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Abnehmende Artenvielfalt
Das getarnte Massenaussterben

Eine internationale Forschergruppe hat mehr als 100 Datensätze untersucht, um herauszufinden, wie sich Ökosysteme im Lauf der Zeit verändern. Vor allem auf lokaler Ebene, so die Erkenntnisse, scheinen hinzukommende Arten alte Verluste auszugleichen. Genau das aber könnte den Blick auf das große Ganze verstellen.

Von Dagmar Röhrlich | 22.04.2014
    Blick auf eine einsame Hütte an einem See.
    Generell gilt: Je geringer die Artenvielfalt, desto schlechter kommt ein Ökosystem mit Belastungen zurecht. (picture alliance / dpa-ZB/ Daniel Gammert)
    Aussterben ist der Normalfall: Die Mehrzahl der Arten, die jemals auf der Erde gelebt haben, sind bereits verschwunden. Auch gab es immer wieder Umbrüche, in denen biologische Katastrophen die Artenvielfalt dramatisch reduzierten. Die Frage, die Maria de Dornelas beschäftigt ist, ob nicht gerade der Mensch einen solchen Einschnitt verursacht - indem er die Umwelt verschmutzt, den Klimawandel antreibt und Ökosysteme zerstört:
    "Wir wollten deshalb den Verlust der Artenvielfalt bestimmen, und zwar auf lokaler und regionaler Ebene und über viele verschiedene Lebensgemeinschaften hinweg."
    Das Team um die Biologin von der University of St. Andrews wertete 100 Datensätze zur Zusammensetzung verschiedener Ökosysteme aus. 35.000 Arten von Säugetieren, Vögeln, Fischen, Wirbellosen und Pflanzen waren darin verzeichnet, und die analysierten Systeme waren rund um die Welt verteilt - an Land, im Süßwasser und im Meer:
    Auf lokaler Ebene nahezu kein Verlust
    "Überraschenderweise fanden wir auf lokaler bis regionaler Ebene keinen durchgängigen Rückgang der Arten. Vielmehr scheinen in den meisten Fällen ebenso viele Arten verloren zu gehen, wie neue dazu kommen. Derzeit werden empfindliche Arten durch solche ersetzt, die vom Menschen eingeschleppt werden oder der globalen Erwärmung ausweichen. Wir sehen also auf lokaler oder regionaler Ebene eher einen Wandel in der Artenvielfalt als einen Verlust."
    Die älteste Untersuchung, die in die Studie eingeflossen ist, stammt aus dem 19. Jahrhundert, das Gros aus den vergangenen 40 Jahren. Das Ergebnis der Analysen: In jedem Jahrzehnt verändern sich - über Klimazonen, Lebensräume und taxonomische Gruppen hinweg - zehn Prozent einer Artengemeinschaft:
    "An vielen Orten gleichen anscheinend hinzukommende Arten die Verluste aus. Allerdings zählen die neuen Arten oft nicht zu denen, die wir gerne sehen."
    Oft breiteten sich dieselben Arten aus, sodass Unterschiede abnähmen. Je geringer jedoch die Artenvielfalt, desto schlechter kommt ein Ökosystem mit Belastungen zurecht. Außerdem lebten plötzlich Arten zusammen, die nie etwas miteinander zu tun hatten:
    "Wir verstehen noch nicht wirklich, ob diese sogenannten neuen Ökosysteme funktionieren und die Leistungen erbringen, von denen wir Menschen abhängen."
    Für John Pandolfi von der University of Queensland, der nicht in die Forschungen eingebunden war, offenbart diese Studie, was wirklich passiert:
    "Wenn beispielsweise die von Korallen beherrschten Riffe durch solche ersetzt werden, in denen Großalgen dominieren, verlieren wir den wichtigsten Riffbauer, eben die Korallen. Selbst wenn die Artenvielfalt in diesen neuen, von Großalgen dominierten Riffen gleich groß bliebe - und danach sieht es nicht aus -, selbst dann wüchsen die Riffe nicht mehr. Diese Umstellung hätte also gravierende Folgen."
    Die Studie zeigt deshalb, dass es beim Naturschutz um mehr geht als um eine einzelne Tier- oder Pflanzenart, erklärt Maria de Dornelas:
    "Wir müssen uns auch um die andere Seite der Medaille kümmern: den Zuzug neuer Arten, also welche Effekte sie haben und wie das beim Naturschutz berücksichtigt werden muss. Manche Kollegen propagieren bereits diesen breiteren Ansatz, und unsere Studie zeigt, dass das der richtige Weg sein könnte. "
    Eines jedoch bedeuteten die Erkenntnisse auf keinen Fall, stellt die Forscherin klar: dass gegenwärtige Veränderungen in den Ökosysteme halb so schlimm sind.
    "Wir könnten durchaus ein Massenaussterben erleben, ohne dass wir den Artenverlust auf lokaler Ebene wahrnehmen."