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Abiturienten und Studenten
Diverser, nicht dümmer

Immer wieder hört man Professoren klagen, die Studenten seien nicht mehr studiertauglich, hätten an einer Hochschule nichts verloren, könnten keinen geraden Satz formulieren. Solche Beschwerden sind aber so alt wie die Universität selbst. Forscher warnen deshalb vor Pauschalurteilen und raten, die Hochschulen selbst müssten lernen.

Von Armin Himmelrath | 09.07.2016
    Studierende der Georg-August-Universität in Göttingen sitzen in einem Hörsaal.
    Immer mehr Studenten - und immer dümmere? (dpa / picture alliance / Swen Pförtner)
    "Man versucht hier, die Welt mit physikalischen Theorien zu beschreiben. Das geht zurück auf Max Planck…"
    Eine Vorlesung an der Universität zu Köln. Gut 100 Studentinnen und Studenten sitzen in den langen Bankreihen, vorne doziert der Professor. Alles sieht nach einer harmonischen Bildungs- und Lernbeziehung aus, traditionell auch. Es ist ein uraltes Bild, das vom Forschergeist und seinen erwachsenen und gleichzeitig lernbegierigen akademischen Schülern. Doch immer wieder werden in der öffentlichen Debatte Zweifel daran gestreut, dass die derzeit 2,8 Millionen Studentinnen und Studenten an deutschen Hochschulen wirklich studierfähig sind.
    Etwa von Moderator Frank Plasberg in der ARD-Sendung "Hart aber fair". "Wir haben uns mal erlaubt, in Köln - nicht irgendwo, sondern vor der Universität - bei angehenden Akademikern nachzufragen, ob ihnen neben Hitler noch andere Nazi-Großtäter einfallen. Sie müssen jetzt tapfer sein."
    Und dann folgt eine Umfrage unter Studenten, die tatsächlich Zweifel weckt.
    "Können Sie mir drei Nazigrößen nennen - außer Hitler?"
    - "Goebbels - jetzt hört’s auch schon auf."
    - "Goebbels, Göring und Himmler."
    - "Goebbels… ähm… peinlich."
    - "Schande, ist das peinlich. Ihr seid gemein."
    - "Nee, sorry, echt nicht."
    Hauptgebäude der Universität Köln
    Das Hauptgebäude der Universität Köln. (Andreas Diel)
    Wenn’s bei den Namen ein bisschen hapert - wie sieht’s aus mit so Begriffen wie Dachau?
    - "Also, ist eine Stadt wahrscheinlich, ne?"
    – "Sagt mir nix."
    – "Also, weiß ich nicht, Dachau sagt mir gar nichts."
    Abitur wurde im 18. Jahrhundert eingeführt
    Sind die heutigen Studenten dumm? Möglicherweise sogar dümmer als frühere Generationen von Nachwuchsakademikern? Und: Haben das nicht immer schon alle gesagt, sobald sie selbst mit der Uni fertig waren? Andrä Wolter ist Professor an der Abteilung Hochschulforschung der Humboldt-Universität in Berlin. Sein Interesse gilt dem akademischen Bildungssystem und seiner Entwicklung.
    "Das Abitur ist in Deutschland im ausgehenden 18. Jahrhundert unter anderem auch deshalb eingeführt worden, weil es damals schon die Klage gab, dass die Studienanfänger sich durch immer niedrigere Voraussetzungen ausweisen. Und man zweifelt etwas an dieser These, wenn man diese große historische Kontinuität sieht - bei deutlich niedrigeren Anfängerzahlen, als wir sie heute haben."
    Studenten immer heterogener
    Für Andrä Wolter ist die Frage der studentischen Leistungsfähigkeit eng verknüpft mit der Frage des Hochschulzugangs. Wenn nur eine kleine elitäre Gruppe Zugang zu einer akademischen Ausbildung habe, dann sei es fast zwangsläufig so, dass deren Leistungen schneller ein bestimmtes Niveau erreichten als an einer Massenuniversität, wie sie heute der Normalfall sei.
    "Wenn wir jetzt - ohne die internationalen Studierenden in Deutschland - ungefähr eine Studienanfängerquote von 50 Prozent der Alterskohorte haben, dann ist natürlich die Heterogenität in der Zusammensetzung dieser Gruppe deutlich angewachsen. Es ist was anderes, wenn man eine Studienanfängerquote von zehn Prozent oder von 50 Prozent hat. Und das heißt, dass neben den schulisch gut qualifizierten Studienanfängern sicherlich auch der Anteil derjenigen zugenommen hat, die das Schulsystem immer noch - trotz Abitur - mit einigen Defiziten verlassen und trotzdem ein Studium annehmen."
    Blick auf das Audimax auf dem Campus-Gelände der Universität Bayreuth (Oberfranken) am 11.05.2011. Foto: Daniel Karmann
    Blick auf das Audimax auf dem Campus-Gelände der Universität Bayreuth. (picture-alliance / dpa / Daniel Karmann)
    Mit einigen Defiziten? Fragt man andere Professoren, schildern sie zum Teil erschreckende Beobachtungen. 2012 hatte der Altphilologe Gerhard Wolf von der Universität Bayreuth Professorenkollegen zur Studierfähigkeit ihrer Studierenden befragt und eine Reihe vernichtender Urteile gesammelt. Auszüge.
    - "Eine wachsende Gruppe von Studierenden ist den Anforderungen des von ihnen gewählten Studiengangs intellektuell nicht gewachsen."
    - "Die mangelnde Studierfähigkeit zeigt sich vor allem in der stark unterentwickelten Fähigkeit, kompetent und souverän mit der deutschen Sprache umzugehen."
    - "Konjunktive schwinden aus den schriftlichen Arbeiten ebenso wie zunehmend alle Zeitformen jenseits des Präsens."
    - "Studierende wissen nicht mehr, dass es in der Bibel ein Altes und ein Neues Testament gibt."
    - "Der aktive Wortschatz schrumpft auf wenige hundert Ausdrücke, die penetrant wiederholt werden."
    Geringere historische Kenntnisse
    "Trotzdem warne ich vor pauschalen Feststellungen: Ich glaube, das Bild ist hier differenzierter, wenn man heutige und frühere Generationen von Studienanfängern vergleicht. In bestimmten Kompetenzfeldern ist es mein Eindruck, dass die heutigen Studienanfänger besser vorbereitet sind auf ein Studium, als das früher der Fall war - zum Beispiel im Bereich Organisation des Studiums, auch im Bereich der social skills. In anderen Bereichen mag es so sein, dass die Spreizung deutlich größer geworden ist. Was ich als historisch Arbeitender immer wieder feststelle, ist deutlich sinkende historische Kenntnisse bei den Studierenden."
    Solches Unwissen, sagt Hochschulforscher Andrä Wolter, ärgere ihn natürlich. Aber es sei eben immer auch nur eine Momentaufnahme - genauso wie die positiven Eindrücke in anderen Kompetenzbereichen.
    "Man kann es nicht auf einen Punkt festlegen, sondern - Fremdsprachen ist zum Beispiel ein Bereich, wo mein Eindruck ist, da sind die heute deutlich besser als früher. Es ist ein gemischtes Bild, und man sollte sich vor pauschalen Einschätzungen hüten."
    Es gibt mehr Zugange zur Universität
    Vor Pauschalurteilen warnt auch Isabell van Ackeren. Sie ist Professorin an der Universität Duisburg-Essen und dort als Prorektorin für den Bereich Forschung und Lehre verantwortlich.
    "Wenn man sich mit Schulgeschichte auseinandersetzt, mit Hochschulentwicklung, dann stellt man tatsächlich fest, dass die Universitäten sich schon immer beschwert haben, wer eigentlich in die Universität kommt. Und das ist etwas, womit Universitäten einfach auch umgehen müssen. Die Studierendenschaft ist einfach vielfältiger geworden: Wir haben mehr Studierende natürlich; es gibt mehr Zugange zur Universität insgesamt; größere Durchlässigkeit; und natürlich auch eine höhere Bildungsaspiration seitens der Eltern und auch der Schülerinnen und Schüler, möglichst das Abitur zu erwerben und dann in die Universität zu kommen."
    Die Universität zu Köln ist eine Hochschule mit dem klassischen Fächerspektrum einer Volluniversität. Am 15. Juni 2012 erhielt sie im Rahmen der dritten Hochschul-Exzellenzinitiative von Bund und Ländern den Exzellenzstatus. Die 1388 gegründete Universität zählt zu den ältesten Universitäten in Europa.
    Albertus Magnus Statue vor der Universität zu Köln, die 1388 gegründet wurde und zu den ältesten Hochschulen in Europa zählt. (imago / Manngold)
    Eine der ältesten bekannten Beschwerden ist die von Petrus Canisius. Der war Jesuit und Professor im bayerischen Ingolstadt und schrieb am 24. März 1550 einen Brief an den Sekretär des Jesuitenordens. Sein Thema: die mangelnden Voraussetzungen der Studenten.
    "Wären es doch nur vier oder fünf, denen wir durch unsere Vorlesungen Gutes zu tun hoffen könnten! Was den größeren Teil derselben betrifft, bin ich sicher, dass, wenn unser hochwürdiger Vater Ignatius ihre Erziehung in Händen hätte, sie ohne ihren Schaden in die Grammatik- und Rhetorikklasse zurückversetzt würden. An dieser Universität besteht fast eine Abmachung, dass Studenten sich nicht zu bemühen brauchen, die Wissenschaften zu studieren, am allerwenigsten heilige Wissenschaften. Es ist hier ein großer Zulauf von Studenten, besonders von Studenten der Rechte aus verschiedenen Teilen Deutschlands, und es herrschen unter ihnen natürlich verschiedene Meinungen und Irrtümer in Glaubenssachen. Diese Meinungen werden von den führenden Männern der Universität nicht zurückgewiesen, entweder weil sie unfähig sind sie auszurotten oder weil sie nicht wollen."
    Professoren klagen seit Jahrhunderten
    "Also, wir wissen eigentlich aus der Hochschulgeschichte, dass Universitäten seit Jahrhunderten klagen, dass sich das Niveau der Studienberechtigten verschlechtert." Andreas Keller ist Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. "Deshalb muss man da, glaube ich, sehr vorsichtig mit umgehen. Aus meiner Sicht ist das sehr ambivalent. Denn einerseits ist es natürlich richtig, dass wir Studienanfängerinnen und -anfänger besser unterstützen müssen. Da haben auch die Hochschulen eine Verantwortung, Orientierung zu geben. Vielleicht Orientierungssemester anzubieten. Auch Studienfachwahl-Korrekturen zu ermöglichen. Und auch das BAföG muss entsprechend flexibler werden."
    Für den Gewerkschafter sind es also die Rahmenbedingungen des Studiums, die darüber entscheiden, wer sich in einer akademischen Ausbildung zurechtfindet und wer nicht. "Auf der anderen Seite gibt es Unis, die sich einfach gerne abschotten wollen. Sich die Studienbewerber aussuchen, die zu ihnen passen. Das ist genau der falsche Kurs - weil: Wir haben aus gutem Grunde in Deutschland das Recht auf Hochschulzulassung. Und das sollte man mit so einer Debatte nicht unterminieren."
    Neue Herausforderungen für die Hochschulen
    Den breiten Zugang zu den Hochschulen hält auch die Duisburg-Essener Prorektorin Isabel van Ackeren für bildungspolitisch geboten. Es sei klar, dass dadurch neue Herausforderungen auf die Hochschulen zukämen. "Dadurch, dass es so breit geworden ist, haben wir natürlich auch sehr unterschiedliche Voraussetzungen. Unsere Universität sieht das sehr konstruktiv, und wir sagen: Wir müssen diesen Übergang auch entsprechend gestalten. Aber ich sehe auch eine Aufgabe darin, dass man Schülerinnen und Schüler gut darin berät, was denn die Anschlussperspektiven sind und dass man auch deutlich macht: Das System ist insgesamt durchlässig. Also, man kann verschiedene Wege gehen; man kann auch erst mal eine Ausbildung machen; vielleicht in die Fachhochschule gehen oder an die Universität - wie gesagt, da ist das System grundsätzlich offen."
    Ein Essener Gebäude der Universität Duisburg-Essen (UDE)
    Ein Essener Gebäude der Universität Duisburg-Essen (UDE) (dpa / picture alliance / Roland Weihrauch)
    Diese Offenheit zum Prinzip zu erklären und ganz gezielt die Seiten-, Quer- und Neueinsteiger ins Studium zu fördern, das sei, so Isabel van Ackeren, die Strategie der Universität Duisburg-Essen. Die Uni hat dafür die früher übliche Abschottung von anderen Bildungsanbietern aufgegeben und setzt stattdessen auf eine enge Kooperation mit umliegenden Schulen, und zwar ganz gezielt nicht nur Gymnasien. Talentscouts suchen auch an Gesamt- und Realschulen nach möglichen Studierenden – und müssen dabei immer wieder Eltern und ihre Kinder erst einmal mühsam davon überzeugen, dass ein Studium auch für sie in Frage kommen könnte. 22 Prozent der Studienanfänger in Duisburg-Essen haben keinen deutschen Pass, hinzu kommen zahlreiche sogenannte First-Generation-Studierende, die als erste in ihrer Familie überhaupt eine akademische Ausbildung eingeschlagen haben.
    Studierende sollten die eigene Haltung noch mal reflektieren
    Weil die Studierenden nicht mehr zwangsläufig den Standardweg über das Gymnasium nehmen und weil sie immer häufiger aus einem nichtakademischen Elternhaus stammen, brauchen sie mehr und intensivere Betreuung als früher, da sind sich die Fachleute einig. "Mentoring ist eine Möglichkeit, um wirklich im Studienverlauf die Studierenden auch zu unterstützen. Aber die Studieneingangsphase ist wirklich wichtig. Die Studierenden sollen auch für sich noch mal überlegen: Ist das der richtige Weg, den sie eingeschlagen haben? Was müssen sie dafür tun, dass sie auch erfolgreich sind? Da können wir sie sehr gut stützen und auch die eigene Reflexivität noch mal unterstützen und tatsächlich auch fördern. Und das ist, glaube ich, auch ein wichtiger Auftrag an die Universität, auch die eigene Haltung noch mal zu reflektieren. Mit welchem Habitus schauen wir eigentlich auf Studierende, die zunehmend - zumindest an unserem Standort - auch aus anderen sozialen Schichten kommen? Wir haben einen sehr hohen Anteil an Bildungsaufsteigern. Da muss man sich auch umstellen und gucken: Welche Talente und Potenziale kommen hier her?"
    Zitate aus der Professorenumfrage zur Studienfähigkeit ihrer Studenten.
    - "Das Wagnis, ein komplexeres Satzbaugefüge zu bilden, endet regelmäßig in peinlichen Niederlagen."
    - "Schriftliche Arbeiten sind oft von einer erschreckenden Schwäche gekennzeichnet, eigene Gedanken auszudrücken oder Argumente vorzubringen."
    - "Verstehendes Lesen ist eine Kunst, die kaum einer unserer Erstsemester beherrscht."
    - "Ein Drittel der Studierenden gehört nicht an die Uni."
    Hochschulen blenden eigene Versäumnisse aus
    Tendenziell übertrieben und mitunter einfach falsch seien diese Stellungnahmen seiner Kolleginnen und Kollegen, sagt der Berliner Professor und Hochschulforscher Andrä Wolter. Das scheint ein bisschen auch ein spezifisches Wahrnehmungsmuster von Hochschulen und ihren Angehörigen zu sein, Hochschulprobleme immer auf die mangelnde Vorbildung der Studienanfänger oder der Abiturienten zurückzuführen.
    Begrüßung der Erstsemester an der Westfälische-Wilhelms-Universität in Münster. 5400 Studenten haben zum Wintersemester 2014/2015 ihr Studium aufgenommen 
    Begrüßung der Erstsemester an der Westfälische-Wilhelms-Universität in Münster. (imago / Rüdiger Wölk)
    Die Schuldzuweisung an die Studierenden und an deren Schulausbildung erlaube es den Hochschulen, eigene Versäumnisse und mangelnde Unterstützung durch die Politik auszublenden, erklärt Gewerkschafter Andreas Keller. "Auf jeden Fall brauchen wir eine bessere Betreuung. Wir haben ja heute das Problem, dass Hochschulen unterfinanziert sind. Dass auf eine Professorin oder einen Professor an den Unis 70 Studierende kommen. Das ist an sich schon ein Problem. Und dazu kommt, dass der Bologna-Prozess - die komplizierte Studienreform, aber auch eine immer vielfältiger zusammengesetzte Studierendenschaft - noch eine größere Betreuung eigentlich verlangt. Und deshalb müssen hier die Hochschulen besser ausgestattet werden und brauchen bessere Betreuungsrelationen. Und auch ganz spezielle Fachkräfte, die diese Unterstützung über die Vorlesungen hinaus leisten können." Das sei, sagt der Gewerkschaftsexperte, auch eine politische und vor allem eine finanzielle Frage. "Und da sind Bund und Länder gefragt, den Hochschulen unter die Arme zu greifen."
    Auch Rosenthal-Effekt beeinflusst Leistungen
    Möglicherweise beeinflussen auch andere Faktoren das Verhältnis der Lehrenden zu ihren Studierenden. Der amerikanische Psychologe Robert Rosenthal zeigte 1963, wie sehr sich die Leistungszuschreibung durch Lehrer auf die tatsächlichen Leistungen von Schülern auswirkte: Hielt ein Lehrer einen Schüler für besonders begabt, zeigte dieser auch tatsächlich deutlich bessere Leistungen, als wenn der Lehrer den Schüler als schlecht einschätzte. Der Mechanismus ist heute als Rosenthal-Effekt bekannt - und er zeigt, dass Erfolg nicht nur auf Können, sondern auch auf Zuschreibungen basiert. Die Rückmeldungen der Professoren in der Umfrage erscheinen vor diesem Hintergrund in einem anderen Licht.
    - "In Geistes- und Kulturwissenschaften erscheinen Studierende, die kaum einen syntaktisch und grammatisch stabilen Satz produzieren können."
    - "Studierenden ist oft nicht klar, dass sie, um einen Text zu verstehen, zusätzliche Quellen – zum Beispiel ein Lexikon - heranziehen müssen."
    "Verheerende Auswirkungen schreibe ich dem zutiefst inhumanen und leistungsfeindlichen Noten- und Tempo-Fetischismus unseres Schulsystems zu, das ihn mit dem systemimmanenten Anreiz kombiniert, harte Leistungsfächer beziehungsweise anspruchsvolle Pädagogen durch weiche Fächer beziehungsweise schwache Lehrer, die gute Noten vergeben, zu ersetzen, um sich zu schützen."
    MINT-Fächer reagieren auf niedrige Anfängerzahlen
    Der Berliner Hochschulforscher Andrä Wolter dreht die Argumentation konsequent herum. Für ihn tragen die Hochschulen einen Großteil der Verantwortung dafür, dass es immer wieder zu Klagen über die vermeintlich fehlende Studienfähigkeit der Studienanfängerinnen und -anfänger kommt. Denn die Klientel der Universitäten und Fachhochschulen verändere sich einfach kontinuierlich, und das werde von vielen Universitäten schlicht ignoriert.
    Studenten sitzen am Mittwoch (15.10.2008) mit ihrem Klapprechnern auf den Fluren des Hörsaalzentrums der Technischen Universität Dresden.
    Auch die Studienbedingungen sind nicht immer optimal. (dpa / Ralf Hirschberger)
    "Die Hochschule hat sich darauf zu wenig eingestellt. Es ist aber schon einiges passiert - insbesondere dort, wo die Hochschulen Problemdruck, zum Beispiel in den MINT-Fächern, haben. Viele Hochschulen, die ingenieurwissenschaftliche Studiengänge anbieten - auch im Bereich der Naturwissenschaften - haben in den letzten Jahren Programme entwickelt, um Defizite bei den Abiturienten zu kompensieren. Da läuft sehr viel. In Baden-Württemberg zum Beispiel sind MINT-Kollegs eingerichtet worden, aber viele Hochschulen machen entweder - durch studienvorbereitende Maßnahmen, oder durch Maßnahmen zu Studienbeginn - haben sie einiges auf die Beine gestellt, um mögliche fachliche Defizite - gerade eben im Bereich der Ingenieur- und Naturwissenschaften - aufzufangen. Also, man kann sagen: Da, wo Problemdruck vorhanden ist, passiert auch etwas, weil gerade die MINT-Fächer immer so mit aus ihrer Sicht niedrigen Anfängerzahlen zu kämpfen haben."
    Mittelfristig ein Wettbewerb um Studienanfänger
    Wolters Vorwurf ist klar: Wer sich als Hochschule nur zurücklehnt, über die Zahl und Unfähigkeit der Studierenden klagt, der hängt überkommenen Denkmustern an, die noch nie der Realität entsprachen. Das Problem sei die Grundhaltung: "Es gibt tatsächlich das traditionelle Modell, das sagt: Die Hochschule nimmt den studierfähigen Abiturienten ab. Man muss sich selber nicht mehr um die Vorbildung kümmern. Ich glaube, dieses Modell funktioniert heute einfach nicht mehr. Das ist eine Folge der Hochschulexpansion, das ist auch eine Folge des deutlichen Wandels des deutschen Gymnasiums. Wir müssen heute einfach sagen, dass beide Institutionen - Gymnasium und Universität beziehungsweise die Fachhochschulen - sich irgendwie Gedanken machen müssen, wie der Übergang von der Schule zur Hochschule einfach optimiert werden kann. Und dazu gehört auch, dass die Hochschulen sich Gedanken machen, Leistungsdefizite oder fachliche Vorbildungsdefizite auszugleichen."
    Ein richtiger Ansatz, findet die Bildungsforscherin Isabel van Ackeren - und ergänzt: Angesichts sinkender Jahrgangsstärken kommt auf die Hochschulen zumindest mittelfristig auch ein Wettbewerb um Studienanfänger zu - und für den müssen sie gerüstet sein.
    Betreuung der Erstsemester gesetzlich vorgeschrieben
    "Ich glaube, es ist aber auch wichtig, dass Universität und Schulen sich noch mal stärker zusammenfinden und abstimmen: Was sind eigentlich die Erwartungen seitens der Universitäten? Wie blicken die Schulen auf die Anschlussperspektiven?, um dann noch einmal ein besseres Verständnis zu schaffen, und dass die aber auch rückspiegeln, wo sehen wir besondere Bedarfe, was läuft g, was kann man weiter stärken – und diesen Übergang als Aufgabe der Universitäten wirklich zu betrachten."
    Viele Bundesländer, zuletzt etwa auch NRW, fordern diese Betreuung der Erstsemester von ihren Hochschulen mittlerweile auch gesetzlich ein. Damit aber, sagt Gewerkschafter Andreas Keller, dürfe sich die Politik nicht etwa zurücklehnen. Denn die Aufgabe, mit immer individuelleren Lebensläufen zurechtzukommen, würden die Hochschulen nicht mehr los. Dafür müsse man nur einmal auf die vorgelagerten Bildungseinrichtungen schauen. "Ich glaube schon, dass mit mittlerweile an den Schulen beispielsweise eine Debatte über Inklusion haben oder über Diversität, die an den Hochschulen noch nicht angekommen ist."
    Einfach nur anders
    Isabel van Ackeren von der Universität Duisburg-Essen erklärt, ihre Universität habe mit der schon vor Jahren beschlossenen Orientierung hin zu größerer Diversität der Studierenden keine schlechten Erfahrungen gemacht. Nicht nur, weil die Universität bereits vor fast zehn Jahren als erste deutsche Hochschule überhaupt ein eigenes Prorektorat für Diversity Management eingerichtet hat, wurde der Blick auf die Lehre gestärkt – eine Lehre, die sich gezielt auch an jene Studierenden richtet, denen früher vielleicht die Studierfähigkeit abgesprochen worden wäre. Auch in die Wissenschaft sickern die Erfahrungen und die Expertise der Studierenden mit ihren ganz unterschiedlichen Lebenserfahrungen mittlerweile ein, etwa in der Unterrichts- und Bildungsforschung. Die Frage, ob heutige Studienanfänger dümmer sind als frühere Generationen von Erstsemestern, habe sich ohnehin längst erledigt, sagt Isabell van Ackeren. Sie seien nur anders. Sonst nichts. "Wir haben mit Vielfalt zu tun - aber, ob das jetzt wirklich schlechter geworden ist: Da habe ich so meine Zweifel."