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Abschied von der Heimat

Ende des 19. Jahrhunderts emigrierten Millionen Europäer nach Argentinien, auch der italienische Schriftsteller Antonio Dal Masetto. Im neuen Buch lässt er seine Protagonistin Agata, die schon in seinem ersten Buch erzählte, wieder in ihre Heimat zurückkehren - nach 40 Jahren.

Von Eva Karnofsky | 04.11.2010
    Zwei Tage nach ihrem achtzigsten Geburtstag, wir schreiben das Jahr 1993, steht Agatas Entschluss fest: Sie wird nach Italien fahren, nach Tarni, in ihr Dorf, das sie vor vierzig Jahren auf der Flucht vor dem II. Weltkrieg verlassen hat. Seitdem lebt sie in Argentinien. Sie hat hart gearbeitet und ihre Kinder großgezogen, dann kamen die Enkel, ihr Mann starb, und so hat nie die Zeit für die Reise gereicht, für die sie seit zwanzig Jahren einen Teil ihrer Rente beiseitegelegt hat. Agata bereitet sich gut vor. Sie lässt ihre Enkelin nach ihren Erinnerungen einen genauen Plan von Tarni zeichnen, einen Plan mit dem Ufer des Lago Maggiore und dem Dorfplatz, mit der Kneipe, in der die Faschisten ihren Vater zusammengeschlagen hatten, und mit ihrem Haus.

    "Je näher die Abreise rückte, desto mehr hatte sie die Vorstellung gequält, alles könnte sich völlig verändert haben, und zwar so sehr, dass sie bei ihrer Rückkehr kaum etwas von dem vorfinden würde, was sie zurückgelassen hatte. Sie fürchtete, dass dieses neue Gesicht, das sie mit Sicherheit erwartete, sich ihr einprägen und die Bilder überlagern würde, die sie über all die Jahre behalten hatte. Der Plan war für sie eine kleine Sicherheit, sie nicht zu vergessen."

    Autor Antonio Dal Masetto und seine Familie haben wie Millionen Argentinier ihre Heimat hinter sich gelassen. Meist sah man das Herkunftsland erst nach vielen Jahren wieder. Dal Masetto konnte also, als er in seinem Roman Als wärs ein fremdes Land in die Rolle des allwissenden Erzählers schlüpfte, der Agatas Reise und deren Vorbereitungen aus der Rückschau schildert, auf persönliche Erlebnisse, aber auch auf kollektive Empfindungen zurückgreifen. Die liegen in Argentinien förmlich in der Luft.

    Man spürt die Nähe des Autors zum Thema, denn er modelliert Agatas Beobachtungen, Gedanken und Gefühle höchst detailgenau und glaubwürdig, ohne Übertreibungen oder Gefühlsduselei. Seine Sprache ist gelassen, und gelassen gibt sich auch seine Protagonistin. Zumindest äußerlich lässt sie sich nicht aus der Fassung bringen, selbst wenn sie innerlich aufgewühlt ist. Dal Masetto zeichnet sie liebevoll und in sich schlüssig als eine zurückhaltende, aber durchaus selbstbewusste Frau, die man getrost als altersweise bezeichnen darf.

    Italien empfängt Agata keineswegs freundlich. Die Nichte will viel Geld dafür, dass sie Agata beherbergt, und Rineta, die Schwester ihres verstorbenen Mannes, macht ihr bittere Vorwürfe:

    "'Es ist sinnlos, jetzt zurückzukommen, da ist nichts wiedergutzumachen.'
    'Wiedergutzumachen?' 'Ihr habt euch eingeschifft und diejenigen, die hiergeblieben sind, vergessen.' Vor Überraschung wusste Agata nicht, was sie sagen sollte, und wartete ab. 'So ist das, Menschen gehen weg, und aus den Augen aus dem Sinn", fuhr Rineta fort.
    'Ich verstehe nicht", sagte Agata. 'Von euch habe ich nie Unterstützung bekommen, die Schulden meines Vaters und die ganzen Kosten musste ich allein tragen, meine Brüder sind nach Südamerika gegangen und haben uns völlig im Stich gelassen.'"


    Distanz zerstört selbst familiäre Bindungen, weil die Menschen nichts mehr voneinander wissen und sich verändern, das ist eine der Kernaussagen des Romans. Agata sieht sich dort, wo sie ihre Wurzeln hat, auf sich allein gestellt, als Besucherin, die sich von anderen Touristen nur durch das Gepäck ihrer Erinnerungen unterscheidet. Aber Agata spürt auch, dass sie für die Entfremdung mitverantwortlich ist, und gelegentlich fühlt sie sich denn auch fast als Verräterin.

    "Als wärs ein fremdes Land" ist jedoch keineswegs ein pessimistisches Buch, denn in der Veränderung, so Dal Masettos Credo, liegt immer auch eine Chance, zumindest dann, wenn man wie Agata offen für Neues ist: Der Zufall führt sie mit Silvana zusammen. Gemeinsam mit der jungen Frau erkundet Agata nun das Dorf und seine Umgebung. Die feinfühlige Schilderung des Austausches zwischen den beiden Frauen, des behutsamen Wachsens ihrer Freundschaft und des sich Ergänzens zweier Generationen macht über weite Strecken den Reiz des Romans aus. Agata gibt ihre Erinnerungen an das Tarni von früher an die Jüngere weiter und durch Silvana erfährt Agata, was die Menschen in Tarni heute bewegt. Auf einem ihrer Ausflüge nimmt Silvana Agata mit zum Fußballturnier der Dorfmannschaft, denn wer aus Tarni stammt, so erklärt man ihr, darf das Spiel gegen den Erzrivalen nicht verpassen.

    "Agata blickte auf das noch leere Spielfeld, den gepflegten Rasen und dachte daran, was dieser Ort für sie bedeutet hatte, als die Deutschen ihn mit ihren Panzern und Kanonen besetzt hatten. Für das Dorf war das die schlimmste Zeit gewesen, mit den Durchsuchungen, den Erschießungen, den Schulen, die als Gefängnisse dienten, voller Männer, die später nach Deutschland deportiert wurden."

    Im Fernsehen sieht sie einen Bericht über Neonazis in Deutschland, Spanien und Italien, die wieder Menschen ermorden. Agata spürt eine wohlvertraute, schmerzhafte Empörung:

    "Sie kam von weit her, von früher, als sie noch in Tarni gelebt hatte. Jetzt war sie auf einmal wieder da, unerwartet und heftig und zugespitzt in der Frage, die nicht aufhörte, in ihrem Kopf zu dröhnen: Was passiert nur?"

    Damals traf es in Europa Antifaschisten, heute Einwanderer oder Obdachlose. Bis in die Abgeschiedenheit der argentinischen Provinz des Jahres 1993 drangen solche Nachrichten nur selten. In der Einwanderungsgesellschaft idealisiert man angesichts politischer und wirtschaftlicher Misere bis heute gern die alte europäische Heimat, doch dazu, so sieht es Dal Masetto in seinem Roman, besteht kaum Anlass.

    Besonders wichtig war es Agata, das Haus zu sehen, das sie vor vierzig Jahren verlassen hat und dass in ihrer Erinnerung immer noch ihr gehörte. Als sie dann davor steht, wird ihr bewusst, dass sie es nun, da sie sieht, dass andere es bewohnen, auch in ihrer Erinnerung verliert. Wieder fühlt sie sich als Verräterin, die das Haus im Stich gelassen hat. Doch schnell wird ihr klar, dass das Haus nur für die ihr nahestehenden Menschen steht, die es einmal bewohnt haben, für Geburten, Todesfälle, Kummer oder die Angst der Kriegsjahre. Und die Erinnerungen daran bleiben.

    Es schmerzt Agata, dass sie Tarni ein zweites Mal verlassen muss und ihre Freundschaft zu Silvana hinter sich lässt, weil die Ihren in Argentinien auf sie warten. Der Roman "Als wärs ein fremdes Land" versteht eines sehr eindringlich zu vermitteln, und das macht ihn besonders lesenswert: Es sind vor allem Menschen, die Heimat ausmachen.

    Antonio Dal Masetto: "Als wärs ein fremdes Land", Rotpunktverlag, Zürich 2010, 300 S., 21,50 Euro.