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Abschied auf Rezept
Mit Pillen gegen den Sog des Alkohols

Wir verstehen immer besser, was im Kopf von Alkoholikern passiert. Jetzt erproben Ärzte neue Medikamente, die den Weg aus der Sucht erleichtern sollen. Doch hilft das wirklich?

Von Anneke Meyer | 07.02.2016
Ein Mann trinkt aus einer Flasche Whisky.
Ein Mann trinkt aus einer Flasche Whisky. (picture alliance / ZB)
Hörtipp: Abschied auf Rezept. Mit Pillen gegen Alkohol - 7. Feb - 16:30 Uhr
Jeder zehnte Deutsche trinkt mehr als gut für ihn ist. Einer von 60 ist schwer alkoholabhängig. Trotzdem versuchen nur knapp zehn Prozent der Betroffenen, aktiv aus der Sucht auszubrechen. Alkohol verändert das Gehirn, das erklärt, warum es den Betroffenen so schwerfällt, von der Flasche loszukommen. Medikamente können einige der Veränderungen ausgleichen und so dabei helfen, abstinent zu bleiben oder wenigstens weniger zu trinken. Noch ist die Wirksamkeit der verfügbaren Mittel begrenzt. Doch Ärzte und Wissenschaftler testen immer neue Medikamente, mit besseren Wirkspektren und weniger Nebenwirkung. Inzwischen wächst die Hoffnung auf weitere und wirksamere Bausteine für die Therapie.

Das Manusprkipt zur Sendung:
"Das hat mich unglaublich locker gemacht. Ich war in der Lage mit Mädchen, mit jungen Frauen zu sprechen. Die Wirkung war einfach phänomenal!"
Seit Jahrhunderten bewährt als soziales Schmiermittel.
"Ich hatte eine harte Kindheit. Ziemlich strenge Eltern und immer ein bisschen Druck und immer ein bisschen Druck. Da hat sich das dann aufgestaut."
Im Einsatz auch als universaler Seelentröster. "Ich hab dann halt ein, zwei Bier getrunken und die gewünschte Wirkung trat nicht ein ... Hab dann halt noch mehr getrunken und irgendwann ging's dann wieder. "
Und das Suchtmittel Numero eins. Jeder 10. Deutsche trinkt mehr als seiner Gesundheit guttut. Über drei Millionen Deutsche vernachlässigen Freunde, Familie, Beruf. Und sorgen stattdessen dafür, dass der Pegel stimmt.
"So bin ich in den Alkohol reingerutscht. Ich hab die Gefahr einfach nicht erkannt irgendwie."
Alkoholiker sterben 20 Jahre früher als der Durchschnitt. Die Chancen von einem Krebsleiden zu genesen sind höher als die eines Trinkers, dauerhaft trocken zu werden.
"Es gibt keine Krankheit, wo in den letzten 70/80 Jahren keine Therapie-Entwicklung stattgefunden hat - warum nicht beim Alkoholismus auch?"
Abschied auf Rezept: Mit Pillen gegen den Sog des Alkohols
von Anneke Meyer
"Jetzt könntste mal einen trinken. Fährst du jetzt weg und holst was? Dann ist der Druck eigentlich schon da. Der Gedanke an Alkohol baut schon den Suchtdruck auf – ich fahr jetzt weg und hol mir was. Fährst du, fährst du nicht? Biste im Auto."
Hans Georg rührt seinen Kaffee um. Über 30 Jahre seines Lebens hat der Alkohol ihn begleitet. Das letzte Mal, dass er ins Auto gestiegen ist, um Schnaps zu besorgen, ist über ein Jahr her. Seitdem ist er trocken.
Das kleine Café erinnert an den Gemeinschaftsraum eines Schullandheimes. Auf den Buchen-Furnier-Tischen zwischen Kerzen und Weihnachtsmännern Teller mit Keksmischungen. Im Nebenzimmer betreibt Cornelia Weigel eine Substitutions-Praxis. Immer öfter aber sitzen im Café des Suchthilfezentrums Gießen zwischen den Junkies auch Alkoholiker wie Hans-Georg. Sie kommen wegen eines Medikaments, das angeblich die Lust am Trinken verdirbt: Baclofen.
"Meine Tochter hat im Internet über das Baclofen gelesen. Ich hab mir dann so meine Gedanken gemacht. Das Baclofen ist ja nicht offiziell ein Medikament. Wo bekomme ich das her? Da hat meine Tochter im Internet mal gesehen: Das kann man hier, Sucht – da gehen wir mal hin."
Baclofen ist offiziell zugelassen zur Behandlung von Muskelverspannungen bei Multipler Sklerose. Cornelia Weigel verschreibt es als eine von wenigen niedergelassenen Ärzten in Deutschland auch an Alkoholiker. "Offlabel", also zweckfremd.
"Wir klären die Patienten auf und die unterschreiben einen individuellen Heilversuch. Das ist natürlich jetzt im Ernstfall ein juristisches Feigenblatt, aber das ist das, womit ich praktisch versuche, mich zu schützen. Ich bin aber von der Harmlosigkeit des Medikamentes so überzeugt und auch von der Wirksamkeit, dass ich das einfach so tue."
Wenn es ruhiger wird und das Café schließt, geht die Sprechstunde der Ärztin am Telefon weiter. Längst nicht alle ihrer Patienten leben in der Nähe. Sie kommen aus ganz Deutschland. Oft haben sie mehr als eine Therapie hinter sich, besuchen Selbsthilfegruppen - und verfallen doch wieder in alte Gewohnheiten.
"Ich weiß noch das Datum, 6. August. Der Anlass war damals: Meine Frau kam in eine Kur, die hatte einen Unfall gehabt, einen Arbeitsunfall. Ich war allein zu Hause, da war es passiert."
Die Grenzen der Therapie
Statt seiner Frau spricht der Alkohol ihm Trost zu. Nach zwei Wochen ist Hans Georg wieder bei einer Flasche Schnaps pro Tag. Mit Unterstützung der Familie schafft er den nächsten Entzug. Doch die Unruhe, der Drang, zu trinken, bleibt. Bis Cornelia Weigel ihm die Rückfallprophylaxe in Tablettenform verschreibt.
"Und die ersten zwei drei Wochen war da gar nichts - da hab ich immer noch die Gedanken an Alkohol gehabt und dann hat sich das auf einmal eingespielt. Ich will nicht sagen, dass das Medikament alleine der Auslöser ist. Ich bin mittlerweile soweit – der Alkohol kommt ja nicht zu einem, man geht ja zum Alkohol."
Nach einem Entzug mit anschließender Therapie werden mehr als die Hälfte innerhalb eines Jahres rückfällig. Wer es nach der ersten Therapie nicht schafft, für den wird es immer schwerer. Können Pillen dort weiterhelfen, wo Psychotherapie und soziale Unterstützung an ihre Grenzen stoßen?
"Man muss sehen, dass das Gebiet der Behandlung von Suchtpatienten über viele, viele Jahre nicht etwas war, wo sich junge Ärzte dafür erwärmen konnten. Das hat dazu geführt, dass viele Entwöhnungskliniken dann von Psychologen geleitet wurden. Psychologen dürfen aber keine Medikamente verordnen und das hat dazu geführt, dass rein psychologische Methoden eindeutig favorisiert wurden."
Karl Mann hat viele Jahre damit verbracht, Abhängigkeit zu untersuchen. Als er vor fünfzehn Jahren auf den ersten Lehrstuhl für Suchtforschung in Deutschland berufen wurde, galt Alkoholismus als Charakterschwäche. Die Forschungsergebnisse des letzten Jahrzehnts stellen eine andere Diagnose:
"Wir wissen eben, dass es ein Stück weit könnte man sagen Schicksal auch ist, ob jemand alkoholabhängig wird oder nicht. Eben aufgrund seiner genetisch bedingten Risikofaktoren und seiner möglicherweise auch sozial bedingten Risikofaktoren. Dass es also nichts mehr mit Willen zu tun hat und erst recht nicht mit Charakterschwäche."
Eine Krankheit, ähnlich wie Schizophrenie oder Depressionen. Eine Krankheit für die es immer mehr Behandlungsoptionen gibt, je besser sie verstanden wird.
Entgiftung allein reicht nicht
Alkohol verstärkt die hemmende Wirkung des Botenstoffes GABA. Zum Ausgleich wird der erregende Botenstoff Glutamat hoch-, das dämpfende GABA heruntergeregelt. Die Folge ist ein Gewöhnungseffekt: Das Gehirn verträgt zwar immer mehr Alkohol, es braucht ihn aber auch, um überhaupt funktionieren zu können. Fehlen die Promille, kommt es zu Zittern, Schwitzen, Angst, bis hin zu Halluzinationen. Entzugserscheinungen.
"Also diese Wiedereinrichtung des normalen Equilibriums zwischen den beiden Polen, die dauert Monate. Das heißt, mit einer reinen Entgiftung, die in der Regel früher nur fünf, sechs Tage gedauert hat, ist es damit nicht getan. Dann sind zwar die Entzugserscheinungen abgeklungen aber die Dysbalance ist immer noch da."
Nach einer Entgiftung allein liegt die Rückfallquote über 90 Prozent. Moderne Entzugsprogramme versuchen deshalb die Patienten direkt in mehrmonatige Therapieprogramme oder Selbsthilfegruppen zu vermitteln, die den kritischen Zeitraum überbrücken.
"Das Irre ist, wenn man dann denkt, jetzt hilft nur noch Alkohol. So nur ein Schluck, ein Flachmann oder zwei. Morgen höre ich wieder auf. Dann hat man das alles vergessen."
Rüdiger, 63 Jahre. Zehn Jahre hing er an der Flasche. 15 Jahre war er trocken. Seit seinem Rückfall vor drei Jahren trinkt er schlimmer als je zuvor.
"Dieses ganze Elend, was da hintendran hängt. Der Entzug, wieder in die Klinik und ich krieg nichts mehr hin und fall nur noch um. Das ist weg. Es ist so, als würd's nicht mehr existieren."
Zehn Mal hat er das dieses Jahr mitgemacht. Von einem Flachmann auf zwei Flaschen Wodka in drei Tagen. Fünf Tage in der Entgiftung. Keine zwei Wochen draußen. Alles von vorne.
"Man erinnert sich nur noch an die gute Wirkung und den ganzen Rattenschwanz - der existiert nicht. Und das ist völlig paradox. So funktioniert irgendwie das Hirn. Nur das Schöne. Das Schlechte ist weg."
Schuld am Blackout ist das Belohnungssystem. Der Teil unseres Gehirns, der uns hilft zu lernen, wie wir bekommen, was uns beim Überleben hilft. Wann es uns gut geht. Seine Botschaften vermittelt es mithilfe einer Signalsubstanz, dem Dopamin. Karl Mann:
"Die angenehmen Wirkungen des Alkohols kann man darauf unter anderem zurückführen, dass die Dopaminspiegel ansteigen und die vermitteln dieses Gefühl von Entspanntheit, von Belohnung."
Das Belohnungssystem merkt sich, wann wir uns gut gefühlt haben. Sobald es sich an eine solche Situation erinnert fühlt, sorgt es dafür, dass wir genau das wieder tun, was ursprünglich das Wohlbefinden verursacht hat.
"In die Nähe der ehemaligen Kneipe zu kommen, oder ein Anruf von einem Freund, einem Kumpel mit dem früher getrunken wurde - das kann wieder zu einer solchen momentanen Dysbalance führen, die dann ein unglaublich starkes Verlangen nach Alkohol auslöst, was dann sehr sehr häufig zum Rückfall führt."
Pille gegen die Sucht
Drei Wirkstoffe sind in Deutschland derzeit zur Behandlung von Alkoholismus zugelassen. Zwei davon sollen helfen, nach einem Entzug abstinent zu bleiben: Acamprosat und Naltrexon. Acamprosat bremst das erregende Glutamat aus und unterstützt so das Erregungsgleichgewicht. Naltrexon beeinflusst über einen Hintereingang das Belohnungssystem.
"Bei den Medikamenten haben wir es natürlich immer auch mit Nebenwirkungen zu tun, wo dann abgewogen werden muss: Ist die Wirkung selber so viel höher einzuschätzen, dass Nebenwirkungen in Kauf genommen werden können?"
Gerade Naltrexon ist problematisch, weil es die Leber schädigt. Für die meisten Alkoholiker ein Ausschlusskriterium. Verdauungsprobleme und Schlafstörungen können bei beiden Wirkstoffen auftreten. Unangenehme, aber relativ harmlose Nebenwirkungen, die Betroffene durchaus auf sich nehmen, wenn sie merken, dass das Präparat hilft. Das ist nicht bei jedem der Fall:
"Also ich hab die Erfahrung gemacht, wenn der Gedanke da ist 'ich trink jetzt' dann hilft auch kein Medikament mehr. Dann ist die Entscheidung schon gefallen. Dann lauf ich vielleicht noch zehn Mal ums weiße Häuschen. Aber beim elften Mal hol ich mir es."
Einer von 12 bleibt dank Acamprosat länger als ein Jahr nach Therapieentlassung trocken. Bei Naltrexon ist es nur einer von 20.
"Die Medikamente, die es derzeit auf dem Markt gibt, haben nicht den großen Effekt, den man sich erhofft hat", fasst Pia Steensland vom Karolinska Institut in Stockholm zusammen.
Kein Wunder, dass Forscher weltweit auf der Suche nach neuen Substanzen sind. In Chile wird an einem "Impfstoff" gegen Alkohol geforscht. In den USA wird die ernüchternde Wirkung eines natürlichen Pflanzenstoffs geprüft. In Groß-Britannien sucht der ehemalige Regierungsberater David Nutt einen Alkohol, der betrunken aber nicht abhängig macht. Und Pia Steensland möchte das Belohnungssystem immunisieren:
Angriff aufs Belohnungssystem
"Ich hatte die Idee schon 2009. Da war ich Postdoc in den USA und hörte von dieser Substanz: OSU 6162. Es reguliert die Dopamin-Konzentration im Gehirn, und zwar – und das ist sehr besonders – in beide Richtungen. Ist der Dopaminspiegel zu hoch, kann er durch OSU 6162 gesenkt werden und umgekehrt. Dopamin als Botenstoff des Belohnungssystems ist ja stark verknüpft mit Alkoholabhängigkeit. Da dachte ich – das könnte ein gutes Medikament gegen Alkoholsucht sein."
Pia Steensland testet die Idee im Tiermodell - und seit Kurzem in einer ersten Pilotstudie mit Menschen. Tatsächlich schmeckt Mann und Maus der Alkohol nur noch halb so gut wie einer Vergleichsgruppe, die ein Placebo bekommt. Auch das Verlangen, immer weiter zu trinken ist geringer.
"Sowohl im Tierversuch als auch in der klinischen Studie haben wir gute Erfolge gehabt. Wir haben voll ins Schwarze getroffen. Die Studien zeigen, dass das Prinzip funktioniert. Das ist super toll."
Anders als die bekannten Suchtdruck-Bremser oder Neuroleptika, die zur Behandlung von Schizophrenie eingesetzt werden, scheint die Substanz von Pia Steensland kaum Nebenwirkungen zu haben. Genau wie bei den anderen Medikamenten ist aber die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie nicht jedem hilft.
"Am Schluss haben wir die Wirkung getrennt für Versuchspersonen mit hoher und niedriger Impulsivität betrachtet. Das ist eine Eigenschaft, die stark an Sucht gekoppelt ist. Je weniger Kontrolle Menschen über ihr spontanes Handeln haben, desto schlechter können sie widerstehen. Und was wir gefunden haben, ist, dass genau diese impulsiven Menschen am besten auf die Substanz ansprechen."
Ob und wie viele Menschen von einem direkten Eingriff ins Belohnungssystem tatsächlich profitieren, müssen Zeit und mehr Studien zeigen. Von der ersten klinischen Studie bis zur Zulassung eines Medikaments vergehen schnell 10 Jahre. Zeit, die nicht alle Alkoholabhängigen für gut investiert halten. Längst nicht jeder wartet auf die pharmakologische Krücke.
"Naja also aus heutiger Sicht würde ich natürlich sagen, das wäre wie meiner Unehrlichkeit ein kleines Zuckerl geben. ... um dann, was man nicht wahrhaben will, dann wieder hier zu landen."
Hier, das ist eine Suchtstation vor den Toren Frankfurts.
"Hallo. Ich zeige einmal kurz die Station."
Haus Altkönig auf dem Gelände der Klinik Hohemark.
"Und ich erzähle das dann immer gerne bei den Meetings: Hier gab es drei Handtücher, aber ich wollte dann noch ein viertes haben. Dieses: Es ist nie genug, was für mich als Suchtmensch. Das war doch ein Zimmer. Nein, da war ich dann Patient."
Ein kleines Zweibettzimmer. Vom Fenster aus kann man den winterlichen Wald sehen. Viele Male war Martin hier, um zu entgiften. Am Kiosk unweit der Klinik hat er sich oft sofort nach der Entlassung das erste Bier gekauft.
"Ich hatte mittags noch was getrunken und hatte auch noch Bier zuhause und dann hab ich mich aber einfach nur ins Bett gelegt, weil ich nicht mehr konnte. Eine Mischung aus körperlichem absoluten Nicht-Mehr-Können -fix und fertig sein, als auch eine seelische einfach - ich kann nicht mehr. Ich gehe vor die Hunde. Also mit dem Rücken zur Wand stehen."
Er ist ganz unten angekommen. Will nicht mehr. Kann nur noch im Selbstmord eine Perspektive erkennen.
"Die Anonymen Alkoholiker glauben, und ich glaube das mittlerweile auch, dass jeder seinen Tiefpunkt, seinen individuellen Tiefpunkt erreichen muss, der wohlgemerkt für jeden anders aussieht."
Reduziertes Trinken als Therapie
Für Martin ist die Kapitulation der Schlüssel, um vom Alkohol loszukommen. Die Voraussetzung dafür, dass er es schafft, jeden Tag aufs Neue mit dem Vorsatz zu beginnen, nicht zu trinken. Seit vier Jahren. Ein harter Weg. Für viele zu hart. Immer mehr Ärzte halten es inzwischen für sinnvoll, die Ziele nicht ganz so hochzustecken: Schadensminimierung durch weniger Alkohol statt Abstinenz.
Seit Anfang 2015 ist "reduziertes Trinken" als neues Therapieziel in die Leitlinien aufgenommen worden. Nalmefene ist das erste Medikament, das ausdrücklich dabei unterstützen soll, weniger Alkohol zu konsumieren.
"Mensch Herr Doktor, was haben Sie mir denn da verschrieben, ich muss mich ja jetzt richtig anstrengen, um noch ein Bier zu trinken. Das heißt, es macht keinen Spaß mehr. Genau dieser Mechanismus scheint da zu greifen."

Genau wie Naltrexon wirkt auch Nalmefene indirekt auf das Belohnungssystem. Es verhindert trunkenes Glück und Entspannung, indem es Opiatrezeptoren blockiert. Weil der Alkohol nicht mehr die gleiche Wirkung hat, hören Abhängige schneller auf. Die Trinkmenge reduziert sich dabei im Mittel auf 45 Prozent des ursprünglichen Konsums. Unter Placebo werden immerhin 60 Prozent erreicht.
"Der Unterschied zwischen Nalmefene und Placebo ist nicht riesig. Und der Punkt wird mit Recht kritisiert - das ist eine Einschränkung letztendlich. Aber man vergisst dabei, dass wir unter Praxis-Bedingungen keine Placebo-Bedingungen haben."
Um weniger zu trinken braucht man nicht zwangsläufig Nalmefene. Es geht aber besser mit, meint der Suchtforscher Karl Mann. Dass Medikamente eine sinnvolle Unterstützung sind, davon ist auch Ärztin Cornelia Weigel überzeugt. Für sie ist Nalmefene allerdings nicht der beste Kandidat:
"Das Prinzip ist, dass schon länger auf dem Markt befindliche Medikamente mit weniger Wirksamkeit durch die Pharmaindustrie sehr viel mehr protegiert werden. Beim Baclofen ist die Number to Treat zwei, das heißt, Sie müssen zwei Patienten behandeln, damit einer profitiert. Beim Nalmefene ist das Verhältnis eins zu fünf! Und das ist für mich einfach ein Riesenunterschied."
Für etablierte Suchtforscher aber kein Grund ungeprüften Verschreibungen Tür und Tor zu öffnen.
"Es kann sein, dass das hilft, aber wir müssen es erst genauso prüfen, wie jedes andere Medikament auch. Es kann ja sein, dass es schädlich ist. Das Problem ist, dass wenn das in so hohen Dosen gegeben wird, das natürlich selber wieder ein Abhängigkeitspotenzial hat."
Cornelia Weigel verschreibt Baclofen sowohl zum Abstinenzerhalt, als auch für eine Trinkmengenreduktion und macht damit gute Erfahrungen. Vorgesehen ist das nicht.
"Die etablierte Suchtmedizin sagt einfach, das ist zu riskant. Wir haben keine Studien. Und wir warten. Es gibt nur kleinere randomisierte Studien, doppelblind, und das entspricht einfach nicht den Anforderungen", zumindest nicht für eine Zulassung in Deutschland. In anderen Ländern sieht das anders aus.
MS-Medikament für Trinker in Frankreich
Vierter Stock eines Mietshauses in der Rue Lecourbe. Aus den Fenstern der kleinen Praxis blickt man auf die belebte Straße. Im Erdgeschoss genau gegenüber befindet sich eine Apotheke.
"Es war so. Eine Patientin kam zu mir und sagte: Können Sie mir 30 Tabletten Baclofen verschreiben? Pro Tag? Und ich meinte: Nein! Auf keinen Fall. Ich fragte sie also, warum sie das wollte. Und sie gab mir das Buch von Oliver Ameisen."
Oliver Ameisen, Arzt und Alkoholiker heilte sich selber mithilfe von Baclofen. Sein Buch löste in Frankreich einen regelrechten Hype aus. Seit dem Erscheinen 2008 hat sich der Absatz von Baclofen mehr als verzehnfacht.
"Es waren also die Patienten, die in Frankreich das Ganze angestoßen haben. So wie bei AIDS. Auch da haben die Patienten nach Behandlung verlangt und nicht die Ärzte."
Zugelassen ursprünglich für Multiple Sklerose hat Baclofen auch einen stabilisierenden Einfluss auf das Gleichgewicht der Botenstoffe. Darüber hinaus verhindert es die Ausschüttung von belohnendem Dopamin durch Alkohol.
Phillipe Jaury ist Hausarzt. Er behandelt die Beschwerden, mit denen die Leute zu ihm kommen. Ob das Diabetes oder Alkoholsucht ist, macht für ihn in der Sache keinen Unterschied.
"Am Anfang war ich der Einzige. Ich bin für verrückt erklärt worden, weil ich Off-Label verschrieben habe und dann noch so hohe Dosen. Anfangs war es schwer."
Bei Multipler Sklerose beträgt die Dosis zwischen zehn und maximal 75 Milligramm täglich. Phillipe Jaury verschreibt schon mal 300 Milligramm, um den Suchtdruck zu zügeln.
Die kleine Apotheke gegenüber hat schon lange aufgehört, wegen der hohen Verordnungsmengen Probleme zu machen. Im März 2014 hat auch die französische Arzneimittelbehörde dem Drängen der Ärzte, Patienten und Medien nachgegeben und eine zeitweilige Zulassung von Baclofen zur Behandlung von Alkoholismus für drei Jahre ausgesprochen. Eine Tagesdosis kostet um die drei Euro. Die Kosten übernimmt die Kasse.
"Wir können Baclofen verschreiben, aber wir müssen jeden einzelnen Patienten dokumentieren. Das geht nur für 20 Prozent meiner Patienten. Die Ausschlusskriterien sind zu eng. Wenn jemand Kokain nimmt oder depressiv ist, fällt er raus. Deshalb sind nur etwa 7.000 Patienten in dieser Datenbank dokumentiert."
Basierend auf den Verkaufszahlen geht Phillipe Jaury davon aus, dass tatsächlich zwischen 50 und 100.000 Alkoholiker mit Baclofen versorgt werden. Ob es noch mehr werden, hängt von den Ergebnissen der zwei großen Zulassungsstudien ab. Phillipe Jaury leitet eine davon:
"Wir haben alle zwischen 18 und 65 in die Studie genommen, solange sie ein Alkoholproblem hatten. Es ist eine pragmatische Studie. Ohne Ausschlusskriterien. Antidepressiva, Neuroleptika – haben wir alles drin. Das ist der Unterschied zu anderen Studien. Es sind echte Patienten."
Endgültige Ergebnisse liegen noch nicht vor. Doch aufgrund der Erfahrung mit den Patienten in seiner Praxis hat der Arzt wenig Zweifel, dass sie am Ende überzeugen werden.
"Nach drei Jahren Behandlung ging es 61 Prozent meiner Patienten gut. Nicht alle waren abstinent, aber 89 der 146 Patienten waren entweder abstinent oder tranken in einem vertretbaren Maß."
30 bis 40 Tabletten pro Tag
Das deckt sich mit den Zahlen einer kleinen placebo-kontrollierten Studie, die an der Charité in Berlin durchgeführt wurde. Hier blieben über 70 Prozent nach vorherigem Entzug unter Baclofen abstinent. In der Placebogruppe schafften das nur gute 20 Prozent. Sollten die französischen Groß-Studien zu ähnlichen Ergebnissen führen, könnte das zu einer Zulassung auch außerhalb Frankreichs führen.
"Uns fehlt die Tablette in hoher Dosierung. Weil es nun einmal schwierig ist, 30, 40 Pillen am Tag zu schlucken. Und vielleicht auch eine Behandlung mit weniger Nebenwirkungen. Aber es ist ein Anfang."
"Der Suchtdruck verschwindet. In dem Moment ergibt sich eine ganz andere Handlungsfreiheit."
"Wir müssen begreifen, dass es eine Krankheit ist, die auch so behandelt werden muss. Weniger Stigmatisierung und mehr Aufklärung, das ist wichtig."
Nur zehn Prozent der Alkoholabhängigen sind in Behandlung. Zum Vergleich: Bei Heroinabhängigen sind es 50 Prozent. Bis ein Alkoholabhängiger das erste Mal in Kontakt mit dem Hilfssystem kommt, vergehen im Schnitt zehn Jahre.
"Stellen sie sich mal vor, zwischen einer Krebsdiagnose und der ersten Behandlung würden zehn Jahre liegen! Das zeigt, wie grotesk und wie schwierig die Situation im Alkoholbereich ist."
Im Bruch mit dem Abstinenz-Dogma geht Cornelia Weigel einen guten Schritt auf die Patienten zu:
"Weil zunächst der Gedanke an die lebenslange Abstinenz eine große Hürde darstellt. Und wenn ich die jetzt erst mal nicht so hoch ansiedele, es erleichtert den Einstieg."
Viele ihrer Baclofen-Patienten bleiben nach einiger Zeit abstinent. Erst mit, dann oft auch ohne Medikament. Sie können erkennen, dass der Alkohol ihnen mehr Ärger als Freude bereitet. Auch Nalmefene kann eine gute Durchhaltehilfe sein. Karl Mann hofft, dass die neuen Strategie nicht nur die Hemmschwelle der Trinker herabsetzt, sondern auch die ihrer Ärzte.
"Ich denke das ist eine enorme Chance. Diese große Behandlungslücke ... Zehn Prozent bekommen eine spezifische Behandlung... 90 Prozent bekommen nichts! Dass wir das ändern, indem der Hausarzt das Gefühl bekommt, Mensch da ist doch was, das können wir geben, das können wir mal probieren! Da komm ich in Gespräch mit dem Patienten, da gucken wir mal: Geht's gut, gehts nicht gut, dann hat man aber einen Kontakt hergestellt und dann gehen wir den nächsten Schritt."
"Wir glauben nicht, dass ein Medikament die schnelle Lösung ist. Aber wir glauben, dass es eine große Hilfe sein kann. Wenn wir dafür sorgen können, dass der Suchtdruck nachlässt, dann hilft das der Person, durchzuatmen und den Boden unter die Füße zu bekommen, den er für eine Therapie braucht."
"Also man braucht sicherlich beides. Und das Zusammenspiel von beidem ist letztendlich sicherlich am aussichtsreichsten."
"Ich kann nur jedem raten oder empfehlen oder, sich sozusagen die Offenheit zu verschaffen, dass man sagt, ja es ist irgendwie möglich, da raus zu kommen. Es bedarf Disziplin, morgens auf die Knie zu gehen und für einen trockenen Tag zu beten."
"Tödlich wär für mich gewesen, hätte meine Frau sich getrennt, wären die Kinder nicht mehr gekommen. Das hätte mir das Genick gebrochen."
"Man muss an so einen Punkt kommen, wo man will. Und auch bereit ist Hilfe an zu nehmen. Und dann hat man die Chance, dass man es schaffen kann."