Freitag, 19. April 2024

Archiv


Absurditäten des Liebeskampfes

Zwei Männer, die derselben Frau verfallen. Diese Konstellation hat Schriftsteller und Leser immer wieder fasziniert. Eine aktuelle Variante legt der französische Romancier Patrick Lapeyre mit "Das Leben ist kurz und voller Begierden" vor. Der Roman wurde 2010 mit dem Prix Fémina ausgezeichnet.

Von Christoph Vormweg | 22.05.2012
    Liebeskonstellationen wiederholen sich – im Leben wie in der Literatur. Je älter der Leser, desto größer die Gefahr des Déjà-vu, also der Langeweile. Patrick Lapeyre ist sich dessen vollauf bewusst. Deshalb begnügt er sich in seinem Roman "Das Leben ist kurz und voller Begierden" nicht mit Nabelschau. Im Gegenteil. Ein Subtext mit literaturgeschichtlichen Anspielungen ist immer präsent: sei es auf Henri Pierre Rochés Kultroman "Jules und Jim" oder auf Ray Bradburys "Mars-Chroniken". Patrick Lapeyres Hauptinspirationsquelle jedoch ist der 1731 erschienene Roman von Abbé Prévost über die verführerische Manon Lescaut. "Liebe! Liebe!", ruft darin ein Polizeidirektor aus, "Wirst du es denn nie lernen, mit der Vernunft zusammenzugehen?" Mit den beiden Männern in Patrick Lapeyres Roman, dem Londoner Börsenmakler Murphy und dem Pariser Übersetzer Louis, ist es ähnlich. Ihr Hirn ist machtlos gegen die Anziehungskräfte der schönen Nora. Beiden trichtert sie ihre Grundregel ein: "Wenn wir zusammen sind, gibt es die anderen nicht." Nora fordert absolute Hingabe. Für Louis gibt es da allerdings ein Problem. Er ist verheiratet: mit der Kunsthistorikerin Sabine, die ihn finanziell weitgehend aushält. Deshalb zögert er.

    "Wenn er auch in der Vergangenheit ein paar Mal vom rechten Weg abgekommen ist, dann nur im Kopf. Nichts, was Konsequenzen gehabt hätte. Doch zur gleichen Zeit, während [Nora und er] gemeinsam die Straße hinuntergehen, ist er sich durchaus bewusst, dass er nicht ewig zwischen der Angst vor der Untreue und der Depression in der Treue hin und her pendeln kann – denn in einer solchen Situation gibt es keine Normalität mehr."

    Doch da ist Louis längst in Noras Verführungsnetz verfangen – genauso wie Murphy, und – wie wir später erfahren - vor den beiden viele andere, auch Frauen. Nora verkörpert das Geheimnis der "Femme fatale". Kühl und distanziert seziert Patrick Lapeyre die Choreografien der Euphorie, des Liebeswahns, der Eifersucht, des Selbstbetrugs – und das mit einem trocken-lakonischen, zuweilen auch schwarzen, sarkastischen Humor. Die Psyche der Männer mit ihren Abgründen, Verlogenheiten und Larmoyanzen ist ihm dabei bestens vertraut. Louis jedenfalls vollzieht den Ehebruch. Nichts kann ihn zurückhalten.

    "[Er] ist nach Hause gegangen. Er hat sich seiner Frau zu Füßen geworfen und ein volles Geständnis abgelegt. Zum Glück ist sie nicht da. Für ihn ist es ganz sicher besser so. Er geht die Treppe hoch und setzt sich an den Schreibtisch, um seine Übersetzung fertigzustellen – fast zehn Tage nach Abgabedatum. Doch während er versucht, sich zu konzentrieren, die Augen starr auf den Bildschirm gerichtet, kommt ihm plötzlich der Gedanke, dass er Nora vielleicht nie wiedersehen wird, und legt seine Entscheidungsfähigkeit lahm.
    Er bleibt bei jedem Wort hängen."


    Der reiche Murphy in London erträgt Noras Wechselspiele zumindest äußerlich mit mehr Fassung. Doch wenn sie wieder einmal spurlos verschwindet, gibt es auch für ihn nur eins: warten und hoffen, dass es ein nächstes Mal gibt. So pendeln wir als Leser zwischen London und Paris hin und her, zwischen Börsenmaklerszene und Eheendzeitdrama, zwischen Phasen sexueller Erfüllung und rüden Liebesentzugs. Da sich Murphy und Louis in den Phasen des Verlassenseins immer wieder auf die Suche nach Nora begeben, rücken auch starke Nebenfiguren in den Blick: in London Noras Jugendfreundin Vicky, die ihr selbst verfallen war, in Paris der exaltierte, reiche Homosexuelle Leonard Tannenbaum, in Südfrankreich Louis' Eltern, die in permanentem Ehekrieg leben. Patrick Lapeyre vervielfacht so die Perspektiven auf den uferlosen Stoff der Begierden. Mit Moral jedenfalls – das führt uns der Roman ein ums andere Mal vor – ist dem Dilemma nicht beizukommen. Denn wer die aufreizende Nora als selbstsüchtige, hinterlistige Männerfresserin an den Pranger stellt, lässt außer acht, dass Murphy und Louis ohne die Begegnung mit ihr wohl nie Leidenschaft erlebt hätten.

    "Er wacht plötzlich auf und glaubt, Nora liege zusammengerollt neben ihm. Im Zimmer ist es noch dunkel. Murphy streckt also seinen Arm quer über das Bett wie ein Amputierter auf der Suche nach seinem fehlenden Körperteil, doch er ertastet nichts als kalte Bettwäsche.
    Trotzdem hält das Gefühl ihrer Anwesenheit noch für einige Sekunden an wie eine Sinnestäuschung, die er nicht abschütteln kann. Noras Besuche haben vor einigen Wochen wieder begonnen, immer zur gleichen Zeit in den frühen Morgenstunden, gegen fünf oder sechs Uhr, verbunden mit den gleichen Gefühlsausbrüchen, dem gleichen kardiologischen Übermut – was wieder einmal zeigt, dass wir elektrochemische Maschinen sind -, auf die ebenso regelmäßig eine brutale, deprimierende Dämpfung folgt."


    Von Anfang an steuert der eingängig erzählte, sehr unterhaltsame Roman "Das Leben ist kurz und voller Begierden" auf den Showdown zu: die Begegnung von Murphy und Louis. Doch spielt Patrick Lapeyre gerade im Finale gekonnt und augenzwinkernd mit den Erwartungshaltungen des Lesers. Denn die Suche nach Gewissheit bleibt eine Sisyphussuche – sinnigerweise auch für Nora. In seiner Offenheit, seiner differenzierten, oft ironisch gebrochenen Darstellung der ewigen Absurditäten des Liebeskampfes braucht sich Patrick Lapeyre jedenfalls nicht vor seinen literarischen Vorbildern zu verstecken.

    Patrick Lapeyre: Das Leben ist kurz und voller Begierden.
    Roman. Aus dem Französischen von Dietlind Falk
    Blessing Verlag, München 2011. 288 Seiten, 19,95 Euro.