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"Abschaffen kann man sie eben gar nicht"

Günter Krings spricht sich gegen einen "revolutionären Umsturz des Wahlrechts" aus. Sogenannte Überhangmandate müssten durch eine größere Zahl an Listenabgeordneten ausgeglichen werden. Dadurch werde allerdings das Wahlrecht verkompliziert - "das geht zu 100 Prozent auf die Rechnung des Verfassungsgerichts", meint der CDU-Politiker.

Jasper Barenberg sprach mit Günter Krings | 28.08.2012
    Jasper Barenberg: Ein Jahr vor der Bundestagswahl stehen wir ohne gültiges Wahlrecht da. Zwar hat die Koalition ein Wahlgesetz verabschiedet, das aber haben die Verfassungsrichter in Karlsruhe im Juli in weiten Teilen gekippt, weil die Regeln dazu führen, das Ergebnis stark zu verzerren. Das gilt insbesondere für die sogenannten Überhangmandate. Sie entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate erringt, als ihr nach dem prozentualen Wahlergebnis eigentlich zustehen. Bei der letzten Bundestagswahl zum Beispiel hat die Union 24 solcher Überhangmandate bekommen und auf diese Weise 37 Prozent der Parlamentssitze, obwohl nur 34 Prozent der Wähler ihr Kreuz bei der Union gemacht haben. Eines aber ist sicher: die vielen Überhangmandate verzerren das Wahlergebnis stärker, als es unsere Verfassung tolerieren kann. Wie will die Union also diesen Effekt für die Zukunft ausschließen? – Das habe ich vor dieser Sendung Günter Krings gefragt, den stellvertretenden Vorsitzenden der Unionsfraktion im Bundestag.

    Günter Krings: Zunächst mal war natürlich dieses Urteil insoweit jedenfalls überraschend, als das Gericht vorher oft das Gegenteilige gesagt hat. Aber jetzt muss man erst mal das ernst nehmen und umsetzen, was das Gericht gesagt hat, und dann gibt es natürlich verschiedene Optionen. Wichtig scheint mir aber zu sein, dass wir uns da nicht sozusagen in Gedankenspielen ergehen und da ganz radikale Versionen, reine Verhältniswahl, reine Mehrheitswahl so wie in England zu machen. Das ist alles nicht realistisch, auch von den Menschen, glaube ich, nicht gewollt, weil unser Wahlrecht hat sich im Kern bewährt. Insofern muss man schauen, dass wir diese Überhangmandate, die wir nicht einfach wegstreichen können – das sind ja gewonnene Direktwahlkreise in den einzelnen Städten und Landkreisen unseres Landes -, dass wir die in irgendeiner Form ausgleichen, indem natürlich der Bundestag dann größer wird, und zwar um Listenabgeordnete vergrößert wird. Dazu zwingt uns das Verfassungsgericht faktisch, weil alle anderen Alternativen entweder rein theoretisch nur möglich sind, oder eben wieder zu anderen Ungerechtigkeiten führen.

    Barenberg: Herr Krings, warum wäre es nicht am einfachsten und übersichtlichsten sozusagen, die Überhangmandate einfach abzuschaffen?

    Krings: Abschaffen kann man sie eben gar nicht. Das ist eine landläufige Vorstellung, wo ich auch oft gefragt werde, dann schaffen wir sie einfach ab. Dann frage ich mich immer, wenn das auch Bundestagskollegen aus der eigenen Fraktion vielleicht teilweise sogar sagen, wer ist denn beispielsweise in Baden-Württemberg Inhaber eines Überhangmandates. Das ist ja nur zahlenmäßig zu erfassen, aber nicht mit den einzelnen Wahlkreisen zu belegen. Es gibt einen Vorschlag der Grünen, zum Beispiel zu sagen, notfalls müssen die schwächsten Wahlkreisgewinner gestrichen werden. Das hieße, dass wir ganze Wahlkreise ohne Vertretung im Bundestag haben. Das sind alles keine praktikablen Vorschläge. Und selbst wenn man sagt, wir gucken mal, wie weit wir kommen, wenn wir einfach nur Überhangmandate, die beispielsweise in Sachsen oder Baden-Württemberg errungen werden, dadurch verrechnen, dass wir Listenmandate in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen oder Brandenburg abziehen, ...

    Barenberg: Wie es die Grünen vorschlagen.

    Krings: Das wäre eine wahnsinnige föderale Proporzverschiebung. Das würde dazu führen können beispielsweise, dass ganze Bundesländer, wo jeder vierte Wähler sich für beispielsweise die CDU entschieden hat, dann ohne eine Vertretung dieser Partei im Bundestag dastehen.

    Barenberg: Wenn man sie nicht abschaffen kann, die Überhangmandate, kann man sie dann vollständig ausgleichen, wie die SPD es vorschlägt, und so den Proporz und damit das Wahlergebnis wieder geraderücken und herstellen?

    Krings: Dieser Ausgleich, auch der volle Ausgleich ist eine Option, die wir durchaus auch besprechen sollten. Das Verfassungsgericht ist ja nicht so weit gegangen, es ist der SPD oder der Opposition nicht gefolgt und hat gesagt, Überhangmandate müssen generell ausgeglichen werden, sondern sie haben gesagt, bis zu einer gewissen Größenordnung sind sie vertretbar. Man spricht dort von 15 – eine Zahl übrigens, die relativ willkürlich gegriffen erscheint, aber die wir genau wie alle anderen Teile dieses Urteils jetzt ernst nehmen müssen. Aber ich rede auch gerne über einen vollen Ausgleich. Das Problem ist nur: Es gibt ja auch ältere Urteile des Gerichts, und auch dieses Urteil von vor wenigen Wochen hat ein altes wieder aufgenommen zum negativen Stimmgewicht, das uns erst in die ganze Misere gebracht hat. Und wie ich bisher beispielsweise die Vorschläge der SPD lese, schaffen auch die wieder ein negatives Stimmgewicht. Das heißt, wir müssen nicht nur aufpassen, dass wir den Proporz wieder herstellen nach Zweitstimmen, sondern wir müssen auch aufpassen, dass wir dieses sogenannte negative Stimmgewicht nicht wieder herbeiführen, und das ist eine ungleich kompliziertere Aufgabe.

    Barenberg: Negatives Stimmgewicht – den Effekt also, dass mehr Stimmen für eine Partei bewirken können, dass die gewählte Partei am Ende weniger Sitze im Parlament hat, ein Paradox.

    Krings: Ja, das ist aber nur ein Teil. Das Gericht ist jetzt weitergegangen, hat auch gesagt, es darf auch nicht sein – so das letzte Urteil -, wenn eine Partei A mehr Stimmen bekommt und dadurch die Partei B mehr Mandate bekommt. Negatives Stimmgewicht ist jetzt noch weiter definiert vom Gericht, man lässt sich dort in Karlsruhe jedes Mal wieder was Neues einfallen, das macht es alles nicht einfacher und es macht es auch fast unmöglich, ein einfaches Wahlrecht zu machen, und das ärgert mich.

    Barenberg: Denn ein einfaches, ein Jedermann verständliches Wahlrecht ist ja auch ein Auftrag, den das Bundesverfassungsgericht erteilt hat. Ein unmöglicher Auftrag, jedenfalls wenn Sie daran festhalten, dass wir weiter die Mischung haben wollen zwischen einem Personenwahlrecht, einem Mehrheitswahlrecht und einem Verhältniswahlrecht?

    Krings: Genau. Natürlich würden wir ein einfaches Wahlrecht herstellen können, wenn wir das englische System übernehmen, dass wir nur noch Wahlkreise haben, nur in Wahlkreisen gewählt würde. Dann hätte übrigens Angela Merkel, ohne eine Koalition eingehen zu müssen, zwei Drittel bis drei Viertel, glaube ich, der Mandate auf ihrer Seite. Insofern: Wir als Union hätten damit kein grundsätzliches Problem. Aber ich glaube nicht, dass das von den Menschen als gerecht empfunden würde, und ich habe das zu keinem Zeitpunkt vorgeschlagen, weil ich eben diesen revolutionären Umsturz des Wahlrechts nicht möchte. Wenn wir im bisherigen System bleiben und dabei nicht grob ungerechte Elemente aufnehmen wollen, dann wird das Wahlrecht immer komplizierter, und das geht zu 100 Prozent auf die Rechnung des Verfassungsgerichts.

    Barenberg: Nun hat dieses Gericht einen Hinweis gegeben, Sie haben es schon angesprochen: etwa 15 Überhangmandate seien noch verträglich im deutschen Wahlrecht. Wenn ich das richtig verstanden habe, plädieren Sie dafür, sprechen Sie sich dafür aus, dass man ab dem 16. Überhangmandat dann einen Ausgleich schafft. Das heißt aber auch im Umkehrschluss, Sie akzeptieren, dass es weiter diese Verzerrung durch Überhangmandate geben wird?

    Krings: Ich bin auch gerne bereit, über Vollausgleichmodelle zu sprechen. Wir sind da offen, gehen offen an die Verhandlungen heran. Aber man muss auch an dieser Stelle erst mal ernst nehmen: Wir könnten auch aus anderen Gründen vielleicht dazu kommen, dass Modelle, die einen Rest – das müssen auch nicht zwingend 15 sein – an Überhangmandaten unausgeglichen lassen, vielleicht aus anderen Gründen, weil sie eben verfassungsfest sind im Gegensatz zu reinen Ausgleichsmodellen, durchaus akzeptabel sein könnten. Also wir haben gesehen, in Nordrhein-Westfalen beispielsweise, da wird der Landtag erheblich vergrößert durch ein extremes Ausgleichsmodell, also da muss man auch Fragezeichen machen. Aber noch mal: Wir reden über alle Modelle, auch über Vollausgleichsmodelle.

    Barenberg: Und am Ende, wenn es so kommen sollte und es bliebe eine dann begrenzte Zahl von Überhangmandaten, heißt das dann auch, dass Sie akzeptieren, dass eine künftige Bundesregierung beispielsweise eben nicht aufgrund ihrer Mehrheit, der Mehrheit der Zweitstimmen nämlich, ins Amt kommt, sondern wegen einer zufälligen Zahl von Überhangmandaten?

    Krings: Das habe ich verfassungsrechtlich nie als Problem gesehen, denn beide Stimmen sind ernst zu nehmen und sie können auch in Ländern – ich habe das Beispiel England genannt – mit einem Mehrheitswahlrecht - und in Amerika gab es das ja sogar schon mal - dazu kommen, dass eine Partei 60 Prozent der Wahlkreise mit 30 Prozent oder 40 Prozent der Stimmen nur gewinnt. Das ist in der Demokratie so möglich. Es muss eben ein transparentes klares Verfahren sein ohne inverse Effekte. Und alle, die sagen, das ist nicht legitim, eine Mehrheit, die dann vielleicht auf Überhangmandaten basiert, das ist vielleicht nicht schön, aber das sind beides vollgültige Stimmen und wer das nicht akzeptiert, der missachtet die Erststimme, und gerade die Erststimme, die direkte Wahl eines Abgeordneten vor Ort, die führt, glaube ich, gerade zur großen Akzeptanz unserer Demokratie, weil sich dort Leute auch aufgenommen fühlen mit ihren Vorschlägen, mit ihrer Kritik auch von ihrem Abgeordneten vor Ort.

    Barenberg: Es gibt natürlich auch Inhaber von Direktmandaten, die mit einem sehr geringen Prozentsatz von Stimmen am Ende gewählt worden sind. Wie weit ist es her mit der großen Legitimität, die so ein Direktmandat verkörpert?

    Krings: Es gibt einen Wettbewerb und es kann eben nur einen geben, der gewinnt, und es gewinnt derjenige mit den meisten Stimmen. Das ist ein altes demokratisches Prinzip. Es mag auch sein, dass Menschen sich als Wähler überrascht zeigen, dass ihre Stimme nachher in einer ganz anderen Koalition landet, als sie eigentlich gehofft haben, ihre Stimme würde landen. Also es gibt immer wieder diese Effekte, wo ich sage, so habe ich mir das aber nicht vorgestellt. Aber es geht um Wettbewerb vor Ort, wo der mit den größten Stimmenanteil gewinnt. Anders ist Demokratie nicht organisierbar.

    Barenberg: Über Jahre hat es keine Einigung in der Vergangenheit gegeben mit den anderen Parteien. Man hatte manchmal auch den Eindruck, dass die Regierungskoalitionen das gar nicht so sehr anstreben. Wie zuversichtlich und warum sind Sie zuversichtlich, dass es diesmal schnell gehen muss, denn im nächsten Jahr sind ja Bundestagswahlen?

    Krings: Den Eindruck kann ich Ihnen natürlich nicht nehmen. Aber ich kann Ihnen nur versichern, dass wir mehrere Gespräche geführt haben, insbesondere mit der SPD habe ich gesprochen, um Kompromisse auszuloten. Am Ende war dann die Bereitschaft dort nicht mehr gegeben. Es war am Ende aber auch der Zeitdruck da, weil das Verfassungsgericht ja eine Frist gesetzt hat, die wir im Übrigen leider nicht eingehalten haben, das hat mich genug geärgert, und da war dann nicht mehr die Chance, noch mal ein paar Monate die SPD versuchen zu bearbeiten, dann doch mitzumachen bei einer Kompromisslösung. Jetzt sind, glaube ich, die Chancen besser, weil alle Parteien jetzt auch bereit sind, hoffe ich jedenfalls, von ihren Maximalpositionen abzugehen. Das merken Sie auch schon daran, dass wir sagen, wir reden über alles, was irgendwo gerecht und verfassungsfest ist. Da gibt es sicherlich noch eine gewisse Bandbreite von Lösungsmöglichkeiten. Ich hoffe, dass das die anderen Parteien auch machen, nicht auf ihren, zum Teil auch verfassungswidrigen Vorschlägen eins zu eins stehen bleiben. Dann, glaube ich, können wir schon in den nächsten Monaten einen Gesetzentwurf gemeinsam mit möglichst vielen Oppositionsfraktionen erarbeiten. Der Zeitdruck ist politisch durchaus da, aber wir sagen, es ist besser, wenn wir möglichst zügig ein neues Wahlrecht haben, aber es geht hier nicht um die Kandidatenaufstellung, die läuft ja zum Teil in den Wahlkreisen schon, sondern es geht um das Berechnungsverfahren. Das brauche ich streng genommen erst am Wahlabend um 18 Uhr, aber natürlich sind wir sehr zuversichtlich, dass wir das einige Monate früher dann schon haben.

    Barenberg: Der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Vielen Dank, Günter Krings!

    Krings: Vielen Dank!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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