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Abtransport ohne Wiederkehr

Fast 200 Jahre lang siedelten deutsche Kolonisten an der unteren Wolga - bis Stalin die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen im August 1941 auflösen ließ. Als so genannte Arbeitsarmee wurden die Siedler nach Sibirien und Zentralasien geschickt. Tausende kamen dabei ums Leben.

Von Reiner Tosstorff | 28.08.2006
    "Laut verlässlichen Informationen (…) gibt es unter der deutschen Bevölkerung im Wolgagebiet Tausende und Zehntausende Diversanten und Spione, die auf ein Signal aus Deutschland in dem von den Wolgadeutschen bewohnten Gebiet Sabotageakte durchführen sollen. (…) Um unerwünschte Vorkommnisse dieser Art zu vermeiden und schweres Blutvergießen zu verhindern, hat das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR es für notwendig befunden, die gesamte wolgadeutsche Bevölkerung in andere Gebiete umzusiedeln, jedoch mit der Zusicherung, dass den Umsiedlern Land zugeteilt wird und dass sie vom Staat bei der Niederlassung in anderen Gebieten Unterstützung erhalten wird."

    Mit dieser Behauptung zog die Regierung Stalins am 28. August 1941 einen Schlussstrich unter fast 200 Jahre Siedlungsgeschichte der Deutschen an der unteren Wolga. Begonnen hatte sie, als die Zarin Katharina II., selbst deutscher Abstammung, im Jahre 1763 einen Ukas zur Anwerbung von Kolonisten in ihrer alten Heimat erließ. Man brauchte Menschen für die den Tataren in langen Kämpfen abgerungenen Steppengebiete am damaligen Rand des russischen Reichs.

    "Wenn Wir die Ausdehnung der Länder unseres Kaisertums in Betracht ziehen, so finden Wir unter anderem die vorteilhaftesten, nützlichsten Gegenden zur Besiedlung und Bewohnung durch das menschliche Geschlecht, welche bis jetzt noch brach bleiben."

    Dies stieß im Deutschland des zu Ende gehenden Siebenjährigen Kriegs auf offene Ohren und so zogen in den nächsten Jahren etwa 20.000 Menschen, zumeist aus Hessen oder Süddeutschland, an die Wolga. Die Urbarmachung dieser Gebiete mit ausgeprägtem Klimagegensatz erfolgte unter großen Anstrengungen und mit nicht wenigen Opfern. Doch Ende des 19. Jahrhunderts war daraus eine Bevölkerung von mehreren Hunderttausend geworden.

    Dann verschlechterten sich die politischen Rahmenbedingungen. Sonderrechte wurden aufgehoben, Russifizierungsmaßnahmen setzten ein. Bedrohlich wurde es nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Wolgadeutschen galten als "fünfte Kolonne" des deutschen Heers. Eine Aussiedlung nach Sibirien wurde vorbereitet. Dem kam der Ausbruch der Revolution zuvor.

    Die Respektierung ihrer nationalen Rechte führte ab 1918 zu einem Modus Vivendi der Wolgadeutschen mit dem neuen Sowjetstaat. Als einer der ersten nichtrussischen Nationalitäten wurde ihnen Autonomie zugestanden. Ihre Sowjetrepublik war für die Bolschewiki auch so etwas wie ein Schaufenster in Richtung auf die von ihnen so umworbene Weimarer Republik.

    "Das Interesse an der Wolgarepublik als einem autonomen Staatsgebilde wächst im Westen, und von den Werktätigen der Wolgarepublik selbst sowie von ihren Leitern hängt es ab, die Republik zu einer wirklich vorbildlichen Bauernrepublik zu machen, in der die aus dem Westen kommenden Bauerndelegationen auf jedem Schritt den Beweis der Überlegenheit und der Vorteile des Sowjetsystems auch für das kultivierte Bauerntum finden","

    schrieb 1926 ein führender wolgadeutscher Kommunist. Doch drei Jahre später folgte die Zwangskollektivierung der Bauern. Das deutschsprachige Schulsystem wurde zurückgedrängt. Ab 1936 fielen zahlreiche Funktionäre als angebliche "bürgerliche Nationalisten" dem stalinistischen Terror zum Opfer. Und als Nazi-Deutschland die Sowjetunion überfiel, wurden die Wolgadeutschen wie zuvor von der Regierung des Zaren gleich unter Generalverdacht gestellt. Auf die Auflösung ihrer Republik folgte die Verschickung der Bevölkerung als so genannte Arbeitsarmee nach Sibirien und Zentralasien.

    ""Die mangelhafte Versorgung, die primitiven Lebensbedingungen in den Unterkünften, die rücksichtslose Ausbeutung ihrer Arbeitskraft und der allgemeine Terror, dem sie von seiten der Bewachungsmannschaften und teilweise auch der Zivilbevölkerung ausgesetzt waren, forderten mehrere Hunderttausend Opfer; die genaue Zahl wird wohl nie ermittelt werden können."

    So beschreiben es die Historiker Peter Hilkes und Gerd Stricker in ihrer Geschichte der Russlanddeutschen.

    Ab 1955 begann eine langsame Rehabilitierung. Doch Hoffnungen auf Rückkehr in die alten Siedlungsgebiete zerschlugen sich. Die dort inzwischen wohnende Bevölkerung wehrte sich heftig. Auch wieder aufgekommene Erwartungen beim Ende der Sowjetunion im Jahre 1991 ließen sich nicht verwirklichen. Der übergroße Teil der ehemaligen Wolgadeutschen wie auch aller übrigen Russlanddeutschen übersiedelte schließlich in die Bundesrepublik.