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Abrisspläne in Stuttgart
Wenn Investoren am Stadtbild kratzen

Deutsche Städte verändern ihr Gesicht. Investoren wollen mit Immobilien Geld verdienen, Bürger fürchten um das Stadtbild. Die Politik steckt im Dilemma, wie das Beispiel Stuttgart zeigt. Hier verschwinden nicht nur historische Gebäude, auch zeitgenössische Architektur ist bedroht.

Von Julia Schröder | 10.08.2016
    Le-Corbusier-Haus in der Weissenhofsiedlung in Stuttgart.
    Die Le-Corbusier-Häuser in der Weißenhofsiedlung dürfen bleiben. Aber vieles andere an stadtbildprägender Bausubstanz wurde in Stuttgart schon zerstört. (picture alliance / dpa / Franziska Kraufmann)
    Das Knallen der Korken zur Feier der neuen Welterbe-Ehre übertönte nur kurz die Kakofonie, die derzeit den Stuttgarter Talkessel durchhallt. "Stuttgart reißt sich ab", so heißt die aktuelle Ausstellung der Architekturgalerie in direkter Nachbarschaft der Le-Corbusier-Häuser in der Weißenhofsiedlung. Darin ist dokumentiert, was an stadtbildprägender Bausubstanz aus Gründerzeit und Moderne so alles kaputtgemacht worden ist – und zwar nicht etwa im Krieg, sondern in der Zeit des Wiederaufbaus, des Umbaus zur "autogerechten Stadt" und leider auch danach, bis heute.
    In Stuttgart wird das steingewordene Stadtgedächtnis zuweilen mit einer Unbeschwertheit zerstört, die man sonst nur aus asiatischen Mega-Cities kennt. Mal sollte die Markthalle von Martin Elsässer, ein Juwel des Jugendstils, abgerissen werden, mal stand die zuletzt vom Südwestdeutschen Rundfunk ziemlich heruntergewohnte Villa Berg zur Disposition.
    Eine städtebauliche Vision tut Not
    Es waren jeweils Stuttgarter Bürger, die den Denkmalschutzbehörden zur Seite traten und die Auslöschung verhinderten. In vielen anderen Fällen hat das allerdings nicht funktioniert, so bei Erich Mendelssohns Kaufhaus Schocken, bei exemplarischen Arbeiterwohnanlagen und repräsentativen Privatvillen, die zumeist hochpreisigen Apartmentanlagen weichen müssen.
    Bei der Eröffnung der Ausstellung "Stuttgart reißt sich ab" appellierte die Stuttgarter Architektin Jorúnn Ragnarsdottir an Stadtregierung und Bürgergesellschaft, den Renditeinteressen von Immobilieninvestoren etwas entgegen zu setzen und zuallererst eine tragfähige Vision von Stadt zu entwickeln. "Ragnarsdottir" erfährt die Folgen des städtebaulichen Ausverkaufs derzeit schmerzhaft am eigenen Baukörper.
    1998, vor nicht einmal 20 Jahren also, wurde der von ihrem Büro geplante Neubau der EnBW-Zentrale in der Innenstadt eröffnet und weithin nicht nur für seine ästhetische Qualität, sondern auch für seine bis heute vorbildliche ökologische Nachhaltigkeit gepriesen und ausgezeichnet. Eine Immobiliengruppe hat das Gebäude im vergangenen Jahr erworben und will hier, in bester City-Lage, ein neues Büro- und Wohngebäude errichten, mit mehr vermarktbarer Fläche und weniger von dem Firlefanz, mit dem dieses Architekturbüro auf menschliche Bedürfnisse und umgebende Bebauung zu reagieren pflegt.
    Der Baubürgermeister hofft auf ein Hintertürchen
    Der Stuttgarter Baubürgermeister Peter Pätzold, vom anschwellenden Rumor aufgeschreckt, stemmt sich in Interviews neuerdings gegen den geplanten Abriss, obwohl die Stadt die Genehmigung dafür bereits erteilt hat. Pätzold hofft jetzt auf ein Hintertürchen.
    Das ist das Dilemma, in dem Stadtväter heute stecken: Gewerbliche Bauherren stehen Kopf, weil sie um die Verlässlichkeit städtischer Zusagen und damit um eine der Grundlagen ihrer Investments fürchten. Bürger bestaunen ein weiteres Beispiel kapitalgestützter Verhunzung des öffentlichen Raums. Und eine städtebauliche Vision hat eh keine Chance, wenn die Vermarktbarkeit einer Stadt das Hauptkriterium für ihre Zukunftsfähigkeit sein soll.
    Stuttgart ist kein Einzelfall. Im Rattenrennen deutscher Städte um Arbeitsplätze, Büroflächen und das Geld der Investoren bleiben die auf der Strecke, um die es eigentlich gehen müsste: diejenigen, die da leben.