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Absturz in der Ukraine
"Ein hochkomplexes Flugabwehrsystem"

Wer die Rakete abfeuerte, die aller Voraussicht nach das Passagierflugzeug über der Ost-Ukraine getroffen hat, dürfte vorerst unklar bleiben. Wahrscheinlich ist jedoch, dass das Geschütz sehr komplex ist - eigentlich keine Technik für einen Bürgerkrieg.

Von Thomas Wiegold | 18.07.2014
    Der zivile Airliner mit seinen 298 Passagieren flog seinen angemeldeten Kurs in zehn Kilometern Höhe, weit oberhalb der Auseinandersetzungen am Boden. Aber nicht hoch genug für moderne Flugabwehrsysteme, die für den Luftkrieg entwickelt wurden: Sie sollen feindliche Flugzeuge, aber auch Raketen oder Marschflugkörper abschießen, ehe sie das eigene Gebiet erreichen. Keine Technik für einen Bürgerkrieg, aber offensichtlich im Osten der Ukraine im Einsatz. Frage an Otfried Nassauer, den Leiter des Berliner Informationszentrums für transatlantische Sicherheit: Um was für ein System handelt es sich eigentlich?
    "Die Vermutung ist, dass es ein sowjetisches Flugabwehrsystem namens Buk oder SA-17 gewesen ist, dieses System ist ein hochkomplexes Flugabwehrsystem, das ein eigenes Suchradar, ein eigenes Feuerleitradar hat und auch mit einer Freund-Feind-Kennung ausgestattet ist. Und insofern eigentlich in den Bestand großer staatlicher Armeen gehört, die solche Systeme für die Bekämpfung von Zielen sowohl in niedrigen Flughöhen als auch in ganz hohen Flughöhen haben."
    Doch wer den Abschussknopf für die tödliche Rakete drückte, dürfte vorerst unklar bleiben. Denn solche Systeme gehören ins Arsenal der ukrainischen Streitkräfte ebenso wie der russischen. Und eben möglicherweise inzwischen auch zur Ausrüstung der pro-russischen Separatisten.
    Ebenso offen bleibt vorerst, warum das zivile Passagierflugzeug auf seiner Transitroute überhaupt ins Visier der Raketenbatterie geriet.
    MH17 hätte als Passagierflugzeug erkannt werden müssen
    Eine mögliche Erklärung ist, dass nicht das komplette Buk-Flugabwehrsystem eingesetzt wurde. Denn zur Luftverteidigung, die Streitkräfte in einem Krieg nutzen, gehört eine aufwendige Infrastruktur. Zum Beispiel mit einem Radar zur Luftraumüberwachung, das nicht nur ein einzelnes Flugzeug erfasst, sondern alle Flugbewegungen. Und bei zivilen Airlinern auch den vorgeschriebenen Transponder auswertet, einen automatischen Sender mit allen Angaben zu diesem Flug. Mit einem solchen sogenannten Luftlagebild hätte MH17 als das erkannt werden müssen, was es ist: ein harmloses Passagierflugzeug.
    Solch eine komplette Luftraumüberwachung hat ein einzelnes Raketen-Abschussgerät dagegen nicht, wie es vermutlich in der Hand der Separatisten ist. Aber ein Zielradar, das die Rakete steuert – was auch immer das Ziel sein mag, ob Kampfjet oder Ferienflieger.
    Aber warum geriet das Flugzeug überhaupt ins Visier? Und wer sind diese Separatisten, die möglicherweise dahinter stecken? Margarete Klein, Regionalexpertin der Stiftung Wissenschaft und Politik:
    "Wir hatten zu Beginn des Konflikts feststellen können, dass es primär lokale Kräfte waren, aus dem Osten der Ukraine. Aber seit einigen Wochen stellen wir fest, dass vermehrt Kämpfer und Freiwillige, also Söldner und Kämpfer, aus Russland einfließen. Das sind sowohl ethnische Russen, Kosaken, als auch Tschetschenen, Osseten, Armenier, also sehr gemischt. Die werden in Moskau und in den südlichen Regionen Russlands rekrutiert und dann ausgebildet und kommen dann über die Grenze mit Waffen auch in den Osten der Ukraine. So kann man schon davon ausgehen, dass es eine ganze Reihe an Leuten gibt, die auch mit so einem hochkomplexen System umgehen können. Das wäre also kein Ausschlusskriterium, dass es nicht die Separatisten gewesen sein könnten."
    Doch welchen Grund haben die Separatisten in der Ost-Ukraine, eine solche Waffe einsetzen? Dazu Margarete Klein:
    "Sie hätten schon eine Motivation, wenn sie davon ausgehen, dass sie kein ziviles Flugzeug abschießen, sondern ein ukrainisches Militärflugzeug. Denn die Anti-Terror-Operation Kiews hat ja in den letzten Tagen durchaus Erfolge gezeigt. Die Separatisten sind verdrängt worden aus Slawjansk, aus anderen Gebieten, hin nach Donezk, wo sie sich jetzt eigentlich zurückgezogen hatten. Also, sie sind in der Defensive und sind schon daran interessiert, Flugzeuge abzuschießen, wie sie es ja auch in der Vergangenheit schon getan hatten."
    Viele, zu viele Fragen bleiben noch offen. Ob und wann sie beantwortet werden, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob unabhängige Experten Zugang zu allen Informationen und ungehinderten Zugang zum Absturzort bekommen. Und der im Kampfgebiet.