Clarice Lispector: "Aber es wird regnen"

Das Innenleben eines Huhns

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Buchcover zu Clarice Lispector: "Aber es wird regnen"
Clarice Lispector galt als Inbegriff der brasilianischen Moderne, nun ist mit "Aber es wird regnen" der zweite Band ihrer Erzählungen erschienen. © Random House/Deutschlandradio
Von Maike Albath · 09.11.2020
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Clarice Lispector beherrscht die Kunst der Verführung. "Aber es wird regnen", der zweite Band der gesammelten Erzählungen der brasilianischen Schriftstellerin, eröffnet bizarre, hochkomische und immer wieder auch beunruhigende Welten.
Clarice Lispector eröffnet ihre Erzählungen wie andere ein Tennismatch: Ein scharfer Aufschlag, ein überraschendes Rückspiel, blitzschnelle Ballwechsel, Punktgewinn. Schon ihre ersten Sätze lösen Verblüffung aus, binnen Sekunden gleitet man in Lispectors fiktionale Welt hinein und vertraut sich ihrer betörenden Stimme an.
Die Geschichte "Reste vom Karneval" beginnt mit den Worten: "Nein, nicht vom letzten Karneval", setzt also mit einer Erwiderung ein, als antworte jemand auf eine Frage. Erst dann folgt die Erläuterung, um welches Fest es sich nun handelt.
Eine andere Erzählung, die im weltberühmten Fußballstadion Maracanã spielt und den Titel "Auf der Suche nach einer Würde" trägt, setzt folgendermaßen ein: "Frau Jorge B. Xavier hätte nicht zu sagen gewusst, wie sie da reingekommen war. Durch einen Haupteingang jedenfalls nicht." Und eine dritte hebt an: "Jenseits des Ohrs ist ein Klang, am Rand des Blickfelds eine Gestalt, an den Fingerspitzen ein Gegenstand – da will ich hin".

Mondän und mysteriös

Und jedes Mal zieht sie uns hinein in merkwürdige, beunruhigende, oft auch hochkomische Situationen, die bizarre Wendungen nehmen. Clarice Lispector beherrscht das Metier der Verführung, setzt Pointen, spielt mit metaphorischen Redewendungen und arbeitet mit ungewöhnlichen Analogien, wenn sie das Innere von Frau Jorge B. Xavier mit feuchtem Zahnfleisch vergleicht. Oft ist sie gnadenlos in ihrer Charakterisierung der weiblichen Psyche. Sie erzählt von einsamen alten Damen, die sich auf einmal ihrer Leere bewusst werden, von einem Mädchen, das sich in das Innenleben eines Huhns hineinversetzt oder von einer Hausfrau, die im Bus neben einem Seidenäffchen sitzt und darin einen Moment des Glücks erkennt.
Die Sammlung "Aber es wird regnen" ist der zweite Band der von Benjamin Moser herausgegebenen "Sämtlichen Erzählungen" und umfasst Prosa, die Anfang der 1970er-Jahre verstreut in Zeitschriften und Büchern in Brasilien herausgekommen war und jetzt zum Teil erstmals auf Deutsch erscheint. Clarice Lispector, Jahrgang 1920, ebenso mondän wie mysteriös, war damals auf dem Höhepunkt ihres Ruhms angelangt und galt als Inbegriff der brasilianischen Moderne.

Ein fremder Glanz

Literarisch hochgebildet, hatte sie bereits ein elegantes Leben als Diplomatengattin hinter sich und zwei Söhne großgezogen, konnte also das Dasein einer Oberschichtsehefrau erzählerisch bestens ausschlachten, war aber durch ihre ukrainisch-jüdische Herkunft ebenso mit Armut und Not vertraut.
Eine autobiografische Spur in ihre Kindheit zurück legt die Geschichte "Reste vom Karneval". Dort erinnert sich die Erzählerin an ein Fest, das sie als Achtjährige erlebte und bei dem sich die Welt aus einer Knospe in eine große scharlachrote Rose öffnete, wie es heißt. Wegen ihrer kranken Mutter jahrelang nur zum Zuschauen verdammt, bastelt ihr dieses Mal jemand ein Rosenkostüm. Alles bekommt einen fremden Glanz, aber dann verschlechtert sich der Zustand der Kranken ausgerechnet am Karnevalstag – der Zauber ist dahin, bis eine Begegnung ihn wieder aufblitzen lässt. Dass sich dieses Geheimnis nie endgültig klären lässt, macht die Kraft von Clarice Lispector aus.

Clarice Lispector: Aber es wird regnen. Sämtliche Erzählungen II
Herausgegeben von Benjamin Moser
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby
Penguin Verlag, München 2020
282 Seiten, 22 Euro

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