musik leben, man kann ohne Gedichte, ohne gutes Essen leben. Die Frage ist nur: Möchten wir das?"

    So erinnert der Schluss von Rainer Wieczoreks Roman auch an die Trilogie von Künstlernovellen, die der Autor zuvor veröffentlicht hat. Deren Protagonisten waren ebenso wie Wazwab und der Ich-Erzähler in "Freie Hand" davon besessen, einer auf Vermarktung ausgerichteten Kulturproduktion die Stirn zu bieten und ihre Kunst gegen alle Widerstände um ihrer selbst willen zu betreiben. Im Gegensatz zu den Novellen ist das Romangeschehen sehr stark an der Wirklichkeit entlang geschrieben, sodass sich die Frage stellt, was das Buch eigentlich zu einem Roman macht.

    Zwar wird heutzutage aus verkaufstaktischen Gründen fast jedes Prosawerk, das die 100-Seiten-Grenze überschreitet, als Roman bezeichnet, doch bei einem Buch, das gerade solche Literaturvermarktungsstrategien infrage stellt, wirkt das irgendwie ein wenig inkonsequent.

    Dennoch ist Rainer Wieczorek mit seinem - nun ja - ersten Roman eine melancholische Satire über die Abgründe des Kulturbetriebes gelungen. Zugleich beschwört er darin einen ästhetischen Widerstandsgeist, der die Hoffnung auf einen Silberstreif am Horizont noch nicht ganz aufgegeben zu haben scheint.


    Rainer Wieczorek: "Freie Hand",
    Dittrich-Verlag
    160 Seiten,
    17,80 Euro.