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Ägypten, geteiltes Land

Dass sich große Kunstmuseen in Deutschland mit ihren Ausstellungen an unmittelbar aktuelle historische oder politische Themen heranwagen, ist nach wie vor eher die Ausnahme. In Essen zeigt die angesehene Fotografische Sammlung im Museum Folkwang nun die Ausstellung "Kairo, offene Stadt". Sie dokumentiert die Zerrissenheit Ägyptens.

Von Kersten Knipp | 10.04.2013
    Menschen vor, Menschen in gewaltiger Kulisse. Eine Stadt im Aufruhr, in Tränengas gehüllte Straßenblöcke, Männer und Frauen, alte und junge mit Plakaten in den Händen. Erst fordern sie den Abgang Mubaraks, anderthalb Jahre später dann den Mursis. Andere wiederum halten Schrifttafeln in die Höhe, auf denen sie die Machthaber ermutigen, zu bleiben. Ägypten ist ein zerrissenes Land, die Ausstellung "Kairo Offene Stadt" dokumentiert es deutlich. Und wenn dieser Tage Kopten und Muslime aufeinander losgehen, zeigt das, dass die Teilung weit weg davon ist, überwunden zu sein. Die Ägypter stellen die Systemfrage: Wo soll es hingehen mit dem Land?

    Diese Frage diskutierte im Folkwang Museum gestern eine hochkarätige Runde deutscher Politik- und Islamwissenschaftler. Definitive Antworten, so kann man das Ergebnis zusammenfassen, gibt es nicht – und kann es auch nicht geben. Umso scharfsinniger waren die Analysen – etwa zur religiösen Dimension des Konflikts. Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie beschreibt sie so:

    "Jedes säkulare Räsonnement hat die Möglichkeit zum Kompromiss, zu teilbaren Konflikten. Man ist nicht einverstanden, aber man kann die Konflikte teilen und zu irgendeinem Kompromiss finden. Religiöses Denken, ob es das fundamentalistische Judentum ist oder ob das der politische Islam ist, oder ob das christlicher evangelikaler Fundamentalismus ist, neigt dazu, völlig unteilbare Konflikte zu propagieren, bei denen es keine Kompromisse gibt. Und das macht diese Konflikte so brisant."

    Der Revolutionskater hängt zwar seit Langem über der Stadt, aber die Ägypter versuchen ihn durchzustehen, gehen weiter auf die Straße. Auch diese Revolution hat ihre "longue durée". Sie wird noch lange weitergehen, wenn auch nicht durchgehend in so dramatischer Form wie am Anfang. Aber aktiv und kreativ sind die Demonstranten weiterhin, erklärt Florian Ebner, einer der beiden Kuratoren der Ausstellung.

    "Es gibt wirklich auch ganz viele Aktionen, wo Menschen auf der Straße anfangen, einen Videoprojektor auszupacken und an die Wände zu beamen. Eines nennt sich "kathibun", also "liars", "Lügner" und bezeichnet im Grunde das staatliche Fernsehen. Es gibt die vielfältigsten Formen, in denen Bilder eine Rolle spielen, natürlich mit den vielfältigsten digitalen Medien. Es entstehen immer neue Zeitungen, auch Printmedien in Ägypten, es ist schon ein weiter, reger, wacher gesellschaftlicher Diskurs."

    Wer steht gegen wen in Ägypten? Die Fronten sind komplex. Mal stehen Säkulare und Religiöse einander gegenüber, mal sind sie vereint, treten mit gemeinsamen Forderungen an. Die Revolution kreist längst um das neue Zentrum der Macht: die Muslimbrüder. Das Interessante: Ihre Gegner und Unterstützer lassen sich eben nicht in religiöse und nicht-religiöse Gruppen trennen. Der Frontverlauf ist anders: Er teilt solche, die einen islamischen Staat wollen und solche, die ihn nicht wollen. Florian Ebner:

    "Anlässlich des Für und Wider des neuen Verfassungsentwurfes treten die Lager an unterschiedlichen Plätzen auf, arbeiten mit den gleichen Formen – Plakaten und so weiter. Auf den einen steht drauf "Ja", auf den anderen steht drauf "Nein". Wir machen mit dieser Ausstellung im Grunde eine Art Live-Mitschnitt und erleben, wie sich die Bilder gleichen, aber wie sich auch die politischen Diskurse dahinter inzwischen wieder anfangen zu unterscheiden und auseinanderzudriften."

    Auch geopolitisch formiert sich die Region neu. Für die Amerikaner verliert die Region an Relevanz, die Russen haben schon länger an Einfluss verloren. In einer solchen Situation, findet Claus Leggewie, ist Europa gefordert. Es hat die Chance, eine ganz neue Beziehung zu der Region aufzubauen.

    "In diese Lücke muss Europa hineinstoßen. Aber eben nicht nur als Prediger kulturellen Ausgleichs, friedlicher Konfliktlösungen, als ökonomischer Partner, sondern auch als ein politischer Partner, der die Potenziale der Demokratiebewegung dort stützt; der zugleich aber eben auch die Kritik an den islamistischen Strömungen wagt und nicht in einen neuen faulen Kompromiss einmünden lässt, der der Demokratiebewegung im Wege steht."

    Ausstellung und Diskussion zeigten eines: Es gibt in der Region viele Ansprechpartner für eine zukunftsgewandte Politik. Und das ist das Schöne: Teile der Menschen in Orient und Okzident entdecken, dass sie eine gemeinsame Sprache sprechen.


    Ausstellung "Kairo Offene Stadt" im Museum Folkwang Essen