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Absoluter Geist trifft auf Körperlichkeit

"Unübersetzbar" hieß es lange, wenn die Rede auf eines der Hauptwerke des 2004 gestorbenen französischen Philosophen Jacques Derrida kam. "Glas", so der Titel im Original, erschien zuerst vor über dreißig Jahren. Mit der Übersetzung, die Hans-Dieter Gondek und Markus Sedlaczek nun im Fink Verlag vorgelegt haben, steht "Glas" nun auch deutschen Lesern zur Verfügung.

Von Guido Graf | 12.11.2007
    Eine Art, Jacques Derridas "Glas" von 1974 zu beschreiben, wäre die Buchgestalt in Augenschein zu nehmen.
    Ein quadratisches Format, 25 mal 25 Zentimeter. Die großen quadratischen Seiten weisen zwei Spalten auf, beide gleich breit, aber in der linken Spalte ist die Schrift kleiner und dichter gedruckt, in der rechten dagegen größer und weiter.
    Blättert man umher in diesem eigenartigen Buch des berühmtesten und einflussreichsten französischen Philosophen der Gegenwart, stößt man bald auf eine dritte Schrifttype, kleiner noch als die anderen beiden, in Passagen, die bisweilen in die beiden Hauptstränge des Textes hineinschneiden. Derrida bezeichnet diese Text-Einwürfe als "Judas-Text", verräterische Einblicke wie aus einem Hinterhalt.
    Keine Fußnoten, keine Kapiteleinteilungen, kein Inhaltsverzeichnis. Beide Spalten - vielleicht könnte man sie auch als Abspaltungen von etwas anderem betrachten, das außerhalb des Buches liegt - beide Spalten also scheinen mitten im Satz zu beginnen und hören 289 Seiten später auch ohne Punkt wieder auf.
    Und was passiert auf diesen Seiten, die mehr einem Tableau ähneln, eher einem gewaltigen Tafelbild als einem philosophischen Werk? Offensichtlich ist, dass vieles gleichzeitig abläuft, man könnte auch sagen, gleich gültig ist. Zu viel, als dass man mehr als nur kleine Teile beschreiben könnte. "Glas" demonstriert auf jeder Seite das Grenzenlose und Bedingungslose von Texten, ihre Empfänglichkeit für unwahrscheinlichste, für gänzlich unerwartete Fügungen.
    Unbarmherzig wird auf der linken Seite Hegels Dialektik des Absoluten Geistes verfolgt. Wäre dieser Absolute Geist ein Spiegel, ließe sich - so zumindest legt es Derrida nahe - als Vexierbild das Werk Jean Genets darin wieder erkennen, das entsprechend liebevoll auf der rechten Seite von "Glas" auseinander genommen wird. Die Kraft des Negativen, welche in der linken Spalte die Dialektik zu immer höherer Synthese treibt, wird ständig geschmälert durch die Verherrlichung des Kriminellen aus der Unterschicht, der ausführlich in der rechten Spalte zu Wort kommt. Es ist diese zweispaltige Bewegung hin und her, auf und ab, nicht der Reihe nach, doch immer zur gleichen Zeit, die Derrida bis in ihre paradoxesten Konsequenzen für die Dialektik der Vernunft verfolgt.
    Mit welchem Gewinn das geschieht, beantwortet "Glas" selbst nie explizit, auch hat Jacques Derrida auf derartige Fragen - wie etwa: "Warum gerade Hegel und Genet?" - nie mit einer "einfachen" Antwort pariert. Vielmehr hat er darauf verwiesen, dass "Glas" diese und ähnliche Fragen - "Was passiert eigentlich zwischen Texten?" - selbst thematisiert.
    Man könnte die beiden Spalten von "Glas" auch als die beiden Seiten der unendlichen Fläche des Möbiusbandes verstehen. Der Anfang, der kein Anfang ist, und das Ende, das kein Ende hat, finden im Thema der Erschöpfung, der Trauer zusammen.
    Aber Trauer worüber? Vermutlich darüber, dass es so eine Fläche als Ganzes, das Ganze überhaupt nicht oder zumindest nicht mehr gibt, dass Hegels Ideal des absoluten Geistes nur noch in den Scherben, in den Trümmern einer Geschichte wie der von Jean Genet zu finden ist. Dem System der Dialektik wird die Totenglocke geläutet.
    Beispielhaft führt Derrida seine Dekonstruktion des Idealen am Thema der Familie aus. Er beobachtet wie Hegel die Geschlechterdifferenz diskutiert, Fragen der Ehe und der Liebe, präpariert Hegels rhetorische Strategien, um sie dann mit Genets, von Fragen der Sexualität bestimmten Werk kurzzuschließen.
    "Es ist immer die Logik des Zeichens," sagte Derrida einmal in einem Interview, "deren Grenzen es zu erkennen gilt." "Glas" setzt diese Grenzen in Szene, parodiert sie, bringt sie sprachspielerisch ins Wanken, um zu einer umfassenden Neubearbeitung unseres Verständnisses von Zeichen aufzufordern.
    Das ist ein philosophisches Problem, 1974 aber, als "Glas" erschien, war das auch ein politisches. Genet hatte ein Jahr bei Palästinensern in Beirut verbracht und darüber ein umfangreiches Buch geschrieben: "Ein verliebter Gefangener". Derrida sagte damals, dass ihm bei dem Gedanken, Genet könnte sein Buch "Glas" lesen, nicht ganz wohl sei. Sie standen in Kontakt, Genet hat Derrida von seiner Zeit in Beirut erzählt und Derrida wusste, sagte er, dass das, was ihn interessiert, gerade dort seinen Ort hat. Für ihn sei die alles entscheidende Frage aber, wie er das zeigen soll.

    Anlass für Derridas Hegellektüre in "Glas" ist Hegels Instanz des absoluten Geistes, die Verkörperung des reinen Logozentrismus. Im absoluten Geist, in diesem idealen, göttlichen Zustand findet keinerlei Kommunikation mehr statt, um Zeichen zu vermitteln und zu deuten. Der Geist oder Logos ist nur ganz bei sich selbst, spricht nur mit sich selbst und hört auch sich ganz allein. Göttliche Unmittelbarkeit, in der Hegel die christliche Dreieinigkeit aus Vater, Sohn und heiligem Geist aufgehoben sieht. Dieser Familiengeschichte läutet Derrida in "Glas" die Totenglocke der Dekonstruktion.
    Im Wort "Glas" selbst wird dieses Unternehmen sinnfällig. "Glas" bedeutet im Französischen "Totenglocke", aber auch "Artilleriesalve". Die Herkunft des Wortes ist auf das lateinische "classis" zurückzuführen, was "Abteilung, Klassifizierung" bedeutet, auf "classicum" für "Trompetenstoß" und "classum" für "Lärm". Hegels System wird zum Einsturz gebracht und zugleich auf diesen Trümmern ein Grabmal errichtet. Die Totenglocke Derridas kündet nicht nur ein Ende, sondern auch einen Neuanfang an.
    Was bleibt von Hegel übrig, nachdem er sich im Äther des absoluten Wissens verflüchtigt hat? Um diese Frage zu beantworten, interpretiert Derrida Hegels Philosophie der Familie, seinen Begriff von "Liebe". Hegels Beziehung zu seiner ihn über alle Maßen liebenden Schwester Christiane, der er mit großer Distanz begegnete, spielt hier eine wichtige Rolle und die - wie Derrida erklärt - davon abhängige Bestimmung der Rolle der Frau in der Gesellschaft. In der Frau sieht Hegel die "Grenze der Vernünftigkeit" verkörpert. Überschreitet sie diese Grenze, bedroht sie die ja von ihr erst geschaffenen Grundlagen der Gesellschaft.
    Gleichzeitig schließt Hegel aus seinem Gottesbegriff, der absoluten Spitze seines philosophischen Systems, die Mutter Jesu aus, die Mutterrolle überhaupt, und lässt nur noch Vater und Sohn übrig. Derrida nun offenbart Hegels Umgang mit seiner Familiengeschichte als spekulative Grundlage seiner Philosophie. In dem Maß, in dem Hegel die Familiengeschichte auf eine Vater-Sohn-Abfolge reduziert, die Frau aus der Vernunft ausschließt, reduziert er alles, was an Natur im Denken überhaupt je vorhanden war. Heraus kommt ein denaturiertes und endzeitlichtes Präparat, das für die eine absolute Wahrheit zuständig sein soll. Die zerstörerische Wirkung eben dieses Präparats offen zulegen, kann man als ein wesentliches Anliegen von "Glas" betrachten.
    Indem er Hegel in der anderen Spalte von "Glas" den Dieb und Homosexuellen Jean Genet gegenüber stellt, holt Derrida die ausgeschlossene Natur und Sexualität in ihrer provokativsten Form zurück. Genets Werke werden diskutiert, die literarische Bedeutung von Eigennamen und Signaturen untersucht, die Strukturen des "double bind" ebenso und immer wieder geht es um Beziehungen zwischen Wörtern, die durch lautliche Ähnlichkeit oder Etymologie miteinander verbunden sind.

    Dem erhabenen Hegel wird der obszöne Genet gegenübergestellt, dem Geist das unbedingt Körperliche. Die konsequente Sinnentleerung von Familie, Sexualität und Gesellschaft, die für Derrida Jean Genet in seinem Werk betreibt, wird dem um absolute Reinheit bemühten Wahrheitspräparat Hegels entgegen gesetzt. Indem Derrida das Thema der Sexualität in den Texten von Hegel und Genet in einem poetischen wie auch im philosophischen Sinn entfaltet, macht er für den umherirrenden Leser beide komplexe Textwelten transparent.

    Jacques Derrida: "Glas". Wilhelm Fink Verlag, 320 Seiten. Aus dem Französischen von Hans-Dieter Gondek und Markus Sedlaczek. 49,90 Euro.