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Achse des Bösen?

Am Ende bleiben die Helden. Für Susan Neiman zum Beispiel diejenigen, die am 11. September 2001 im Flugzeug gen Washington ahnten, dass auch sie Teil einer lebenden Bombe sein würden, wenn sie sich nicht gegen die Terroristen zur Wehr setzten. Überwältigen konnten sie ihre Entführer nicht, aber sie verhinderten Schlimmeres, indem sie die Passagiermaschine auf offenem Feld zum Absturz brachten. Sie wollten nicht "zum Werkzeug des Bösen" werden.

Von Nicola Balkenhol | 16.08.2004
    Sie bewiesen, dass Menschen frei sind und ihre Freiheit nutzen können, um eine Welt zu beeinflussen, von der wir fürchten, dass sie sich unserer Kontrolle entzieht. Theodizee ist das nicht. Es ist nicht einmal ein Trost - aber eine andere Hoffnung haben wir nicht.

    Das ist die Kernaussage des Buchs. Sie steht am Ende einer philosophiegeschichtlichen Untersuchung über das Böse, die mit der Aufklärung beginnt. Bei der Lektüre der Werke von Kant, Rousseau, Hegel, Nietzsche und anderen versucht Neiman Fragen zu klären wie: Hat die Vernunft gegen das Böse überhaupt eine Chance? Welche Handlungen oder etwa Ereignisse können wir als böse bezeichnen und warum? Hat das Böse einen Sinn? Wie kann man angesichts des Bösen leben? Lässt sich das Böse verstehen? Diese Sorte Fragen ist es, meint Neiman, auf die aufgeweckte 17-Jährige Antworten haben möchten, und dieses Interesse teilten sie mit den großen Philosophen:

    Die Fragen über das Böse bilden den Brückenschlag zwischen den Sinnfragen, die sich jeder denkende Mensch irgendwann im Leben stellt, und den kanonischen Texten der Philosophie.

    Bei der Beantwortung hilft ihrer Überzeugung nach die Erkenntnistheorie nicht weiter. Sie zu betreiben, sei zwar gut fürs fachinterne Renommee, bringe uns dem Kern des Problems aber nicht näher. Versuche etwa einer Definition des Bösen laufen laut Neiman Gefahr, sowohl einseitig als auch trivial zu sein. Auch will sie nicht der Frage nachgehen, wie moralische Urteile zu rechtfertigen seien. Sie befürchtet, dass dabei kaum mehr als Wortgeklingel herauskomme, jedenfalls Ablenkung vom Wesentlichen. Nein, es gibt ja das Böse, beharrt sie, und ‚wir’ hätten schließlich einen Begriff davon, den ‚wir’ auch durchaus teilten, also schauen ‚wir’ doch lieber, warum die moralischen Urteile, die ‚so offensichtlich gerechtfertigt’ seien, in der Vergangenheit missachtet worden seien. Neiman ist sich sicher: Auch ganz ohne Erkenntnistheorie könne die Philosophie moralische Richtlinien bieten, nämlich indem sie Klarheit anhand von Beispielen schaffe:

    Bei moralischen und ästhetischen Urteilen kommt es weniger darauf an, allgemeine Vorstellungen zu umreißen, als darauf, sie mit besonderen Erfahrungen zu verknüpfen. Die Beispiele in ‚Das Böse denken’ sind mit der Hoffnung verbunden, dass moralische Klarheit tatsächlich durch die philosophische Analyse bestimmter Ereignisse zu erzielen ist.

    Die Wahrnehmung dieser beispielhaften Ereignisse sei natürlich zeitabhängig – was das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 für seine Zeitgenossen bedeutete, lasse sich heute zwar nicht mehr nachempfinden, aber noch aufzeigen. Allgemeine, überzeitliche Prinzipien könnten aus der Betrachtung solcher Beispiele nicht abgeleitet werden, gibt Neiman gern zu. Das macht ihr aber nichts:

    … für meine Zwecke reicht, was wir haben. Da ich es für unmöglich halte, wesenhafte Eigenschaften des Bösen zu definieren, interessiert mich mehr, was das Böse uns antut.

    Bei der Lektüre der großen Philosophen sei ihr nicht nur aufgefallen, dass sich alle mit dem Problem des Bösen beschäftigten, was ja die Wichtigkeit des Themas bestätige, sondern es habe sich herausgestellt, dass sich das Thema als Ordnungsprinzip der Philosophiegeschichte ab dem 18. Jahrhundert anbiete. Es gehe ihr nicht um Ideengeschichte im traditionellen Sinne, betont Neiman, oder um die Untersuchung der "Überzeugungskraft konkurrierender Darlegungen". Sie möchte herausarbeiten, wie der Umgang mit dem Bösen die Menschen und ihre Ansichten in den vergangenen drei Jahrhunderten geprägt hat. "Eine andere Geschichte der Philosophie" habe sie ihr Buch im Untertitel genannt,

    weil seine Ziele ebenso anders sind wie sein Stil und seine Methode. Ein Ziel ist es, das Fach zu den wirklichen Ursprüngen philosophischen Fragens zurückzuführen.

    Mit "zurückführen" meint Neiman, die Philosophie von der ihrer Ansicht nach unfruchtbaren Untersuchung der "Beziehungen zwischen Sprache und Welt oder der Grundlagen der Erkenntnis" abzubringen. Sie wolle zeigen, dass diese Fragen den Kern des Denkens von Kant, Hume und Hegel weniger berührten, als bislang angenommen, und deshalb müsse die philosophische Landschaft nun anders betrachtet werden. Voraussetzungslos geht Neiman allerdings nicht an die Lektüre. Sie argumentiert explizit vom Standpunkt der Aufklärung aus, will an der Vernunft festhalten, vertritt liberale Grundsätze, bewertet die Menschenwürde als unantastbar und bestimmte Handlungen als unentschuldbar. Auch wenn sie die Methode der historischen Untersuchung gewählt habe, müsse dies nicht "dem Skeptizismus oder Relativismus in die Hände spielen". Die Menschen hätten nun mal ein Bedürfnis nach moralischer Klarheit, und das sei auch berechtigt. In einem Interview hebt Neiman den moralischen Fortschritt hervor, der zum Beispiel in der Ächtung und weitgehenden Abschaffung von öffentlichen Hinrichtungen zum Ausdruck komme:

    Leute, die meinen, so etwas tun zu können, sind einfach im Unrecht. Bei aller Vorsicht vor Eurozentrismus kann man schon ein paar Punkte nennen, die es verdient haben, universell verbreitet zu werden, auch wenn sie es noch nicht sind.

    Die Darstellung im Buch folgt nicht streng der Chronologie, obwohl sie mit der Rezeption des Erdbebens von Lissabon 1755 beginnt und mit derjenigen vom Massenmorden in Auschwitz endet. Sie unterteilt die von ihr betrachteten Denker in solche, die trotz "der scheußlichen Ordnung, die uns unsere Erfahrung präsentiert", doch noch Hoffnung auf eine "andere, bessere, gerechtere Ordnung" haben, und in solche, "die eine Realität jenseits der nackten Erscheinungen verneinen". Zur ersten Gruppe zählt Neiman unter anderen Leibnitz, Rousseau und Marx, zur zweiten Voltaire, Hume und Schopenhauer. Diese Unterscheidung liegt in Teilen quer zu der herkömmlichen, die Rationalisten und Empiristen voneinander trennt, in anderen Teilen gibt es Überschneidungen. Nietzsche und Freud sind ein eigenes Kapitel gewidmet, weil sie die Probleme der Vertreter beider Gruppen klar sähen und andere Auswege suchten.

    Das 20. Jahrhundert gehe mit Auschwitz über bis dahin geltende Vorstellungen des Bösen hinaus. Der Widerhall dessen, für das Auschwitz steht, findet sich unter anderem bei Horkheimer, Adorno und Hannah Arendt. Vor allem mit Hilfe von Arendt versucht Neiman, ihre Analyse voranzubringen. Arendt nämlich bestärkt Neiman in ihrer Ansicht, man müsse das Böse verstehen, um es bekämpfen zu können:

    Hört man auf, das Böse verstehen zu wollen, nimmt man sich im Denken wie in der Praxis jede Grundlage, dagegen anzukämpfen.

    Mussten die Passagiere des entführten Flugzeugs das Böse verstehen, um sich zur Wehr setzen zu können? Oder mussten sie nicht vielmehr allein die Absicht erkennen, die die Kidnapper verfolgten, nämlich die Maschine als Bombe zu benutzen? Reicht es in einem solchen Fall nicht, sich die Folgen einer Handlung klar zu machen und dann zu beschließen, diese Folgen auf keinen Fall tragen zu wollen? Ist dies nicht eine klassisch moralische Entscheidung, bei der ethische Grundsätze eine wichtigere Rolle spielten als das Verstehen des Bösen? An diesem Punkt wird deutlich, dass die Untersuchung von Beispielen nur wieder zu den grundlegenden Fragen zurückführt, zu deren Beantwortung die Beispiele ja gerade herangezogen werden sollten.

    Auch in anderer Hinsicht wird Neiman ihren Ambitionen nicht gerecht: Sie möchte ein breiteres als das Fachpublikum ansprechen. Das geht in mehreren Hinsichten schief, zumindest was die deutsche Ausgabe anbelangt. In der Übersetzung gibt es lästig viele sinnentstellende Komma-Fehler. Bei anderen Fehlern lässt sich nicht immer entscheiden, ob es sich um Druck- oder Grammatikfehler handelt. Während "der Begriff einer allgemeine Vorsehung" klar als Druckfehler erkennbar ist, handelt es sich in folgendem Beispiel eher um einen Grammatikfehler:

    Was er statt dessen braucht, ist ein perfekter Erzieher.

    Sehr oft treten Singular/Plural-Fehler auf:

    Hunger wurde ohne Arbeit und Mühe gestillt, Kinder ohne Schmerzen geboren.

    Auch Indikativ und Konjunktiv werden mehrfach falsch eingesetzt oder gebildet. All diese Fehler sind in ihrer Häufigkeit ärgerlich, verstellen aber nur selten den Sinn. Leider gilt das nicht für die sprachlichen Ungenauigkeiten: Da müssen wir uns nicht "groß über das natürliche Böse kümmern", und man fühlt sich einer "Aufgabe überhoben" - gemeint ist wahrscheinlich enthoben. Noch hinderlicher sind wiederholt auftretende unklare Bezüge:

    Weit davon entfernt, der Urheber von Sünde und Elend zu sein, versucht Gott vielmehr, es zu verhindern.

    Da hilft nur noch ein Blick in den Ursprungstext weiter. An einer anderen Stelle wird "theology" mit Theismus übersetzt – ist das wirklich gemeint? Rätsel über Rätsel. Warum, fragt man sich, hat das Lektorat von Suhrkamp bloß so viele Fehler und Ungereimtheiten durchgehen lassen? Das Buch sei wie üblich zweimal gegengelesen worden, beteuert die zuständige Lektorin. Und die Übertragung ins Deutsche sei in enger Abstimmung zwischen Übersetzerin und Autorin erfolgt. Und genau da liegt vielleicht das Problem: Susan Neiman hat lange in Deutschland gelebt und leitet das "Einstein Forum" in Potsdam. Wer sie in Interviews erlebt, weiß, dass sie recht gut, aber eben nicht perfekt Deutsch spricht. Möglicherweise entgehen Neiman sprachliche Feinheiten. So jedenfalls ließe sich auch manches schräge Bild erklären: die "Tiefe des Zufalls", das "Dickicht der Versuche" oder die "Vernunft, die über Kohlen geht".

    Zu viel gewollt. Auch den fachfremden Leser gewinnen, die Philosophie vom Kopf auf die Füße stellen, nach einem bisher vernachlässigten Ordnungsprinzip neu sortieren, moralische Maßstäbe herausarbeiten, um das Böse klar als solches zu erkennen und benennen in der Hoffnung, dass es uns nicht überrennt – die meisten Punkte für sich genommen wären schon ein umfangreiches Forschungsprogramm. Es bleibt eine riesige Materialfülle, mal erhellend aufbereitet, mal erschlagend. Das Resümee liest sich im Verhältnis zu all dem ganz klein: Es gibt Helden, die dem Bösen trotzen. Sie zeigen uns, was menschliche Freiheit bedeutet. Ihre nicht verallgemeinerbaren Taten eröffneten die Dimension Fortschritt und Hoffnung, die wir für das Verständnis der Welt und unsere Handlungen in ihr brauchten.

    Mit welchem Recht aber wollen wir unser Verständnis von Menschenwürde und seine Folgen für das Zusammenleben in der Welt durchsetzen? Was, wenn unsere Auffassungen über ‚das Böse’ und die unserer Widersacher zu unseren Ungunsten auseinander gehen? Woran sollen wir uns halten, wenn wir blitzschnell entscheiden müssen, ob wir, unseren sicheren Tod vor Augen, andere retten müssten? Vorhang zu und alle Fragen offen.