Donnerstag, 28. März 2024

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"Adoptionswillige Paare sollten die Übernahme einer Kinderpflegschaft überlegen"

Meurer: Immer wieder wird in Deutschland Klage geführt, die Geburtenrate sei zu niedrig. Europaweit liegen wir auch ziemlich am Ende der Statistik mit einer Quote von 1,3 Kindern pro Frau. Aber es gibt auch tausende kinderlose Paare, die sehnlichst ein Kind haben möchten, aber keins bekommen, oder sich ein weiteres wünschen. Sie denken auch daran, ein Kind zu adoptieren, so wie der Bundeskanzler und seine Frau dies getan haben. Gerhard Schröder hat jetzt in der ARD gesagt, wer Platz im Herzen und zu Hause habe, solle sich überlegen, ein Kind zu adoptieren, um ihm eine bessere Perspektive zu bieten. Aber gibt es nicht sowieso viel mehr Interessenten als Kinder, die adoptiert werden können? Am Telefon begrüße ich Peter Höxtermann. Er ist der Vorsitzende des Landesverbands der Pflege- und Adoptivfamilien in Nordrhein-Westfalen. Herr Höxtermann, wie sehr wünschen Sie sich, dass sich mehr Erwachsene überlegen, ein Kind zu adoptieren?

24.11.2004
    Höxtermann: Eigentlich sollten das eine Menge Leute mehr tun. Allerdings gibt es auch eine Vielzahl von Voraussetzungen, die zu erfüllen sind, um ein solches Kind adoptieren zu können. Auf der anderen Seite gibt es schlicht und ergreifend sehr wenige Kinder, die zur Adoption anstehen.

    Meurer: Wenn Sie sich mehr Erwachsene wünschen, die diesen Schritt gehen, wie passt es damit zusammen, dass es jetzt schon so viele Interessenten gibt?

    Höxtermann: Ja, es gibt relativ viele Interessenten, die eine reine deutsche oder auch ausländische Adoption durchführen wollen. Auf der anderen Seite gibt es auch die Möglichkeit auf einem, sage ich mal, etwas verspäteten Zug zu einer Adoption zu gelangen, nämlich über eine Kinderpflegschaft.

    Meurer: Wie sieht das aus?

    Höxtermann: In jeder örtlichen Kommune gibt es ein Jugendamt. Jedes Jugendamt hat zu kämpfen mit einer Vielzahl von Kindern, die vernachlässigt sind, deren Eltern Alkoholprobleme, Drogenprobleme usw. haben. Diese Kinder werden von den Kommunen aus diesen Herkunftsfamilien herausgekommen und in Pflegefamilien fremdplatziert.

    Meurer: Kann ich eine Pflegschaft erhalten und übernehmen, und das Kind ist ein Baby? Das ist ja meistens der Wunsch der Erwachsene.

    Höxtermann: Ja, es sind Kinder, die kurze Zeit nach der Geburt zum Teil herausgenommen werden. Teilweise sind es aber auch Kinder, die deutlich älter sind, zwischen zehn, zwölf, dreizehn Jahre sogar.

    Meurer: Warum zögern wir, eine Pflegschaft einzugehen? Warum denken viele, nein, ich will eine Adoption?

    Höxtermann: Eine Adoption ist eine sehr sichere Sache. Eine Adoption ist gleichzustellen eines leiblichen Kindes. Das heißt, es gibt keine Möglichkeiten mehr, danach diese Adoption rückgängig zu machen. Bei einem Pflegekind sieht es anders aus. Wenn sich die Situation in der abgebenden Familie stabilisiert hat, kann es durchaus möglich sein, dass diese Kinder zu ihren leiblichen Familien zurückkehren, und das scheuen natürlich die meisten Adoptionsbewerber.

    Meurer: Wie groß ist der Mangel an Familien, die ein Pflegekind aufnehmen wollen?

    Höxtermann: Man kann davon ausgehen, dass es in Deutschland circa 60.000 Kinder gibt, die allein in Heimen untergebracht sind, weil es ihnen zu Hause in der leiblichen Familie einfach nicht gut geht. Weitere 40.000 bis 50.000 Kinder leben in Pflegefamilien. Auf der anderen Seite stehen circa 5000 Adoptionen, die in Deutschland durchgeführt worden sind, davon allerdings etwa 3500 im Rahmen so genannter Familienadoptionen.

    Meurer: Wie schwierig sind die Voraussetzungen, um ein Kind zu adoptieren?

    Höxtermann: Die Voraussetzungen, um ein Kind zu adoptieren, sind denkbar schwierig. Man muss nicht nur in einer längeren gefestigten Partnerschaft leben. Dem Kind muss ein eigenes Zimmer zur Verfügung stehen. Man muss inhaltlich wirklich auch dazu geeignet sein. Man muss eine Art Adoptionselternführerschein absolvieren. Dann sollte man auch nicht allzu alt sein, wenn man dieses Kind übernimmt. Das sind mitunter auch Voraussetzungen, die sehr schwerlich zu erfüllen sind.

    Meurer: Das heißt konkret, die Jugendämter sagen zum Beispiel, die Eltern dürfen nicht über 40 sein?

    Höxtermann: Die Eltern dürfen nicht über 40, teilweise sogar nicht über 35 sein, je nachdem, wie alt das zur Adoption anstehende Kind ist.

    Meurer: Ist diese Altersgrenze noch zeitgemäß?

    Höxtermann: Nein, sie ist in keiner Weise mehr zeitgemäß. Sie kann gar nicht zeitgemäß sein, weil die Eltern ja zunehmend älter werden. Es gibt keine Eltern mehr, die sozusagen mental 60 Jahre alt sind wie diese Eltern, die vor 30 Jahren 60 Jahre alt gewesen sind. Die Menschen heute sind im hohen Alter wesentlich frischer, beweglicher im Geist, und werden auch deutlich älter als noch vor 20, 30 Jahren.

    Meurer: Sie glauben nicht, dass es im Wohl des Kindes ist, lieber jüngere Eltern zu haben als solche die schon über 50 sind beispielsweise?

    Höxtermann: Ich denke, es muss in jedem Fall der Einzelfall geprüft werden, in welchem Zustand sind die Adoptionsbewerber, wie sie sich verhalten und vor allen Dingen welches Adoptionsbewerberpaar kommt speziell für ein ganz bestimmtes Kind in Frage. Da dürfen einfach Altersgründe überhaupt keine Rolle spielen.

    Meurer: Warum halten die Jugendämter noch an der Altershürde fest?

    Höxtermann: Ja, weil es einfach zu wenig Kinder gibt, die zur Adoption anstehen, wo wirklich ganz klar festgelegt ist, dieses Kind steht zur Adoption frei. Da gibt es einfach unheimlich wenige Kinder.

    Meurer: Gibt es neben der Altersgrenze noch eine bürokratische Hürde, die Sie für überflüssig erachten?

    Höxtermann: Absolut. Es gibt eine Art Urkunde, dass man ein Deutscher ist. Das heißt, es sind Nachweise zu erbringen, die bis zu drei Generationen nach hinten reichen, ob jetzt der Großvater und der Urgroßvater Deutscher gewesen ist, ob da nicht vielleicht irgendwo doch ein Ausländer dazwischen gewesen ist. Ich denke, das ist im Zeitalter eines Vereinten Europas absolut überflüssig.

    Meurer: Also türkische Einwandererfamilien haben zum Beispiel schon überhaupt keine Chance zu adoptieren?

    Höxtermann: Ich denke, vielleicht haben sie doch eine Chance. In unserem persönlichen Fall war es so, dass wir in Familienbüchern blättern mussten bis ins Unendliche. Es reichte einfach nicht aus, eine Geburtsurkunde vorzulegen, einen deutschen Personalausweis, um zu dokumentieren, dass man Deutscher ist und somit auch ein deutsches Kind adoptieren kann.

    Meurer: Sie reden jetzt von Ihrem eigenen Fall. Wie ist das bei Ihnen gelaufen?

    Höxtermann: Wir haben vor ungefähr zehn Jahren ein Pflegekind zu uns genommen, damals neun Monate alt, aus einer Alkoholikerfamilie kommend, und dieses Kind konnten wir dann tatsächlich vor drei Jahren adoptieren.

    Meurer: Was haben Sie für Erfahrungen gemacht mit Ihrem Pflegekind?

    Höxtermann: Ich denke, es gibt keine besser betreuten Kinder in Deutschland als Pflegekinder, weil es keine Kinder gibt, über die sich so viele Menschen Gedanken machen, Jugendämter, Kinderärzte, Fachpsychologen und natürlich auch die Pflegeeltern. Diese Kinder werden sehr intensiv betreut, weil man auch immer wieder die Herkunftsfamilien dieser Kinder vor Augen hat, die mitunter sehr problematisch sind. Da können Kinder im Alter von einem oder zwei Jahren schon deutliche Verhaltensauffälligkeiten zeigen.

    Meurer: Da Sie ja für die Übernahme von Pflegschaften plädieren, wie groß aber ist auf der anderen Seite die Belastung für eine Familie, für ein Ehepaar, für ein Paar, sich dafür zu entscheiden?

    Höxtermann: Die Belastung kann mitunter enorm sein, je nachdem, was ein Gericht, was ein Jugendamt vorher entschieden hat, meistens auch in Abstimmung mit den Pflegeeltern, ob es eine Besuchsregelung gibt zumindest für die leiblichen Eltern. Immer wieder wollen leibliche Eltern natürlich auch - das ist ihr gutes Recht - ihr Kind zurückhaben und kämpfen vor allen möglichen Gerichten, schalten Anwälte ein und Interessensverbände. Das bringt natürlich immer wieder eine immense Unruhe in die Pflegefamilie.

    Meurer: Gibt es Familien, die es wegen des Geldes tun, ein Pflegekind aufzunehmen?

    Höxtermann: Das sollte und darf nicht sein. Ich könnte mir allerdings durchaus vorstellen, dass es hin und wieder der Fall ist, weil es da natürlich ein Pflegekindergeld gibt.

    Meurer: Wie hoch ist das?

    Höxtermann: Das Pflegekindergeld ist festgeschrieben auf circa 600 Euro pro Monat. Darin ist enthalten die Versorgung des Kindes, die Urlaubszeiten, Kleidung, Nahrung, Schule usw., und mit einem ganz kleinen Betrag werden sozusagen die Nerven der Pflegeeltern erkauft.

    Meurer: Vielen Dank für das Gespräch.