Dienstag, 19. März 2024

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Abschiebungsinitiative in der Schweiz
"Das ist die Aushebelung der Menschenrechte"

Nach der "Ausschaffungsinitiative" vor fünf Jahren nun die "Durchsetzungsinitiative": Die Schweizerische Volkspartei will per Referendum erreichen, dass straffällig gewordene Ausländer sofort des Landes verwiesen werden können. Gegen eine solch scharfe Regelung wehren sich in dem Land Kulturschaffende. Einer von ihnen ist der Schriftsteller Adolf Muschg.

Karin Fischer im Gespräch mit Adolf Muschg. | 27.01.2016
    Muschg kaut mit skeptischem Blick auf seinem Brillenträger.
    Der schweizerische Schriftsteller Adolf Muschg. (picture alliance / dpa / Stephanie Plick)
    Karin Fischer: Die Abschiebung zum Beispiel kriminell gewordener Ausländer heißt in der Schweiz "Ausschaffung". Vor fünf Jahren erhielt die sogenannte Ausschaffungsinitiative der Schweizerischen Volkspartei die Mehrzahl der Stimmen. Nun hat die nationalkonservative SVP, bekannt für ihre ausländerfeindliche Stimmungsmache durch Plakataktionen, eine neue Initiative gestartet, die euphemistisch "Durchsetzungsinitiative" heißt. Sie soll allerdings einen Automatismus verankern, mit dem alle Menschen, die keinen Schweizer Pass besitzen und straffällig geworden sind, ohne Einzelfallprüfung des Landes verwiesen werden. Seit der Kölner Silvesternacht ist wohl auch im Nachbarland die Bereitschaft gestiegen, diese Durchsetzungsinitiative zu unterstützen. Dagegen macht jetzt die Schweizer Kultur- und Intellektuellenszene mobil. Im Netz wird unter dringenderaufruf.ch Geld für eine Plakataktion gesammelt, die wie üblich dreisprachig "Nein" sagt zur SVP-Initiative. Der Architekt Mario Botta, die Kuratorin Bice Curiger oder der Schriftsteller Peter Bichsel, Filmemacher, Historiker, Wissenschaftler, Philosophen gehören zu den Erstunterzeichnern wie der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg. Ihn habe ich vor der Sendung gefragt, was für ihn jetzt auf dem Spiel steht.
    Adolf Muschg: In der Schweiz wird heute ein Streit um etwas angefochten, was natürlich keine rein schweizerische Angelegenheit ist, und ich denke, darum haben auch viele, die sich für die Zivilgesellschaft verantwortlich und haftbar fühlen, unterschrieben. Es sind ja keineswegs nur sogenannte Kulturschaffende, es sind auch ehemalige Bundesräte und Rätinnen. Die ersten sind dabei und die sind keineswegs Linke oder alles Linke. Also das Kernproblem ist Rechtsstaat versus Demokratie. Der Peter Noll, Staatsrechtsprofessor (leider verstorben) in Mainz und Schweizer, hat gesagt, die Schweiz ist eine Demokratie, aber kein Rechtsstaat, die Bundesrepublik ist ein Rechtsstaat, aber keine Demokratie. Das ist ein bisschen zugespitzt gesagt, aber darauf läuft es hinaus.
    Blocher spricht und gestikuliert dabei mit dem Zeigefinger.
    Christoph Blocher, derzeit Vize-Chef der Schweizerischen Volkspartei. (AP)
    "Absage an die Unabhängigkeit der Rechtsprechung"
    Fischer: Erklären Sie uns, was das mit der Durchsetzungsinitiative auf sich hat und wodurch Sie den Rechtsstaat in der Schweiz in Gefahr sehen.
    Muschg: Es ist in erster Linie ein Misstrauensvotum gegen die Exekutive und, vielleicht noch fundamentaler, eine Absage an die Unabhängigkeit der Rechtsprechung und damit an die Gewaltenteilung. Die SVP, unsere rechtskonservative, nationalkonservative Partei, tendiert nicht nur auf den Nichtanschluss und die Abwendung von Europa, sondern vor allem auf die Abschaffung der sogenannten fremden Richter. Die stehen schon im Bundesbrief von 1291, der seinerseits natürlich stark legendär ist, aber man kann damit enorm gut das schweizerische Ressentiment "Her im Haus bin ich, sind wir, ist die Mehrheit" wecken. Und in der Konsequenz ist das die Aushebelung im Grunde der Erklärung der Menschenrechte und damit auch der schweizerischen Verfassung, denn die Menschenrechte stehen über der schweizerischen Verfassung. Für die SVP gilt aber zweierlei Recht. Das heißt, die Bürger, Mitbürger, die Land und Pass haben, sollen gewissermaßen formlos und ohne, dass der Richter abklären und anhören muss oder darf, ausgewiesen werden können. "Raus!" - das ist die Botschaft des Plakates, das in der Bundesrepublik Deutschland gar nicht hängen dürfte, wo das weiße Schaf das schwarze Schaf mit den Hufen aus der heiligen Schweiz hinauskickt.
    "Die Schweiz hätte ohne Asylsuchende nicht gegründet werden können"
    Fischer: Sie haben kurz die Historie bemüht, Adolf Muschg. Was für ein Menschenbild proklamiert die SVP mit ihrer Kampagne?
    Muschg: Wenn man so will das natürliche stammesgeschichtliche. Im Notfall schließen wir uns zusammen. Das hat in der Schweiz ja auch eine gewissermaßen unverdächtige Tradition. Die Schweiz als Igel, der die Stacheln ausreckt gegen die Außenwelt, und wenn es bedrängend wird, dann werden die Stachel giftiger. Und man kann ja nicht leugnen, dass der Mensch in seinen Emotionen auf den Nahbereich programmiert ist und dass uns eine Verstauchung des eigenen Kindes oder eines Nachbarkindes näher angeht als ein Flugzeugabsturz oder sogar eine Atomkatastrophe in Japan. So ist der Mensch gebaut und die Konzeptionen seines Großhirns verpflichten ihn aber auch, für eine ganz andere Dimension mitverantwortlich zu sein. Sobald Not am Mann ist, ist der Reflex der Rückzug auf die Höhle, wenn man so will, natürlich. Nun ist diese Höhle genauso wie alle anderen Grundtatsachen unserer Zeit ein Produkt der Globalisierung, das auch Angst macht. Der Chef-Höhlenbewohner, unser Herr Blocher, ist ein internationaler Unternehmer, der Geschäfte mit China macht, aber sozusagen eine Teilung in seinem Kopf vollzogen hat. Für die Wirtschaft mag die Welt grenzenlos sein, aber für uns Schweizer, unsere sogenannte Identität, brauchen wir Grenzen. Was Herr Blocher und alle, die die Geschichte für sich monopolisiert haben, nicht wissen wollen ist, dass die Schweiz ohne Asylsuchende gar nicht hätte gegründet werden können. Ich meine die moderne Schweiz von 1848. Sowohl das Heerwesen wie das Bildungswesen war in hohem Maße ein Gemeinschaftsprodukt mit demokratischen Flüchtlingen aus allen Ländern Europas.
    Das Plakat zeigt einen schwarzen Apfelbaum, dessen Wurzeln das Land Schweiz erdrücken. Daneben steht "Masslosigkeit schadet! Masseneinwanderung stoppen Ja"
    Ein Plakat der Schweizerischen Volkspartei (SVP) gegen "Masseneinwanderung" (picture alliance / dpa / Foto: Thomas Burmeister)
    "Merkel imponierend und vorbildlich"
    Fischer: Nun hat man schon vor fünf Jahren, Herr Muschg, von einem Rechtsruck in der Schweiz gesprochen. Wir haben im Moment in Bezug auf die Kölner Silvesternacht und auf die Debatte um die Flüchtlinge ein ähnliches Problem, wobei das eine mit dem anderen kaum etwas zu tun hat. Wie kann man als vernunftbegabter Mensch diesen moralischen role back, sage ich mal, reflektieren?
    Muschg: Es geht schon darum, jetzt Farbe zu bekennen. Entweder sind die Errungenschaften der verschiedenen bürgerlichen Revolutionen, der amerikanischen, der französischen, auch derjenigen, die in Deutschland nach Hitler stattgefunden hat, entweder sind sie haltbar verpflichtend, oder sie sind etwas, was man über Bord wirft, wenn es einem etwas kostet. Dass sie verhandelbar sein müssen, liegt in der Natur der Sache. Wir sind keine perfekten Wesen und Deutschland ist kein unbegrenztes Land. Die Schweiz ist es noch viel weniger. Die richtige Form der Verhandlung zu finden, das, was Ihre Bundeskanzlerin heute für mich imponierend und wirklich vorbildlich, auch europäisch vorbildlich probiert, das ist jedem Einzelnen von uns aufgegeben, und dass wir jetzt in einem Test sind, bei dem nicht die Schweiz allein, sondern tatsächlich die Humanität auf dem Spiel steht, wie viel darf sie uns kosten, das ist das Neue, und das muss auch die Schweiz lernen, nicht nur die übrige Welt.
    Fischer: Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg über den "dringenden Aufruf" zur Abwehr der SVP-Durchsetzungsinitiative.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.