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Ägypten
Todesurteile bringen "neue Märtyrer"

Hamed Abdel-Samad sieht die Todesurteile gegen zahlreiche Muslimbrüder kritisch. "Man schafft dadurch neue Märtyrer", die Vorbilder für neue Gotteskrieger sein könnten, sagte der Buchautor im Deutschlandfunk.

Hamed Abdel-Samad im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 25.03.2014
    Der Politologe Hamed Abdel-Samad, Portrait, sprechend
    Der Politologe Hamed Abdel-Samad (dpa / picture-alliance / Inga Kjer)
    Dirk-Oliver Heckmann: Die Gerichte in Ägypten sind offenbar entschlossen, keine halben Sachen zu machen. Zu diesem Schluss kann man jedenfalls kommen, wenn man sich das gestrige Urteil anschaut. Ich habe es gerade schon erwähnt: Über 500 Anhänger des gestürzten Präsidenten Mursi sind zum Tode verurteilt worden. Weitere Hunderte Todesstrafen könnten in den kommenden Tagen, vielleicht sogar heute folgen. Den Anhängern der Islamisten wird vorgeworfen, nach dem Sturz Mursis eine Polizeistation überfallen zu haben. Dabei kam ein Polizeikommandant ums Leben, vier weitere wurden verletzt.
    Über die Entwicklung in Ägypten kann ich jetzt sprechen mit Hamed Abdel-Samad, Politikwissenschaftler, gegen den die Islamisten bereits Mordaufrufe gerichtet haben. Er ist Autor des Buchs "Der Untergang der islamischen Welt" und in wenigen Tagen erscheint sein neues Buch mit dem Titel "Der islamische Faschismus", wo es auch um die Muslimbruderschaft geht. Guten Morgen, Herr Abdel-Samad.
    Hamed Abdel-Samad: Guten Morgen, hallo!
    Heckmann: Herr Abdel-Samad, über 500 Anhänger der Islamisten sind zum Tode verurteilt worden. Wer oder was hat hier zugeschlagen, der Rechtsstaat oder das Rachegefühl?
    Abdel-Samad: Eigentlich die Muslimbrüder selbst sind jetzt die Gewinner von so einem Urteil, weil sie genau wieder in die Opferrolle gedrängt werden. Es ist unverhältnismäßig. Der Staat versucht zu zeigen, dass er stark ist, dass er gegen den Terrorismus vorgeht, weil viele Menschen auch innerhalb der Bevölkerung das gefordert haben, nachdem so viele Terroranschläge von den Muslimbrüdern verübt wurden. Aber man bekämpft nicht den Terrorismus, indem man 500 Menschen zum Tode verurteilt; man schafft dadurch eigentlich neue Märtyrer, neue Legenden, die Vorbilder für neue Gotteskrieger, eine neue Generation von Islamisten sind. Das ist ein Teufelskreis.
    "Ägyptens Wirtschaft blutet aus"
    Heckmann: Insgesamt sind ja 1.200 Personen angeklagt, darunter auch der Chef der Muslimbrüder Badie. Rechnen Sie mit weiteren Verurteilungen dieser Schärfe?
    Abdel-Samad: Ja. Ich glaube, dass es in dieser Richtung weitergeht, und ich glaube, dass solche Urteile nicht unbedingt dann vollstreckt werden, sondern als Abschreckung dienen sollten, damit die Gewalt ein bisschen eingedämmt wird und damit man vielleicht dadurch auch mit Führungskräften der Muslimbrüder unter dem Tisch verhandeln kann über eine Einigung, oder damit die Gewalt nicht eskaliert. Aber ich gehe davon aus, dass es genau das Gegenteil bewirken kann, dass es zu mehr Gewalt führen wird, mehr Rache und mehr Eskalation. Ich habe das Gefühl, dass niemand in Ägypten jetzt wirklich ein geeignetes Mittel hat gegen den Terrorismus oder gegen die gesellschaftliche Polarisierung. Die Muslimbrüder haben in der Tat geschafft, die Gesellschaft zu spalten und das Land zu lähmen. Ägyptens Wirtschaft blutet aus und der Staat meint jetzt, durch solche Aktionen das Land zu retten, aber das führt nirgendwo hin.
    Heckmann: Die Muslimbrüder sind ja bereits zur Terrororganisation erklärt worden, verboten worden. Tausende wurden verhaftet, mehr als 1.400 Menschen sollen getötet worden sein bei der gewaltsamen Niederschlagung von Protesten. Sie haben es gerade eben schon angedeutet, Herr Abdel-Samad: So kann man der Islamisten wohl kaum Herr werden. Haben Sie den Eindruck, dass die Muslimbrüder bereits dadurch Auftrieb bekommen haben?
    Abdel-Samad: Ja natürlich! Das ist genau die Rolle, die sie gerne spielen wollen: die Opferrolle, sie sind verfolgt. Und man darf jetzt dieses Urteil nicht so interpretieren, dass die Muslimbrüder jetzt arme Opfer sind. Nein! Die Muslimbrüder sind eine Terrororganisation. Sie haben mehrere Terroranschläge verübt und sind für den Tod von Hunderten von Menschen bis jetzt verantwortlich, für den Tod von mehreren Christen, für die Verbrennung von mehreren christlichen Kirchen und Einrichtungen. Sie sind Terroristen. Aber wie geht man gegen den Terrorismus vor? Das ist die Frage. Durch solche Urteile bekommen die Muslimbrüder mehr Sympathie und mehr Antrieb und dann kehren wir zum alten Teufelskreis zurück, wieder die Polarisierung zwischen Armee und den Muslimbrüdern. Die Armee übernimmt die Macht, dann ziehen sich die Muslimbrüder in den Untergrund zurück und im Laufe der Zeit geht es der Wirtschaft schlecht. Dann kommen die Muslimbrüder wieder, sprechen die Menschen an, helfen ihnen und wir kommen aus diesem Teufelskreis nicht heraus. Der Staat ist ratlos.
    "Zuckerbrot und Peitsche und nicht nur Peitsche"
    Heckmann: Was ist die Alternative, was würden Sie raten?
    Abdel-Samad: Ich würde raten, natürlich rechtsstaatlich gegen die Menschen vorzugehen, wirkliche Urteile, wirkliche Prozesse und nicht Schauprozesse durchzuführen und Menschen zu verurteilen, die tatsächlich für die Gewalt verantwortlich sind. Unter diesen 500 Menschen gab es mindestens 200, die tatsächlich an Gewaltaktionen sich beteiligt haben. Aber das bedeutet nicht, dass alle 200 jetzt die Todesstrafe verdient hätten.
    Ein zweiter Prozess sollte eigentlich der politische Prozess sein, dass man mit denen verhandelt, dass man versucht, sie zu entradikalisieren, die Geschäftsleute innerhalb der Muslimbrüder zu motivieren, wenn sie der Gewalt abschwören, dass sie auch teilhaben können an der ägyptischen Wirtschaft und nicht ausgeschlossen werden. Zuckerbrot und Peitsche und nicht nur Peitsche!
    Heckmann: Die Muslimbrüder reklamieren eine Art Opferrolle jetzt für sich im Nachgang dieser Urteile, haben Sie gerade gesagt. Dabei sind die Muslimbrüder aus Ihrer Sicht islamische Faschisten. So nennen Sie sie. Muss man nicht sagen, dass dieser Vergleich sehr hinkt?
    Abdel-Samad: Das hinkt nicht. Ich habe das im Buch dargestellt. Die Muslimbrüder sind genau in der gleichen Zeit entstanden wie die faschistischen Bewegungen in Europa.
    Heckmann: Das heißt ja noch nichts.
    Abdel-Samad: Aus der gleichen Geisteshaltung. Sie hatten damals auch Terrormilizen gegründet wie SS und SA. Sie haben die Demokratie abgelehnt, sie wollten die Demokratie als trojanisches Pferd benutzen, um an die Macht zu kommen. Und sie gehen von der Überlegenheit der Muslime aus gegenüber dem Rest der Welt. Sie haben das Ziel, die Welt zu beherrschen, und sie vergiften ihre Anhänger mit Hass und Ressentiments wie die Faschisten und sie sind genauso antisemitisch wie die Faschisten. Die Parallelen sind zahlreich, ich habe die alle im Buch aufgelistet. Und die Muslimbruderschaft ist die Mutter aller Terrororganisationen, die wir im Nahen Osten haben. Aus ihnen sind islamischer Dschihad und El-Kaida hervorgetreten, die für den Tod von Millionen von Menschen in der islamischen Welt verantwortlich sind, wenn man an den Bürgerkrieg in Algerien, in Afghanistan, im Irak, in Syrien, im Jemen und im Sudan und in Somalia denkt. Blut klebt an ihren Händen, sie haben nur sich von der politischen Seite neulich gezeigt und sie sind gescheitert. Sie haben versucht, aus Ägypten einen zweiten Iran zu machen. Deshalb darf man diese Urteile nicht als Anlass nehmen, um zu sagen, es war falsch, die Muslimbrüder von der Macht zu verdrängen, denn alle Nachbarstaaten von Ägypten, wo die Islamisten immer noch mächtig sind, sind keine Staaten mehr wie Libyen, wie Syrien, wie Irak, wie Somalia und wie Sudan.
    "Demokratiebewegung ist Teil des Problems"
    Heckmann: Gut möglich, Herr Abdel-Samad, dass Armeechef al-Sisi als Präsident kandidieren wird. Müssen wir uns jetzt also auf die Errichtung einer jahrelangen Militärdiktatur einstellen und was sagen dazu eigentlich die Träger der Demokratiebewegung? Die kommen unter die Räder?
    Abdel-Samad: Ja, die Träger der Demokratiebewegung sind ein Teil des Problems. Sie haben in den letzten drei Jahren seit dem Sturz von Mubarak es nicht geschafft, sich zu vereinigen, sich zu einer politischen Bewegung zu etablieren, sie zu einem Gegengewicht zur Armee und zu den Muslimbrüdern zu machen. Sie schauen zu, wie dieser Machtkampf zwischen Islamisten und Armee weitergeht, ohne selber eine dritte Alternative zu bieten, und das darf nicht so weitergehen. Man muss Schritte nach vorne gehen. Die Demokratiebewegung hat bewiesen, dass sie Weltmeister im Demonstrieren ist, aber wenn es um Parteigründung, um politische Arbeit geht, da ist man immer noch in der Pubertät.
    Heckmann: Und Sie würden sagen, dass man sich auf eine Errichtung der Militärdiktatur einstellen muss?
    Abdel-Samad: Das Militär wird weiterhin die stärkste Kraft geben, eben weil keine anderen Pole da vorhanden sind. Die Islamisten sind geschwächt und die Demokratiebewegung ist stark. Wer die Macht hat, diktiert das Geschehen. Ich würde aber nicht sagen, dass es eine Militärdiktatur sein wird, denn die Stimmung in der Bevölkerung ist ganz anders jetzt. Man darf nicht vergessen, dass die Ägypter innerhalb von zweieinhalb Jahren zwei Diktaturen bereits gestürzt haben. Sie erwarten sehr viel auch von dem nächsten Präsidenten. Auch wenn al-Sisi jetzt sehr beliebt ist, aber die Menschen verlangen von ihm Wirtschaftsreformen, sie wollen Wohlstand, sie wollen Sicherheit, und wenn er das nicht schafft, dann gehen die Menschen auch nach einem Jahr gegen ihn auf die Straße.
    Heckmann: Wir werden die Entwicklung in Ägypten weiter verfolgen, auch mit Ihrer Hilfe. Besten Dank, Hamed Abdel-Samad, für das Interview. Wir haben gesprochen mit dem Politikwissenschaftler hier im Deutschlandfunk um 8:24 Uhr.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.