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Abschiebung mit Folgen

Heute soll die EU-Kommission darüber entscheiden, ob sie gegen Frankreich ein Vertragsverletzungsverfahren wegen der Massenabschiebung von Roma einleitet. Die französische Regierung betont, es habe eingehende Einzelfallprüfungen gegeben. Eine Diskriminierung sei nie beabsichtigt gewesen.

Von Doris Simon | 29.09.2010
    "My patience is wearing thin. Enough is enough."

    Meine Geduld geht zu Ende, jetzt reicht es. Mit diesen Worten hatte EU-Justizkommissar Viviane Reding vor 15 Tagen angekündigt, sie werde prüfen lassen, ob Frankreich mit der Massenabschiebung von Roma gegen die europäischen Verträge verstoßen habe. Heute ist es soweit, die Justizkommissarin wird gemeinsam mit der Innen- und dem Sozialkommissar den übrigen 24 Kollegen in der Europäischen Kommission mündlich das Ergebnis der Prüfung durch den juristischen Dienst vortragen. Danach gebe es eine Diskussion und schließlich die gemeinsame Entscheidung, sagte heute Redings Sprecher.

    Alles weist darauf hin, dass die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich einleiten wird. Auch der französische Binnenmarktkommissar Michel Barnier soll einverstanden sein. Vor zwei Wochen hatte Barnier seine Justizkollegin noch scharf kritisiert, weil sie die Massenabschiebung der Roma in die Nähe der Nazis gerückt hatte. Ihre Äußerung bedauerte die EU-Justizkommissarin schon bald, die heftige Auseinandersetzung zwischen der Europäischen Kommission und Frankreich konnte sie damit nicht mehr verhindern. Als Staatspräsident könne er nicht zulassen, dass sein Land beleidigt werde, resümierte Nicholas Sarkozy einen lauten Streit mit Kommissionspräsident Barroso auf dem EU-Gipfel.

    Doch während einige französische Politiker meinten, die Europäische Kommission habe kein Recht, ein großes Land wie Frankreich zu belehren, gab der EU-Gipfel der Kommission Rückendeckung für ihre Aufgabe als Hüterin der Verträge. Bei den möglichen Verstößen gegen EU-Recht gehet es zum einen um die EU-Freizügigkeitsrichtlinie von 2004. Sie erlaubt EU-Bürgern den freien Aufenthalt in anderen Mitgliedsstaaten, vorausgesetzt, sie haben Unterhalt und sind krankenversichert. Sie sieht die Möglichkeit der Ausweisung von EU-Bürgern vor, allerdings weist Artikel 23 der Richtlinie ausdrücklich auf Verhältnismäßigkeit hin. Die persönlichen Umstände seien zu berücksichtigen, etwa Aufenthaltsdauer, Alter und Gesundheit der Betroffenen.

    Die französische Regierung hat der Europäischen Kommission inzwischen schriftlich versichert, jede Ausweisung sei erst nach einer eingehenden Einzelfallprüfung erfolgt und trage der Verhältnismäßigkeit Rechnung. Doch bis jetzt hat Frankreich diese Rechte von Abzuschiebenden nicht in nationales Recht umgesetzt: Hier setzen die Juristen der EU-Kommission an. Schon vor zwei Jahren hatte Brüssel in dieser Sache Paris gerüffelt, passiert war aber nichts. Übrigens auch in mehreren anderen EU-Ländern nicht. Sie müssen deshalb wie Frankreich auch mit Vertragsverletzungsverfahren rechnen. Deutschland ist nicht betroffen.

    In einem zweiten Verfahren könnte die Europäische Kommission Frankreich vorwerfen, die Roma als ethnische Minderheit zu diskriminieren. Der Verdacht drängte sich auf, nachdem ein Rundschreiben des Pariser Innenministerium die gezielte Auflösung von Roma-Lagern forderte. Allerdings wurde diese Anweisung inzwischen korrigiert. Frankreich betont seither, es habe nie eine Diskriminierung der Roma beabsichtigt. EU-Justizkommissarin Reding befand, nicht nur die Worte müssten sich ändern, sondern auch das Verhalten der französischen Regierung.

    Beschließt die Europäische Kommission heute ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich und andere Mitgliedsstaaten, erhalten die betroffenen Länder eine Frist, um zu reagieren und, nach einer weiteren Frist, ihre Politik zu ändern. Verletzt das Land danach aus Sicht der Europäischen Kommission immer noch Europäisches Recht, geht das Verfahren an den Europäischen Gerichtshof nach Luxemburg. Dann drohen den betroffenen Mitgliedsländern Strafen. Sie können schmerzhaft hoch ausfallen.