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Ägypten
Muslimbrüder am Abgrund

Die lange erwartete Entscheidung von General Abdel Fattah al-Sisi zur Präsidentschaftskandidatur hat in weiten Teilen der ägyptischen Gesellschaft Jubel ausgelöst. Nur nicht bei den Muslimbrüdern, denen die Regierung jegliche Basis entziehen will. Über 500 von ihnen wurden vergangene Woche zum Tode verurteilt.

Von Susanne El Khafif | 29.03.2014
    Ausschreitungen in Kairo zwischen Anhängern der Muslimbrüder (Hintergrund) und der neuen Regierung.
    Ausschreitungen in Kairo zwischen Anhängern der Muslimbrüder (Hintergrund) und der neuen Regierung. (afp / Ahmed Tarana)
    Die ägyptische Hauptstadt, Mitte der Woche, islamistische Studenten haben sich auf dem Campus der Kairoer Universität versammelt. Sie demonstrieren gegen die Todesurteile, die zwei Tage zuvor in Minya gesprochen wurden - doch ihr Protest ist grundsätzlich und allumfassend: Sie wenden sich gegen die Übergangsregierung, die Polizei, gegen das Militär, gegen alles, was seit dem Sturz von Ex-Präsident Mursi, dem ersten demokratisch gewählten Präsidenten, in ihrem Land an Einfluss gewonnen hat. Eine Studentin:
    "Das ist der Beginn einer Eskalation. Wir werden die Polizei aufhalten. Wir werden unseren Mund nicht halten. Und alle dazu bringen, sich uns anzuschließen. Wir sind heute hier, um gemeinsam das Militärregime zu stürzen!"
    Und dann schallt es aus der Menge: "Nieder mit den Militärs, sie sind alle Lügner! Sie selbst werden im Gefängnis landen!"
    Als die Demonstranten versuchen, den Campus zu verlassen und den Nahda-Platz, der erst vor Monaten blutig geräumt wurde, erneut zu besetzen, schreiten die Sicherheitskräfte ein. Das Resultat: ein Toter und acht Verletzte.
    Ägyptische Öffentlichkeit ist geteilter Meinung
    Anlässlich der Urteile von Minya gibt es weitere Demonstrationen an Universitäten: In Kairo, Alexandria, Zagazig - sie alle sind lokal begrenzt und dennoch immer wieder medienwirksam - auch mit Blick auf die internationale Presse.
    Die ägyptische Öffentlichkeit ist mit Blick auf die Richtsprüche geteilter Meinung. Es gibt heftige Kritik, von Intellektuellen, von Menschenrechtsorganisationen. Andere sind ratlos, sprechen von einem immens großen Skandal für die ägyptische Justiz. Doch es gibt viele, die richtig finden, was geschieht - sie verweisen darauf, dass die Prozesse noch längst nicht abgeschlossen seien, weitere Instanzen folgen würden. Sie wollen an erster Stelle, dass der Staat die Terroranschläge, die seit dem Sturz Mursis vermehrt verübt werden, radikal unterbindet.
    Für Said Sadek, Politologe von der Kairoer Universität, steht fest: Minya ist schon seit Langem Stätte islamistischen Terrors:
    "Wir müssen uns klar machen, dass diese Urteile vor einem besonderen historischen Hintergrund gesprochen wurden. 1981, als Sadat ermordet wurde, gab es in Oberägypten gewaltsame Aufstände, ebenso bei der Revolution von 2011, dann wieder nach dem Sturz Mursis. Immer wurden unzählige Polizisten und Soldaten getötet und staatliche Institutionen besetzt, Kirchen haben gebrannt, es gab brutale Übergriffe auf Kopten. Der Staat will seine Autorität wieder herstellen. Damit wir nicht enden wie Syrien oder Libyen."
    Staat will Islamisten jegliche Basis entziehen
    Seit dem Sturz Mursis vor fast neun Monaten versucht der Staat die Islamisten, allen voran die Muslimbrüder und deren Anhängerschaft, zurückzudrängen. Hunderte kommen ums Leben, mehr noch werden verletzt, viele tauchen ab Tausende werden verhaftet und vor Gericht gestellt - unter ihnen auch viele prominente Führungsmitglieder. Darüber hinaus werden die sozialen Einrichtungen der Bruderschaft staatlicher Kontrolle unterstellt, werden Gelder und Konten beschlagnahmt.
    Der Staat, so scheint es, will den Islamisten jegliche Basis entziehen, sie ein für alle Mal ins Abseits drängen. Er unterstellt den Muslimbrüdern unter anderem die Vereinigung mit islamistischen Terrorgruppen, die das Land seit Monaten in Angst versetzen. Im Dezember erklärte er die Bruderschaft zur "terroristischen Vereinigung". Deren noch verbliebene Führung meldet sich übers Internet oder über ausländische Medien zu Wort, widerspricht den Vorwürfen, betont, wie auch jetzt wieder, dass die Organisation ausschließlich gewaltlos agiere. Doch es mehren sich Hinweise, dass die Vorwürfe nicht völlig aus der Luft gegriffen sind.
    Ehemaliger Muslimbruder: "Sie sind vom rechten Weg abgekommen"
    Auch für Kamal El Helbawy steht fest, dass es mehr als nur vage Kontakte zu Terrorgruppen gibt.
    "Die Führung hat sich mit Leuten vom Jihad und der Gamaa al-Islamiyya zusammengetan. Bei ihren Demonstrationen wehten sogar die Fahnen von al-Qaida. Ja, in Kairo, ich habe die Fahnen selbst gesehen."
    Helbawy, einst Führungsmitglied, bevor er 2012 austritt, enttäuscht und entsetzt über die Regentschaft Mursis und dem Agieren seiner ehemaligen Brüder. Zwar ist Helbawy fest davon überzeugt, dass nicht jedes Mitglied der Bruderschaft ein Terrorist ist, die Führung aber, so meint er, müsse sich intern und vor Gericht verantworten, für all die Fehler, die sie gemacht habe. "Sie sind vom rechten Weg abgekommen", sagt er, "sie haben das Vertrauen der Menschen verspielt". Und noch bevor die Muslimbrüder von "Dialog" und "Versöhnung" sprechen dürften, meint er, stünde etwas anderes an: Die Entschuldigung beim ägyptischen Volk und bei den Revolutionären.
    "They should apologise for the people, they should apologise for the revolutionary - and forget about politics, at least for ten years!”