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Ablösung des Ur-Kilos
Das neue Maß der Massen

Das Urmaß des Kilogramms liegt in Paris und macht zunehmend Probleme. Seine Eigenschaften hängen von der Umgebung ab, es scheint im Gewicht zu schwanken. Deshalb will man die Einheit jetzt neu definieren, basierend auf einer Naturkonstante.

Von Frank Grotelüschen | 11.11.2018
    Eine exakt ein Kilogramm schwere, hochreine Siliziumkugel liegt am 25.03.2015 in der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig (Niedersachsen).
    Die Einheit für Masse, das Kilogramm, soll neu definiert werden. (Julian Stratenschulte / dpa-Bildfunk)
    Ein unscheinbarer Zylinder aus Platin und Iridium lagert seit 1889 im Tresor des Internationalen Büros für Maße und Gewichte in Paris: das Urmaß des Kilogramms. Das allerdings macht zunehmend Probleme: Seine Eigenschaften hängen von Luftdruck und Luftfeuchtigkeit ab, mit der Zeit scheint es gar leichter zu werden.
    Nun endlich ist der Fachwelt geglückt, was bei Meter und Sekunde schon früher gelungen war: Das Kilogramm lässt sich auf eine unveränderliche, universelle Naturkonstante zurückführen. Die Arbeiten dafür dauerten Jahrzehnte. So gelang es in Braunschweig, auf der Basis von extrem runden Siliziumkugeln Atome regelrecht zu zählen. Gleichzeitig wogen Labors aus Kanada und den USA das Kilogramm mit enormer Genauigkeit elektrisch auf.
    Mitte November dürfte die Generalkonferenz für Maß und Gewicht die Neudefinition auf Basis der Planck-Konstanten durchwinken, im Mai 2019 soll sie in Kraft treten. Gleichzeitig werden zwei weitere Basiseinheiten auf neue, präzisere Füße gestellt - das Kelvin für die Temperatur und das Ampere für die elektrische Stromstärke. Damit basiert das komplette internationale Einheitensystem auf Naturkonstanten - ein alter Traum der Metrologie wird wahr.
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    "Wir fangen damit an, den Kristall mit einem Kronenbohrer zu zersägen. Mit einem zylindrischen Bohrer, der an der Spitze diamantbeschichtet ist. Es ist wirklich grob, sehr grob."
    Rudolf Meeß stellt etwas Bemerkenswertes her: Gemeinsam mit seinen Leuten sägt, dreht und poliert er so lange an einem Siliziumkristall herum, bis ein Superlativ dabei herauskommt – die rundeste Kugel der Welt.
    "Wir sind mittlerweile bei 20 Nanometer Formfehler. Das entspricht ungefähr zwei Meter auf die Erdkugel. Das ist schon eine verrückte Zahl für mich als Maschinenbauer."
    Der Maschinenbauer arbeitet im Dienst einer Präzisionswissenschaft – der Metrologie. Denn die Kugel dient einem fundamentalen Zweck: der neuen Definition einer alten Größe – des Kilogramms.
    Metrologie - Koordination des Messwesens
    Martin Milton, Direktor des BIPM, des Internationalen Büros für Maß und Gewicht:
    "Unsere Organisation wurde 1875 gegründet, als sich 17 Staaten auf die Meterkonvention einigten. Mittlerweile sind es 60 Staaten und 41 assoziierte Mitglieder. Wir sind dazu da, das Messwesen zu koordinieren, die Metrologie."
    Das BIPM wacht über die physikalischen Einheiten, über Meter und Sekunde – und über das Kilogramm.
    "Eine unserer ersten Aufgaben bestand darin, jenen Metallzylinder herzustellen, der das Urkilogramm darstellen sollte. Das war 1889. Und seitdem dient dieses Metallstück als Standard für das Kilogramm."
    Das gute Stück sollte damals jene Masse haben, die ein Liter Wasser auf die Waage bringt.
    "Der Prototyp von 1889 besteht aus 90 Prozent Platin und 10 Prozent Iridium. Ein Zylinder, 39 Millimeter Durchmesser, 39 Millimeter hoch. Er befindet sich in unserem Institut in einem alten Schloss bei Paris, gut geschützt in einem Tresor."
    Von Zeit zu Zeit wird das Urkilogramm gereinigt, das Prozedere ist penibel festgelegt: Handpolitur mit ethanolgetränktem Hirschleder, danach ein heißes Dampfbad. Aber es gibt Hinweise darauf, dass sich das alte Maß der Massen verändert.
    Das Urkilogramm hat an Gewicht verloren
    Im Vergleich zu anderen Massestücken hat das Urkilogramm an Gewicht verloren. Im Laufe der Jahrzehnte offenbar um 50 Mikrogramm. Das ist ein Problem: Per Gesetz ist das Metallstück von 1889 die internationale Referenz für das Kilogramm. Sollte es mit der Zeit leichter werden, müsste man alle anderen Gewichte auf der Welt anpassen – im Prinzip sogar das Gewichtsstück auf der Marktwaage. Ein Unding für die Fachwelt – und ein Problem, das für die meisten anderen Basiseinheiten lange gelöst ist.
    "Das SI, das Internationale Einheitensystem, fußt auf sieben Basisgrößen. Bei sechs von ihnen gab es seit 1960 signifikante Änderungen."
    Zum Beispiel bei der Zeit: Seit 1967 ist eine Sekunde das Vielfache der Schwingungsdauer einer bestimmten Mikrowelle, die von Cäsium-Atomen abgegeben wird. Eine Größe, die nach heutiger Kenntnis unveränderlich ist. Ähnlich beim Urmeter: Bis 1960 diente ein Stab aus Platin-Iridium als Maß aller Längen. Heute jedoch ist der Meter über die Lichtgeschwindigkeit definiert. Eine Naturkonstante, eine Größe wie in Stein gemeißelt. Ein Wert, der sich – nach heutiger Kenntnis – niemals verändert und überall im Universum gleich ist.
    Dagegen basiert das Kilogramm immer noch auf jenem menschgemachten Metallzylinder aus dem 19. Jahrhundert, der gut gesichert in einem Tresor bei Paris liegt. Ein Anachronismus in unserer hochtechnisierten Welt, die von Präzision beherrscht wird: Forscher können immer genauer messen, Ingenieure selbst feinste Prozesse immer besser kontrollieren. Also suchte die Fachwelt nach einer Naturkonstante, mit der sich das Kilogramm auf ein solides Fundament stellen lässt – und stieß – nach einigem Hin und Her – auf die Planck-Konstante. Einst entdeckt von Max Planck, dem Urvater der Quantenphysik, verknüpft sie die Welten von Teilchen und Wellen – und lässt sich mit ausgefeilten Apparaturen präzise messen.
    Stuart Davidson, National Physical Laboratory, das britische Metrologie-Institut in London.
    "Ursprünglich nannte man sie Wattwaage, weil es darum ging, elektrische Leistung zu messen. Heute heißt sie Kibble-Waage, benannt nach Bryan Kibble, dem Pionier auf diesem Gebiet. Das Prinzip: Man balanciert ein Stück mit bekannter Masse mit einem elektrischen Feld aus, sodass beide im Gleichgewicht sind. Und dann misst man die elektrische Spannung, die man dafür braucht."
    Eine Fixgröße der Natur - die Planck-Konstante
    Ein filigranes Kräftemessen zwischen Gewicht und Elektrizität, aus dem sich am Ende die Planck-Konstante ermitteln lässt. Ist ihr genauer Wert erst einmal festgenagelt, kann man das Spielchen umdrehen: Jetzt lässt sich die Kibble-Waage nutzen, um eine Masse zu wägen. Damit wäre das Ziel erreicht: Die Einheit der Masse, das Kilogramm, wäre nicht mehr festgelegt durch das Urkilogramm in Paris, sondern durch eine Fixgröße der Natur – die Planck-Konstante. Nur: Ihre Vermessung erwies sich als Geduldspiel.
    "Es gab Probleme mit der Temperaturstabilität, mit der Elektronik und der Mechanik: Wie lassen sich eine elektromagnetische und eine mechanische Kraft extrem genau und verlässlich ausbalancieren?"
    Probleme, die die Fachwelt durch jahrelanges Tüfteln lösen konnte. Heute gibt es mehrere Wattwaagen auf der Welt. Die von Bryan Kibble entworfene – quasi das Original – steht mittlerweile in Kanada, sagt Stuart Davidson.
    "Sie ist die Genaueste von allen. Die anderen stehen in den USA und in Frankreich. 2017 haben sie alle so ziemlich genau dasselbe Resultat geliefert, deshalb haben wir großes Vertrauen in die Methode. Wir sind jetzt an einem Punkt, an dem sich mit der Kibble-Waage das Kilogramm realisieren lässt."
    Doch das allein reichte noch nicht für die Neudefinition des Kilogramms. Die Fachwelt forderte mehr – eine zweite, unabhängige Methode zur Vermessung der Planck-Konstanten. Sie sollte zum gleichen Ergebnis kommen wie die Messungen mit der Kibble-Waage. Erst dann darf man sich wirklich sicher sein, die Planck-Konstante genau genug bestimmt zu haben – und damit das neue Maß aller Massen. Diese zweite Methode wurde im Wesentlichen in Deutschland entwickelt – an der PTB, der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig.
    "Ich bin einer der Methusalixe in dem Experiment. Ich bin schon Mitte der Neunzigerjahre dazu gestoßen, habe mit den ersten Ideen zum Kugelinterferometer angefangen."
    Das Avogadro-Projekt
    Arnold Nicolaus steht vor seinem Labor an der PTB in Braunschweig. Ein Speziallabor, ausgelegt für Messungen äußerster Präzision.
    "Wir gehen jetzt in den vorklimatisierten Bereich. Hier drin wird aktive Temperierung betrieben, sodass wir schon mal auf 19,9 Grad ± 0,5 Grad kommen. Dann kommen wir in den eigentlichen Laborraum durch eine weitere Tür. In diesem Labor ist der gesamte Fußboden regelmäßig mit Löchern versehen, aus denen Luft nach oben strömt und oben an der Decke abgepumpt wird. Sodass wir hier drinnen eine noch höhere Temperaturstabilität erreichen. Hier haben wir 19,9 ± 0,1 Grad. Hier ist bis auf ein Zehntelgrad die Lufttemperatur abgestimmt."
    Im Labor zeigt Nicolaus auf einen wuchtigen, langen Tisch. Er wiegt zwei Tonnen und ist luftgefedert.
    "Wir haben ein Luftpolster-System, das aktiv geregelt ist. Das befindet sich hier in diesen sechs Beinen unter dem großen Tisch, sodass wir hier draußen einen Tanz aufführen könnten, ohne dass die Tischplatte dadurch in Schwingungen gerät. Ich drücke jetzt mal auf den Tisch drauf."
    "Dieses Luftpolster gibt nach." "Und deshalb atmet der Tisch."
    Extreme Schwingungsdämpfung, äußerste Temperaturstabilität – das braucht man für den Versuchsaufbau auf dem Tisch: das Avogadro-Projekt.
    "Dieser zentrale Kasten ist unser Vakuumgefäß. In diesem befindet sich das eigentliche Experiment, das Kugel-Interferometer. Höchste Präzision lässt sich nur im Vakuum erreichen. Deshalb wird das Ganze evakuiert."
    Basis für die Neudefinition des Kilogramms
    Nicolaus schiebt einen Deckel beiseite und gibt den Blick frei auf das Innere des Kastens: Eine silbrig glänzende Kugel, etwas größer als ein Tennisball, ruht auf einer Spezialhalterung. Die Kugel ist aus hochreinem Silizium, und die Apparatur dient dazu, ihr Volumen so genau wie möglich zu messen. Andere Apparaturen in anderen Labors der PTB messen weitere Größen: Wie viel wiegt die Siliziumkugel, wie ist ihre Oberfläche beschaffen? Die Siliziumkugeln müssen möglichst makellos sein, außen wie innen. Dann lässt sich aus der Kombination dieser Messungen auf den präzisen Wert der Planck-Konstante schließen – als Basis für die Neudefinition des Kilogramms.
    "Die Geschichte beginnt in Russland. Irgendwo in der verbotenen Stadt in Russland wird in unglaublich vielen Zentrifugen Silizium 28 höchst rein hergestellt, das anschließend nach Deutschland ins Institut für Kristallzüchtung geschickt wird, um dort zu einem Einkristall umgeschmolzen zu werden."
    Gewöhnlich besteht Silizium aus mehreren Isotopen, aus einem Gemisch unterschiedlich schwerer Atomkerne, erzählt PTB-Maschinenbauer Rudolf Meeß. Doch für Präzisionsmessungen ist es von Vorteil, wenn man es nur mit Silizium aus einem Isotop zu tun hat – dem Isotop 28. Die Trennung von anderen, störenden Isotopen passiert in Russland – in Zentrifugen, die eigentlich für die Urananreicherung gebaut wurden. Anschließend verarbeitet das Leibniz-Institut für Kristallzüchtung in Berlin das Silizium-28 zu nahezu perfekten Kristallen, etwa so groß wie Backsteine. Aus diesen Kristallen müssen Meeß und seine Leute möglichst runde Kugeln formen – ein mehrstufiger Prozess, aufwendig und langwierig. Der erste Schritt: das Bohren.
    "Das ist im Prinzip ein Bohren, nur mit einem Hohlbohrer, der in der Mitte hohl ist, womit wir die Kristalle ausstechen."
    Die Silizium-Kugel der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt soll vielleicht die Nachfolge des Urkilogramms antreten.
    Die Silizium-Kugel der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt soll vielleicht die Nachfolge des Urkilogramms antreten. (PTB)
    Drei Monate dauert die Herstellung einer Kugel
    PTB-Feinwerkmechaniker Alexander Lück bedient eine Maschine, bei der sich ein rotierendes Rohr Millimeter für Millimeter in den Siliziumkristall senkt.
    "Da ist es wichtig, dass man mit der Hand dabei ist, weil man merkt, an welchem Punkt es hakt oder, an welchem Punkt ich leicht durchkomme. Deswegen ist da schon viel Fingerspitzengefühl gefragt."
    Das Resultat: eine Art Würfel mit abgerundeten Ecken.
    Der zweite Schritt: das Drehen.
    "Man nimmt einen Diamanten als Drehwerkzeug, eine fast normale Drehbank, und dreht damit diese Kugelform. Bis man schon mal eine Kugelform hat, in der Größenordnung halber Millimeter ist das dann schon mal rund."
    Sagt Rudolf Meeß. Der dritte Schritt: das Läppen. Die Kugel wird durch lose, rollende Körner geschliffen.
    "Dann haben Sie eine Kugel, die noch ungefähr ein halbes Gramm zu schwer ist. Die schon deutlich runder ist als ein Mikrometer, hat aber an der Oberfläche noch einen recht hohen Grad an Zerstörung."
    Der vierte und letzte Schritt: das Polieren durch spezielle Maschinen.
    Vier Kalotten halten die Kugel in ihrer Mitte und lassen sie langsam rotieren – mal rechts herum, mal links herum. Das Poliermittel ist milchig weiß.
    "Wandfarbe, kann man fast sagen. Das ist Titanoxid, hat eine Partikelgröße von ungefähr 100 Nanometern."
    Drei Monate dauert die Herstellung einer Kugel, davon zwei Monate allein das Polieren.
    "Unser Tagewerk besteht in einem Abtrag von ungefähr 20 Milligramm beim Polieren. Das ist ungefähr ein Nanometer pro Minute. Um es mal bildlich auszudrücken: Ihr Haar wächst hundertmal schneller – so langsam arbeiten wir hier."
    Kosten pro Kugel: eine Million Euro
    Am Ende der Prozedur ist die gut tennisballgroße Kugel nahezu perfekt rund, bis auf 20 Nanometer. Übertragen auf die Dimensionen der Erde wäre das so, als würde zwischen dem höchsten Berg und dem tiefsten Tal ein Höhenunterschied von zwei Metern liegen. Kosten pro Kugel: eine Million Euro.
    Zurück im Labor von Arnold Nicolaus. Er zeigt, wie er das Volumen der Kugel misst – mit hochpräzisen Laserstrahlen. Per Glasfasern werden sie zum Experiment geführt, von der Kugel reflektiert und von Spezialkameras aufgenommen.
    "Sie sehen das hier unter diesen schwarzen Abdeckungen. Da befinden sich unsere astronomischen Kameras. Die werden eigentlich eingesetzt, um sehr ferne Sterne und Quasare zu messen, weil sie eine außerordentlich hohe Nachweisempfindlichkeit haben."
    Jahrelang mussten die Forscher ihre Methode verfeinern.
    "Wir haben schwere Kämpfe ausgefochten."
    Temperaturschwankungen, Verunreinigungen, Probleme mit dem Vakuum – mit all dem mussten sich die Fachleute herumschlagen. 2017 endlich konnten sie das Resultat präsentierten: einen Wert für die Planck-Konstante, genau genug, um gemeinsam mit den Resultaten der Kibble-Waagen den Boden zu bereiten für die Neudefinition des Kilogramms.
    "Insofern ist ein gutes Maß an Hochgefühl erreicht."
    Bis auf acht Stellen hinterm Komma genau
    Kibble-Waage und Avogadro-Projekt – mit ihnen ließ sich die Planck-Konstante, die Wesenszahl der Quantenwelt, so genau messen wie nie zuvor, bis auf acht Stellen hinterm Komma genau. Die Zeit ist reif: Am 16. November wird die 26. Generalversammlung für Maß und Gewicht in Paris einen Entschluss fassen: Fortan soll nicht mehr das Urkilogramm als Maß aller Massen fungieren, sondern die Planck-Konstante. In Kraft tritt die Neuregelung am 20. Mai 2019, dem Weltmetrologietag.
    Das Kilogramm ist nicht die einzige Basiseinheit, die dann umgekrempelt wird. Auch das Ampere, die Einheit der Stromstärke, wird renoviert – allerdings weniger massiv als das Kilogramm. Eine andere Größe dagegen erfährt eine ähnliche Umwälzung – die Temperatur. Offiziell wird sie nicht in Grad Celsius gemessen, sondern in Kelvin. Wobei ein Kelvin denselben Temperaturunterschied ausmacht wie ein Grad Celsius. Nur der Nullpunkt ist ein anderer: Beim Grad Celsius ist es der Gefrierpunkt von Wasser, beim Kelvin der absolute Temperaturnullpunkt bei -273,15 Grad Celsius.
    Andrea Peruzzi, Niederländisches Metrologie-Institut, Delft:
    "Momentan ist das Kelvin definiert als ein bestimmter Bruchteil der Temperatur des Tripelpunkts von Wasser. Der Tripelpunkt ist ein physikalischer Zustand, bei dem alle drei Aggregatzustände existieren und im Gleichgewicht sind – fest, flüssig und gasförmig."
    Die Messung des Tripelpunkts ist eine aufwändige Prozedur.
    "Man füllt hochreines Wasser in eine Zelle aus Quarzglas. Dann muss man per Doppeldestillation versuchen, alle Reste an chemischen Verunreinigungen loszuwerden. Und man muss zusehen, dass die Isotopenverteilung des Wassers möglichst dicht an einem internationalen Standard liegt."
    "Der Nachteil dieser Definition: Sie basiert auf etwas Menschgemachtem. Und solche Artefakte verändern sich im Laufe der Zeit."
    Zusammenhang zwischen Mikro- und Makrokosmos
    Bei jeder Messung sind die Bedingungen anders. Das Wasser unterscheidet sich in seiner Reinheit und seiner Isotopenzusammensetzung. Handfeste Nachteile – weshalb auch das Kelvin, ebenso wie das Kilogramm, nun auf eine verlässlichere Basis gestellt wird.
    "Die Basis für die Neudefinition des Kelvins ist ebenfalls eine Naturkonstante – die Boltzmann-Konstante. Sie schafft den Zusammenhang zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos und verknüpft die Bewegung der Luftmoleküle mit der Temperatur."
    "Um das Kelvin mithilfe der Boltzmann-Konstanten definieren zu können, musste man sie erst mal präzise messen. Genau das geschah in den letzten Jahren unter anderem in Deutschland, England und den USA."
    "Das ist ein historisches Gelände. Es wurde von Werner von Siemens gestiftet an den deutschen Kaiser. Es war früher sein Garten. Aber mit der Auflage, hier das erste metrologische Staatsinstitut zu gründen."
    Die PTB-Zweigstelle in Berlin, früher mal das Gelände der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, dem Vorläufer der PTB. Christof Gaiser hat sich auf den Weg in sein Labor gemacht. Dort schließt er eine Tür auf, die auffallend wuchtig ist
    "Das ist eine elektrisch abgeschirmte Kabine, die Störungen verhindern soll, die von außen kommen. Gleichzeitig ist es auch eine thermisch stabilisierte Kabine, dass man hier stabile Temperaturbedingungen hat, die sehr wesentlich sind für die Experimente."
    Im Zentrum des Labors: ein großer, massiver Metallbehälter.
    "Eine richtig dicke Tonne, Füllmenge etwa ein Kubikmeter Wasser, also sehr beachtlich."
    Das viele Wasser sorgt dafür, dass im Tonneninneren stets die gleiche Temperatur herrscht.
    "Das Wasser in der Tonne stand stabil auf ein bis zwei tausendstel Grad Celsius – über Jahre."
    Ermittlung der Boltzmann-Konstante
    Dielektrizitätskonstanten-Gasthermometer – so heißt der Versuchsaufbau in Gaisers Labor. Das Prinzip: Im Inneren der Wassertonne sitzt ein elektrischer Kondensator, der sich mit Helium füllen lässt. Je mehr Helium im Kondensator steckt, umso stärker lässt sich der Kondensator elektrisch aufladen. Das Resultat: feinste Spannungsänderungen, die Gaiser und seine Leute mit hochsensiblen Sensoren messen. Aus den Spannungskurven lässt sich dann die Boltzmann-Konstante ermitteln. Der Herausforderungen waren enorm. Problem Nummer 1: Wie misst man den Heliumdruck in der Tonne?
    "70 bar zu messen mit einer Unsicherheit von einem Millionstel, war zu Beginn des Projekts unmöglich."
    Die Fachleute mussten hochpräzise Manometer bauen, Entwicklungszeit fünf Jahre. Problem Nummer 2: Wie misst man feinste Spannungsänderungen des Kondensators?
    "Der verformt sich durch den hohen Druck. Man muss ein unabhängiges Experiment haben, mit dem man diese Verformung bestimmen kann."
    Die Experten entwickelten Kondensatoren aus Wolframkarbid, das sich bei hohem Druck nur minimal verformt. Und Problem Nummer 3: Wie lässt sich die Apparatur möglichst sauber halten?
    "Jedes Fremdatom, das da reinkommt, verändert den Messwert."
    Per Spezialverfahren mussten die Forscher das Helium auf seine Reinheit prüfen.
    "Sehr viel Geduld hat man hier auf jeden Fall benötigt an dem Experiment – und die Überzeugung, dass man es am Ende schaffen kann."
    Zehn Jahre entwickelt, gebaut, gemessen
    Zehn Jahre haben Christof Gaiser und seine Leute entwickelt, gebaut und gemessen.
    "Wir haben mit einem Niveau von 20 ppm angefangen und über zehn Jahre die Unsicherheit um einen Faktor zehn reduziert. Sodass wir bei einer Unsicherheit von leicht unter zwei ppm gelandet sind. Das haben wir endgültig 2017 geschafft."
    Damit ist die Boltzmann-Kontante bis auf die sechste Stelle hinterm Komma bekannt. Doch wie auch bei Kilogramm gilt: Um den Messwert der PTB zu bestätigen, brauchte es eine zweite, unabhängige Methode.
    Michael De Podesta, National Physical Laboratory, London:
    "Ein akustisches Gasthermometer basiert darauf, dass die Schallgeschwindigkeit in einem Gas abhängt von der Geschwindigkeit der Gasmoleküle. Und die wiederum hängt über die Boltzmann-Konstante mit der Temperatur zusammen."
    De Podesta und sein Team haben die Schallgeschwindigkeit von Argon-Gas gemessen und daraus die Boltzmann-Konstante bestimmt.
    "Klingt sehr einfach, doch der Teufel steckt im Detail. Ständig haben wir uns gefragt, was bei diesem Experiment alles schiefgehen konnte. So gesehen bin ich kein Experimentalphysiker, sondern ein Pessimist im fortgeschrittenen Stadium."
    "Das Herzstück der Apparatur ist ein Stück Kupfer mit einem kugelförmigen Hohlraum drin. Sehr aufwendig in der Herstellung, aber ein absolut schönes Teil. Innen drin stecken winzige Lautsprecher und Mikrofone. Wir schicken Schallwellen hinein und erzeugen Resonanzen. Wie bei einer Flöte, einer Kugelflöte."
    Diese Resonanzfrequenzen mussten die Fachleute möglichst genau messen, ebenso die Größe der Hohlkugel.
    "Die Liste der Dinge, die wir lernen mussten, war lang: Da tauchte unerwartet Feuchtigkeit in der Apparatur auf, wo kam sie her? Außerdem war die Hohlkugel nicht perfekt rund – aber wie wirkte sich das auf die Messwerte aus? Doch das Schlimmste war, dass wir erst spät merkten, dass unser Argon nicht immer gleich war: Verschiedene Flaschen enthielten das Gas in einer unterschiedlichen Zusammensetzung. Alles Probleme, die wir irgendwie lösen mussten."
    Zehn Jahre tüftelten die Fachleute, dann hatten sie das Ergebnis.
    "Wir konnten die Boltzmann-Konstante bis auf weniger als ein millionstel genau messen. Und darauf sind wir ein bisschen stolz."
    Solides Fundament für das Internationale Einheitensystem
    Damit ist das SI, das Internationale Einheitensystem, auf ein solides Fundament gestellt – endlich lässt sich jede der sieben Basiseinheiten auf eine Naturkonstante zurückführen. Vor allem für das Kilogramm heißt das: Keine Unsicherheit mehr darüber, ob und wie sich jener kleine Platin-Iridium-Zylinder im Tresor des Pariser Landschlösschens im Laufe der Jahrzehnte verändert. Doch wie will man das neue Verfahren in die Praxis übertragen? Bislang, mit dem Urkilogramm, war das relativ einfach, sagt PTB-Expertin Dorothea Knopf.
    "Jedes Land hat seinen eigenen Platin-Iridium-Zylinder, den es als nationales Normal definiert. Dieses Stück wird möglichst nahe mit dem Urkilogramm verglichen. Dann finden ganz viele verschiedene Vergleiche von Massestücken statt, damit am Ende auch das Markt-Gewichtsstück stimmt."
    An diesem Prozedere wird sich auch nach der Neudefinition nicht viel ändern. Nur dass als Referenzmasse nicht mehr das Pariser Urkilogramm dient, sondern zum Beispiel eine präzise vermessene Siliziumkugel. Der Unterschied:
    "Wenn meiner Siliziumkugel etwas passiert, wenn sie herunterfällt, könnte ich immer wieder eine neue produzieren und hätte ein neues Kilogramm."
    Denn jetzt, nach der Neudefinition, kann im Prinzip jeder eine Referenzmasse herstellen: Er benötigt dazu nur eine Kibble-Waage oder ein Avogadro-Experiment – und den Wert der Planck-Konstanten. Was aber wird die Umstellung für die Praxis bedeuten – für die Labors und die Werkhalle der Industrie? Vorerst nur wenig, meint BIPM-Direktor Michael Milton. Doch perspektivisch dürfte sie dort von Belang sein, wo man kleinste Mengen mit ungeheurer Präzision abwägen muss – etwa in der Pharmazie.
    "Die Neudefinition ist eine Investition für die Zukunft. Irgendwann wird sie die Grundlage für neue Technologien sein – gerade, wenn’s um höchste Präzision geht. Die Zukunft wird’s beweisen."
    Und was passiert nun mit dem Urkilogramm in Paris? Wird es bald in einem Museum zu bewundern sein?
    "Ich denke, wir brauchen das Urkilogramm noch. Da sind ja diese Zweifel, ob es in der Vergangenheit immer stabil gewesen ist. Vielleicht können die neuen Technologien Licht ins Dunkel bringen, indem sie klären, wie sich das Urkilogramm in Zukunft verhält. Daraus ließe sich dann ableiten, was da in der Vergangenheit passiert ist. Ich denke, da steckt noch einiges drin."