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Achilleus revisited

So ist Homers "Ilias" noch nie neu erzählt worden: "Die tapfersten der Söhne" ist nach fast zehn Jahren so etwas wie ein erzählerisches Comeback des berühmten australischen Schriftstellers David Malouf, dessen Werke auch hierzulande in den 90er Jahren gerne gelesen wurden.

Von Michael Schmitt | 21.08.2012
    Der Mensch ist ein Kämpfer, doch wenn er nicht kämpft, dann ist er ein Bauer, und die Erde ist sein Element. Ein Krieg sollte daher auch nur einige Wochen dauern, zwischen dem Austrieb der eigenen Herden im Frühjahr und der Erntezeit, wenn man die Äcker der Feinde in Brand setzen kann. So lautet die reine Lehre der Kriegsführung, so hat Achilleus, der fürchterlichste der Griechen vor Troja, das Handwerk gelernt. Im zehnten Jahr der Belagerung der Stadt aber gelten diese Regeln nicht mehr. Troja hat alles verändert, die Menschen, die in den Krieg gezogen sind, aber auch die Art, wie man einen Krieg führt. Die Ebene zwischen den Mauern der kleinasiatischen Stadt und dem Meer, wo die Griechen lagern, ist ein Ort wie die Felder um Verdun im Ersten Weltkrieg, von Materialschlachten gezeichnet; ein Ort des Schreckens ohne Ende, weshalb man auch an die unsymmetrischen Kriege der Gegenwart etwa in Afghanistan denken darf. Der Krieg um Troja ist, so gesehen, ein Krieg von heute; und seine größten Helden sind vor allem: ausgelaugt. Sie haben sich, wie Achilleus, über ein Jahrzehnt hin die Spannkraft einer Bogensehne bewahrt, aber der Krieg hat ihnen alles genommen: die teuersten Freunde, das Wissen um ihre fernen Frauen und ihre halbwüchsigen Söhne, um das Leben in der Heimat.

    So ist Homers "Ilias" noch nie neu erzählt worden, nicht von Gustav Schwab, nicht von Franz Fühmann. "Die tapfersten der Söhne" ist nach fast zehn Jahren so etwas wie ein erzählerisches Comeback des berühmten australischen Schriftstellers David Malouf, dessen Werke auch hierzulande in den 90er Jahren gerne gelesen wurden. Es ist ein schmaler Roman, übersetzt von Susanne Urban, und auf den ersten Blick kaum mehr als die Variation einer Episode aus dem letzten Gesang von Homers Epos, nämlich die der Begegnung des greisen Königs Priamos mit Achilleus im griechischen Feldlager. Um Maloufs Absichten aber einzuordnen, muss man sich die Hintergründe noch einmal vor Augen führen:


    Homer erzählt in der "Ilias" von Achilleus' Zorn auf die Griechen nach einem Streit um eine erbeutete Sklavin, von der Not der Griechen, nachdem Achilleus sich aus den Kämpfen zurückgezogen hat, und von der Rache für den Tod des Freundes Patroklos, der von Hektor, dem bedeutendsten der Krieger Trojas erschlagen wird, weil er anstelle von Achilleus in den Kampf zieht. Erst daraufhin besinnt sich Achilleus nämlich wieder, kehrt in die Schlacht zurück und tötet seinerseits den Hektor – aber statt die Leiche anschließend ehrenvoll zu behandeln, schändet er sie Tag für Tag wie ein Wahnsinniger, indem er sie an seinen Streitwagen kettet und sie über Steine und Dornen schleift. Die Trojaner, unter ihnen auch Priamos, der König und Vater Hektors, müssen das mit ansehen. Schließlich aber entscheidet sich Priamos dafür, mit einem einfachen Fuhrwerk voller Gold, aber nicht in seiner Funktion als König, sondern als leidender Vater, also ohne allen Pomp, von Mensch zu Mensch mit Achilleus über die Herausgabe der Leiche zu verhandeln.

    Bei Homer ergeht dieser Auftrag an Priamos von den Göttern, die elf Tage lang die Leiche Hektors vor Schaden geschützt haben – und auch Achilles wird von den Göttern gemahnt, dem Wunsch des alten Mannes nachzukommen. David Malouf akzentuiert alles anders, lässt die Götter weitgehend aus dem Spiel, lädt die Szenen statt dessen mit Psychologie auf, erfindet Nebenstränge, die sich auf alternative Überlieferungen stützen können, fügt aber auch frei erfundene Figuren hinzu. Vor allem aber macht er Priamos und nicht Achilleus zur Hauptfigur, wählt ihn zu seinem Helden, um der Frage nachzugehen, wie und mit welchen Auswirkungen "etwas Neues" in der Welt erreicht werden könnte – wofür in zum Mythos geronnenen Erzählungen kein Platz sein kann.

    Was geht einem alten Mann durch den Kopf, wenn er sich selbst nur mehr als Mensch und als Vater sehen möchte – und wenn er dann auch nur als Mensch und Vater dem Mörder seines Sohnes gegenüber tritt, gegen den Rat seiner verbliebenen Heerführer und Söhne? Wie reagiert Achilleus darauf, der seinerseits ahnt, dass auch sein eigener Tod nahe ist? Der an seinen eigenen greisen Vater denken muss – und an seinen eigenen Sohn, den er seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hat? David Malouf interessiert sich nicht für die Gemetzel auf den Feldern vor der Stadt, er beschreibt auch nicht im Detail wie Patroklos oder Hektor erschlagen werden – er konzentriert sich bei seinem Experiment ganz und gar darauf, wie Priamos für sich selbst die vielen Fragen, die er sich plötzlich stellen muss, neu beantwortet, und wie er in Achilleus dann einem gebrochenen Helden begegnet, der sich durch den überraschenden Gast und durch dessen unkonventionelles Auftreten beeindrucken lässt.

    Zugespitzt gesagt, treffen zwei psychisch erschöpfte Vertreter ausgebluteter, erstarrter Kulturen aufeinander. Priamos und Achilleus haben sich – jeder auf seine Weise – verzehrt für Aufgaben und Rollen, denen sie bis zum Schluss nicht werden entkommen können, die aber ihren ursprünglichen Sinn verloren haben. Indem sie das durchschauen, gewinnen sie die Stärke, einmal – und nur als Einzelne --ganz anders zu handeln. Aber vor allem schwächt sie das, macht sie zu melancholischen Figuren, die keinen Rückhalt mehr spüren, nicht in der Tradition und nicht in sich selbst. Sie werden in Frieden und in Ehren auseinandergehen, aber das Morden wird nicht enden, und beide werden sterben. Die letzten Tage beim Kampf um Troja werden denen gehören, die wie Neoptolemos, Sohn des Achilleus, gekommen sind, um Rache für den Tod ihrer Väter zu üben – ganz so, wie man es sie gelehrt hat. Es wird sein, als wäre nie ein neuer Gedanke möglich gewesen.

    Wie einen Exkurs fügt David Malouf seine Variation in das Homer'sche Epos ein – und lenkt am Ende auch alles wieder in den Rahmen der Überlieferung zurück. Was bleibt, ist ein fatalistischer Kommentar nach einem Jahrzehnt voller weltweit geführter und nicht enden wollender Kriege am Beginn unseres neuen Jahrtausends. Kein Roman der wilden Klagen, wie seinerzeit etwa Christa Wolfs "Kassandra", sondern ein Buch voll quälender Fragen zusammengepackt im handlichen Format einer literarischen Fingerübung.

    Literaturhinweis:
    David Malouf: Die tapfersten der Söhne, Deutsch von Susann Urban,Edition Weltlese in der Büchergilde Gutenberg, hg. v. Ilija Trojanow, März 2012, 224 Seiten, € 19,99.