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Adolf Muschg
Polemiker und ruhender Geist

Der Schweizer Adolf Muschg gilt als der bedeutendste Intellektuelle unserer Zeit. 1994 wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. "Im Erlebensfall" heißt sein neustes Werk. Darin behandelt er Tagesaktuelles wie Grundsätzliches, von der Leitkultur über den Karikaturenstreit bis zum Toleranzbegriff.

Von Martin Ebel | 06.05.2014
    Der damalige Präsident der Akademie der Künste, Adolf Muschg, aufgenommen während der Pressekonferenz am Freitag (20.05.2005) in Berlin.
    Der ehemalige Präsident der Akademie der Künste, Adolf Muschg, veröffentlicht nun - vor allem nach seiner Amtszeit entstandene - Essays. (picture alliance / dpa / Stephanie Plick)
    Adolf Muschg ist der bedeutendste lebende Intellektuelle der Schweiz: Dem Satz werden viele zustimmen, Nichtschweizer sowieso, die gar nicht viele andere Intellektuelle kennen. Dass er auch der bedeutendste Schriftsteller seines Landes sei: Dieser Satz wird schon mehr Widerspruch ernten. Nicht nur, weil die Konkurrenz auf diesem Gebiet größer ist – von Bichsel über Hürlimann und Stamm bis zu Markus Werner. Auch und mehr noch, weil gerade die intellektuelle Brillanz des Denkers Muschg dem Welten- und Menschenschöpfer gleichen Namens im Wege zu stehen scheint.
    Seit fast fünfzig Jahren, seit seinem ersten Roman "Albissers Grund", hat er eine Vielzahl von Erzählwerken vorgelegt, darunter die monumentale Parzival-Aneignung "Der rote Ritter", zuletzt die Romane "Kinderhochzeit", "Sax" und "Löwenstern", dazu einige Erzählbände. Immerhin ist er der bislang letzte Schweizer, der den Büchner-Preis erhielt; mehr Ehre ist nicht möglich in der Literaturwelt. Und dennoch! Muschgs belletristische Prosa funkelt zwar unausgesetzt, sie bestrickt den Leser durch komplexe Bezüge und Verknüpfungen, durch Anspielungsreichtum und überraschende Volten, erst recht durch sprachliche Raffinesse.
    Aber zur vollständigen Beglückung, wie sie die Lektüre einiger, weniger Landsleute verschafft, fehlt Muschgs Erzählprosa etwas. Oder vielmehr: Sie hat zuviel davon. Ausgeklügelt, nicht erfunden wirkt sie vielfach, belastet durch allzu viel Einfälle, die aus den konzeptionellen, nicht den intuitiven Hirnregionen kommen. Können Romane zu intelligent sein? Die von Adolf Muschg zeigen: Sie können.
    Für Reflexionsprosa, also für Essays, Aufsätze und Reden, gilt dies freilich nicht. Und so ist es ein Glück, auch für den Rezensenten, dass zum heutigen 80. Geburtstag Adolf Muschgs ein Band mit neuen Denkstücken anzuzeigen ist. "Im Erlebensfall" heißt er, nach einem Begriff aus der Versicherungswirtschaft, und bündelt Texte aus den letzten zehn Jahren, als er unter anderem Präsident der Berliner Akademie der Künste war und auch sonst manchem repräsentativen Anlass rhetorische Glanzlichter aufsetzte.
    Die Texte zeigen die Breite seiner Interessen, behandeln Tagesaktuelles wie Grundsätzliches, von der Leitkultur über den Karikaturenstreit bis zum Toleranzbegriff. Liest man sie am Stück, werden Schwerpunkte und Denkmuster deutlich, zeigt sich, dass die die zentrifugalen Kräfte der Neugier von einem kompakten Kern an Grundsätzen ausgehen. Muschg kann sich zwar zu vielem kompetent, anregend und originell äußern, er ist aber kein intellektueller Hallodri wie mancher französische Kollege, bei dem man heute nie genau weiß, wo er morgen steht.
    Bei Muschg weiß man das immer. Er ist ein leidenschaftlicher Anhänger der europäischen Idee, der zweckfreien Bildung im Sinne Wilhelm von Humboldts, von Aufklärung und Toleranz, schließlich der befreienden und befruchtenden Rolle der Kunst für den Einzelnen wie für die Gesellschaft.
    Ein kleines intellektuelles Abenteuer
    Das klingt in der Zusammenfassung langweiliger als in den Texten selbst. Deren Lektüre ist immer ein kleines intellektuelles Abenteuer, eine Bergpartie, auf der man sich manchmal restlos verstiegen glaubt im Gelände, bis einen der Autor durch allerlei Wendungen, Durchstiege und Kamine doch unversehrt auf den Gipfel der Erkenntnis führt, der wiederum vor allem wegen seines Ausblicks auf neue Gipfel, neue Herausforderungen wichtig ist. So am extremsten im längsten Stück des Bandes, einer Reflexion über Velazquez Gemälde "Die Spinnerinnen", das mit dem gestohlenen Portemonnaie seiner Frau anhebt und schon nach einer Seite bei der Frage des Überlebens auf einem geschundenen Planeten angekommen ist. Es geht dann um Ovids Metamorphosen, um die Frage, ob Identität nicht auch viel mit Veränderung zu tun hat, und was große Kunst ausmacht. Dann lesen wir Sätze wie "Jedes große Kunstwerk ist ein gebrochenes Schweigen, das seine Erinnerung bewahrt", oder "Die Kunst geht immer aufs Ganze, aber dieses Ganze ist nie das große Ganze".
    Hier ist Muschg ganz Adornianer oder Benjaminianer, auch für ihn ist das Ganze immer das Unwahre. Noch lieber ist er aber, immerhin viele Jahrzehnte Germanistikprofessor an der ETH Zürich, Goetheaner, und den Satz Goethes: "Was ist das Allgemeinste? Der einzelne Fall" liebt er so, dass er in vielen dieser Essays auftaucht.
    Ebenso regelmäßig wieder kehrt das Lob der athenischen Demokratie, das Plädoyer für Zweckfreiheit des Studiums, die Bewunderung für Jacob Burckhardt und dessen "drei Potenzen", die in gelungenen Gemeinschaften im Gleichgewicht sein müssen. Diese Potenzen sind Religion, Staat und Kultur. Nicht Wirtschaft, wohlgemerkt, für Burckhardt und sehr auch für Adolf Muschg eher eine Unterabteilung der Kultur. Nichts stört, quält, revoltiert und empört den Autor deshalb mehr als die Verselbstständigung, Selbstermächtigung und Absolutsetzung dieser Unterabteilung.
    Die Erzübel unserer Zeit
    Entfesselter Kapitalismus und Globalisierung sind für Muschg die Erzübel unserer Zeit, die alles durchdringen, entwerten und zerstören, was ihm lieb und teuer ist, von der Bildung bis hin zur Kultur, wo der Markt auch den Geist zur Ware gemacht hat und statt kreativer Teilhabe nur noch hyperaktive Langeweile produziert.
    Ja, Muschg ist ein temperamentvoller Polemiker, wenn es gegen seinen Lieblingsfeind geht. Wenn man aber durch die Pracht des Dekors hindurchschaut auf den Kern seines Denkens, so erblickt man einige Denk-Figuren, die eher für ein östlich inspiriertes In-Sich-Ruhen stehen als für ein dynamisches Vorwärtsstürmen. Eine solche Denkfigur ist etwa: Jede Antwort ist nur Ausgangspunkt für eine größere Frage. Eine andere lautet: Ein Satz stimmt nur, wenn auch sein Gegenteil wahr ist. Eine dritte: Eine Entweder-oder-Alternative ist immer falsch, weil sie das Dritte ausschließt. Eine vierte: Wir verstehen den Anderen erst, wenn wir das Andere in uns selbst entdecken. Kurz: Im Erzabendländer Adolf Muschg, der mit dem Theater der alten Griechen zu denken und Schönheit zu begreifen gelernt hat, steckt auch ein fernöstlicher Weiser.
    Besprochen von Martin Ebel.
    Muschg, Adolf: "Im Erlebensfall. Versuche und Reden 2002 - 2013, C.H.Beck München 2014, 310 Seiten, 22,95 Euro.