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Abnicken statt Mitbestimmen

Konformismus statt kritischer Meinungsbildung. Nicht zuletzt das Verhalten der Abgeordneten beim umstrittenen Meldegesetz hat für Diskussionen gesorgt. Denn, so der Eindruck, viele Parlamentarier heben die Hand, doch kaum einer blickt noch durch. Und nur wenige trauen sich, das offen zu sagen.

Von Wilm Hüffer | 12.07.2012
    "Ich rufe auf: den Tagesordnungspunkt 21 ..."

    Oh ja, in nur 57 Sekunden kann man eine ganze Menge beschließen - im Deutschen Bundestag.

    " ... zur Fortentwicklung des Meldewesens."

    Jüngstes Beispiel: Die Meldedaten aller Bundesbürger für die Werbewirtschaft zur Verfügung stellen, einfach mal so.

    "Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf der Bundesregierung in der Ausschussfassung anzunehmen."

    Einem Gesetz zustimmen? – Nichts leichter als das. Auch wenn an diesem Abend keiner weiß, was in der "Ausschussfassung" des Gesetzes eigentlich drinsteht. Aber wo doch die Zeit drängt und das Spiel gegen Italien längst begonnen hat ...

    "Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen ..."

    Wer noch nicht vor der Glotze sitzt, hebt also schnell den Arm.

    " ... der Gesetzentwurf ist also in zweiter Beratung angenommen."

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    Schon ist es passiert. Haben die Abgeordneten wieder mal abgenickt. Ein Gesetz durchgewunken, ohne Inhalt und Folgen zu kennen. So war es bei den Entscheidungen über den ersten Europäischen Rettungsschirm, im vergangenen September. So ist es bei den jüngst verabschiedeten EU-Krisengesetzen. Die Parlamentarier heben die Hand, doch kaum einer blickt noch durch. Und nur wenige trauen sich, das offen zu sagen.

    "Ich finde es problematisch, dass es wichtige Gesetze gibt, die von der Regierung vorgeschlagen werden, die dann auch kaum verändert wirklich durchlaufen, obwohl es großes Murren gibt – und ich finde es auch bedenklich, dass es immer weniger Gesetze aus dem Parlament heraus gibt, und dass es immer heißt: Man muss es eins zu eins durchsetzen."

    Marco Bülow ist einer der wenigen, denen der Parlamentsalltag unheimlich geworden ist. Der SPD-Bundestagsabgeordnete aus Dortmund hat ein Buch darüber geschrieben. "Wir Abnicker" heißt es. Anstelle kritischer Meinungsbildung im Parlament beobachtet Bülow eine Neigung zum Konformismus – die aus seiner Sicht vom Bundestag längst abgefärbt hat auf die Gesellschaft.

    "Ich finde es übrigens auch problematisch, dass ein Teil der Öffentlichkeit auch glaubt, wenn die Regierung etwas vorschlägt, dann wäre das schon Gesetz – nein, der eigentliche politische Prozess beginnt, wenn die Regierung eine Gesetzesvorlage ins Parlament schickt, und dann beginnt die Diskussion, und die muss man dann vielleicht mal ein bisschen mutiger führen."

    Doch der Mut scheint zu fehlen. Abgenickt wird im Bundestag. Aber auch in den Länderparlamenten. Immer häufiger werden Landtage bei wichtigen Entscheidungen sogar komplett übergangen. Beispiel Baden-Württemberg: der Rückkauf von Anteilen des Energieversorgers EnBW, für knapp fünf Milliarden Euro, am Parlament vorbei. Beispiel Rheinland-Pfalz: die langjährige Finanzierung von Prestigeprojekten wie Flughafen Hahn oder Nürburgring, aus öffentlichen Mitteln für Hunderte Millionen Euro – am Parlament vorbei.

    "Es gibt zahlreiche Fälle, in denen Landesregierungen Entscheidungen treffen, die für den Landeshaushalt mit enormen Belastungen verbunden sind, ohne zuvor das Parlament zu fragen."

    Der Düsseldorfer Rechtsanwalt Clemens Antweiler vertritt Klagen gegen einzelne Landesregierungen. Wegen solcher Haushaltswillkür. Antweilers bislang größter Fall: eine Klage gegen einen Verkehrsauftrag des Landes Sachsen-Anhalt an die Deutsche Bahn, im Volumen von über einer Milliarde Euro. Abgeschlossen Ende letzten Jahres. Der zuständige Minister informierte den Landtag nicht. Antweiler sieht die parlamentarische Mitbestimmung gefährdet – Deutschland auf dem Weg in die Postdemokratie.

    "Das ist ein Zustand, in dem die maßgeblichen staatlichen Institutionen zwar formal noch intakt sind, in dem aber die wesentlichen Leitentscheidungen gerade nicht mehr von den dafür in der Verfassung vorgesehenen Institutionen getroffen werden, sondern von irgendwelchen Ausschüssen oder kleinen Zirkeln."

    Es gibt Abgeordnete, die gegen diesen Zeitgeist aufbegehren. In Baden-Württemberg sind beim historischen Sieg der Grünen viele junge Parlamentarier in den Landtag eingezogen. Finanzpolitische Sprecherin der grünen Regierungsfraktion ist Muhterem Aras. Sie ficht für eine Wiederbelebung parlamentarischer Tugenden:

    "Ich bin jetzt neu, aber ich war schon teilweise erstaunt, mit welchem kleinen, geringen Selbstbewusstsein manche Parlamentarier in den Sitzungen waren, so nach dem Motto: ‚Wie ... ach, das entscheiden Sie jetzt alleine?’"

    Die grüne Finanzpolitikerin entscheidet notfalls alleine – und ist deshalb mittlerweile berüchtigt. In Ausschusssitzungen grätscht sie auch eigenen Regierungsleuten dazwischen. Will sich dem Zwang zur Geschlossenheit nicht fügen.

    "Die Regierungsfraktionen sind nicht der Abnicke-Verein der Regierung, sondern selbstbewusste Fraktionen, und es gibt die ein oder andere Stelle, an der wir der Regierung ganz klar sagen: Wir brauchen mehr Zeit, wir brauchen mehr Unterlagen, so geht es nicht."

    Mitbestimmen statt abnicken? Wie können sie ihre Kontrollrechte noch wahrnehmen, in Zeiten immer komplexerer Finanzgeschäfte? Über Lösungen machen sich nur wenige Fachleute Gedanken. Unter ihnen Professor Dieter Puchta. Der Unternehmensberater saß zwölf Jahre für die SPD im baden-württembergischen Landtag, acht Jahre lang als Vorsitzender des Finanzausschusses. Er hat einen Lösungsvorschlag parat.

    "Aus meiner Sicht sollte jedes Gesetz, das irgendwelche Zahlungen zur Folge hat, mit einem Ablaufdatum nach spätestens drei Jahren versehen werden, und dann muss der Antragsteller – oder diejenigen, die finden, dass dieses Gesetz weiterhin gelten sollte – das gesamte Gesetzgebungsverfahren wieder von Anfang an beginnen."

    Puchta verlangt eine rote Lampe, die nach bestimmter Zeit aufleuchtet. Und die Parlamentarier zur neuerlichen Prüfung der Ausgaben zwingt.

    "Das heißt, Sie müssen in den drei Jahren, in denen ein solches ausgabewirksames Gesetz läuft, es permanent beobachten und Argumente sammeln, weshalb man das auch in Zukunft wieder benötigt. Ich glaube auch, man wäre offener für Neues."

    Der Unternehmensberater Dieter Puchta. Durchgedrungen sind solche Vorschläge noch nicht. Noch lange nicht.

    "Danke, wer stimmt dagegen?"

    Und die Abnickerei in den Parlamenten geht vorerst weiter.

    "Danke, wer enthält sich?"

    Und vielleicht bleibt es so für immer, wer weiß ...

    "Der Gesetzentwurf ist angenommen."