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Ägyptens Muslimbrüder

Ägypten befindet sich zum Beginn des dritten Jahrtausends in einer schwierigen Lage. Das 72-Millionen-Volk lebt großteils von der Hand in den Mund. Die enormen Herausforderungen gebieten es nachgerade, dass alle gesellschaftlichen Gruppen zusammenarbeiten, die interessiert sind an einem Gedeihen der ägyptischen Gesellschaft. Dazu ist die einflussreiche islamische Muslimbruderschaft nach eigenem Bekunden bereit. Doch sie bleibt eine verbotene Organisation.

Von Reinhard Baumgarten | 19.08.2005
    Ägypten im Sommer 2005. Ein Land besinnt sich, ein Volk richtet den Blick nach innen. 72 Millionen Menschen bevölkern Ägypten. Etwa ein Zehntel sind koptische Christen, neun Zehntel zumeist sunnitische Muslime.

    Der Glaube, die Religion, die Gebote und Verbote Gottes, seine Propheten und Bücher - im Leben der meisten Ägypter nehmen sie immer mehr Raum ein. Die weltweit zu beobachtende Renaissance der Religionen, die Rückkehr des Glaubens aus dem privaten in den öffentlichen Bereich macht vor Ägypten nicht halt - im Gegenteil.

    Miniröcke, enge Blusen, Männer mit kurzen Hosen und kurzärmligen Hemden - in den 60er und 70er Jahren ist das üblich auf den Straßen Kairos und Alexandrias. Der Blick der Ägypter damals ist mehr nach außen gerichtet, die Erwartungen an das wirtschaftliche Gedeihen und den politischen Erfolg ihres Landes sind hoch. Religion spielt auch weiterhin eine wichtige Rolle, aber vorzugsweise innerhalb der Familie. Die ägyptische Gesellschaft der 60er und 70er Jahre ist durch den panarabischen Sozialismus Gamal Abdel Nassers politisiert. Das Streben der Massen ist mehr weltlicher Natur, die Sehnsucht des Einzelnen hingegen bleibt durchwoben von den Werten der Religion.

    Kairo, Wikalatul-Balah, der größte Stoffmarkt der ägyptischen Hauptstadt. Fliegende Händler bieten Abayas an, jene schwarzen Ganzkörpergewänder, mit denen sich die Frauen in den Golfstaaten von Kopf bis Fuß verhüllen. Andere Händler bieten Gesichtsschleier feil und Kopftücher jeder Größe - vorzugsweise in den Farben braun, schwarz und grau.

    Ägypten verhüllt sich - zumindest der weibliche Teil. Die Zahl jener Frauen steigt stetig, die vollkommen oder zumindest teilweise verschleiert sind. Und auch die Zahl der Männer nimmt ständig zu, die mit einem "Zibebe" genannten Gebetsmal auf der Stirn als Zeichen tiefer Frömmigkeit herumlaufen. Der Blick der Ägypter ist nicht wie zu Präsident Nassers Zeiten erwartungsvoll nach außen, sondern mehr und mehr nach innen gerichtet.

    Die verstärkte Wiederkehr der Religion in den ägyptischen Alltag setzt nach der verheerenden Niederlage im Sechs-Tage-Krieg von 1967 ein. Nassers Idee von der Überlegenheit des panarabischen Sozialismus ist gründlich gescheitert. Die militärische und wirtschaftliche Anlehnung an Moskau erweist sich als fatal. Die Menschen stehen vor einem gewaltigen ideologischen Scherbenhaufen.

    Die nächste Ernüchterung kommt mit Präsident Anwar el-Sadat. Er wendet sich zu Beginn der 70er Jahre radikal von Moskau ab; er schwört sein Volk auf den Westen ein und verordnet Ägypten eine wirtschaftliche Öffnung. Diese fällt allerdings sehr zaghaft aus, und nur eine winzige Schicht profitiert davon. Die sozialen Gegensätze in Ägypten verschärfen sich zusehends. Um den Einfluss der seine prowestliche Politik bekämpfenden Nasseristen zurückzudrängen, fördert der tiefgläubige Muslim Sadat gemäß dem Motto "Der Feind meines Feindes ist mein Freund" islamistische Gruppen und Organisationen. Sadat unterschreibt damit sein eigenes Todesurteil. Am 6. Oktober 1981 wird er während einer Truppenparade von islamistischen Umstürzlern in Kairo ermordet.

    Ägypten droht in die Hände islamistischer Aufwiegler zu fallen. Sadats Mörder sind Offiziere und Soldaten. Niemand weiß damals, im Oktober '81, wie sehr das islamistische Virus die Armee bereits infiziert hat. Der neu ernannte Präsident Husni Mubarak erklärt den bis heute gültigen Ausnahmezustand und greift entschlossen durch. Tausende mutmaßlicher Umstürzler werden eingekerkert, Dutzende hingerichtet. Die Gefahr ist fürs erste gebannt. Doch der islamistischen Hydra wachsen neue Köpfe. In den 90er Jahren führen religiös verbrämte Terrorgruppen einen regelrechten Krieg gegen den ägyptischen Staat. Mehr als 1250 Menschen kommen dabei um. Trauriger Höhepunkt ist das Massaker von Luxor im November '97, bei dem 58 Touristen im Hatschepsut-Tempel grausam ermordet werden. Dieser Terrorakt bedeutet auch gleichzeitig das Ende der bewaffneten Kampagne. Die für das Massaker von Luxor verantwortliche Gruppe al-Gama'at al-Islamiya legt bedingungslos die Waffen nieder.

    Ägypten im März 2003. Knapp 100.000 Menschen füllen das gewaltige Fußballstadion in Medinat Nasser, einem Vorort von Kairo. Männer mit Bärten, mit dem Koran in der rechten Hand und tiefverschleierte Frauen demonstrieren gegen den bevorstehenden Krieg der USA gegen den Irak.

    Nur einmal haben die Muslimbrüder in den vergangenen Jahrzehnten auf diese eindrucksvolle Weise demonstrieren dürfen, wie viel Macht und Einfluss sie in der ägyptischen Gesellschaft haben. Sie gehen organisiert und diszipliniert zu Werke, wenn die Staatsmacht ihnen keine Fesseln anlegt, sagt Dia Rashwan vom staatlichen al-Ahram-Zentrum für politische Studien in Kairo.

    "Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Muslimbrüder eine der wichtigsten und ernsthaftesten Kräfte innerhalb der ägyptischen Gesellschaft sind. Sie bilden den moderaten und friedlichen Zweig der Islamisten, den es im politischen Leben Ägyptens schon seit mindestens zwei Jahrhunderten gibt."

    "Wir können die genaue Zahl der Muslimbrüder nicht benennen. Doch wir können mit Sicherheit sagen, dass die Muslimbrüder nach der regierenden Nationaldemokratischen Partei die zweitstärkste Kraft sind. Es mögen Tausende oder Zehntausende sein und ihre Anhänger vielleicht Hunderttausende. Sie sind nach der Regierung die größte politische Kraft in Ägypten."

    Menshi'ett Nasser, ein Armenviertel, in Kairo. Mehr als zwei Drittel der bald 20 Millionen Menschen im Großraum Kairo leben in Gebieten, wo es kaum städtische oder staatliche Planung gibt, wo es an Schulen, Straßen und Infrastruktur mangelt, wo wenig Ärzte und Apotheken zu finden sind, wo der Staat vor allem durch Spitzel und verdeckte Aufpasser präsent ist. In solchen Gebieten sind die Muslimbrüder stark. Sie kommen und kümmern sich, sie bieten Sozialdienste an, schicken Ärzte, machen Medikamente erschwinglich und helfen jungen Männern bei der Suche nach Arbeit.

    Genug, rufen die Demonstranten. Genug Mubarak, genug Arbeitslosigkeit, genug Ausnahmezustand. Die Demonstrationen häufen sich im Sommer 2005. Im September soll ein neuer Präsident gewählt werden, im Herbst stehen Parlamentswahlen an. Unter den Demonstranten sind viele Muslimbrüder. Sie wollen mehr sein als nur der soziale Reparaturdienst eines bankrotten Regierungssystems, sagt ihr Führer Mahdi Mohammed Akif.

    "Wir wollen Freiheit. Das erste Zeichen für Freiheit sollte sein, dass sich die Bürger sicher fühlen, wenn sie sich offen äußern. Es gibt keine Freiheit, wenn jemand um sein Leben fürchten muss, wenn er sich nicht bewegen und wenn er nicht sprechen kann, wenn er nicht einmal in seinem Haus sicher ist."

    1928 von dem Lehrer Hassan al-Banna gegründet, kämpfen die Muslimbrüder noch immer um ihre politische Anerkennung. Alle Versuche, die Bruderschaft als Partei registrieren zu lassen, sind bislang zurückgewiesen worden - zumeist mit der Begründung, Parteien, die sich explizit auf eine Religion beziehen, seien mit der ägyptischen Verfassung nicht vereinbar. Dem widerspricht der Leiter des Ibn Khaldoun Zentrums für soziale Studien, Sa'adeddin Ibrahim.

    Er sei kein Islamist, sondern ein Säkularist, der gegen Islamisten sei, betont Ibrahim. Aber er sei fair genug, ihre Rechte als Menschen und Bürger zu verteidigen. Alles andere sei heuchlerisch und würde seine eigenen Prinzipien als Demokrat betrügen.

    "Islamisten, Leute die eine islamistische Agenda entwerfen, entwickeln sich wie andere auch ständig weiter. Aus meinen eigenen empirischen Beobachtungen und Forschungen kann ich sagen, dass sie sich zu muslimischen Demokraten entwickeln können, so wie das die Christdemokraten in Europa getan haben."

    Koranrezitation beim Taxifahren, der allgegenwärtige Gebetsruf, Devotionalienhändler vor Moscheen, Kirchen und Klöstern, an Straßenkreuzungen, im Bazar: Religion spielt eine herausragende Rolle im Leben fast aller Ägypter - ob Christen oder Muslime. Natürlich, sagt Dia Rashwan, hat die Religion auch Auswirkungen auf die Politik - vor allem für die Muslimbrüder.

    "Für Islamisten ist Politik Teil ihres Glaubens. Islam din wa daula - Islam ist Religion und Staat - ist nicht nur eine Phrase. Für sie bedeutet es ein religiöses Mandat, politisch aktiv zu sein. Sie meinen, jemand ist erst dann ein wirklicher Muslim, wenn er auf der politischen Bühne mitmischt."

    Das versuchen die Muslimbrüder verstärkt gemeinsam mit Linken, Liberalen, Islamisten und Nasseristen in der Kifaya-Bewegung. Der Zeitpunkt ist so günstig wie selten. Zum massiven innenpolitischen Druck - hervorgerufen durch steigende Arbeitslosigkeit, wachsende Massenarmut und wuchernde Korruption - kommt der Druck von außen. Die USA wollen demokratische Verhältnisse im Nahen Osten, hat unlängst Außenministerin Condoleezza Rice in Kairo unterstrichen, sie wollen einen Wandel in Ägypten.

    "60 Jahre lang hat mein Land, die Vereinigten Staaten, hier im Nahen Osten Stabilität auf Kosten von Demokratie gesucht. Wir versuchen nun einen anderen Weg. Wir unterstützen das demokratische Streben aller Menschen."

    Doch es gibt Ausnahmen. Wann immer sich islamisch oder islamistisch gefärbte Gruppen um Wählerstimmen bemühen, zuckt Washington erschrocken, abweisend, abwehrend zurück. Zu Unrecht, sagt Mahdi Akif, denn Islam und Demokratie seien sehr gut miteinander vereinbar. Der Prophet und seine Nachfolger hätten Demokratie in früher Form praktiziert, indem sie gewählte Ratsgremien einsetzten, unterstreicht der Chef der Muslimbrüder.

    "Islam fordert Demokratie, weil er Beratung gebietet. Demokratie und Freiheit gelten als Pfeiler der Religion."

    Wir hatten mit der Muslimbruderschaft keine Kontakte, so Condoleezza Rice unlängst in Kairo, und wir werden auch keine haben. Doch das ist nicht klug, sagt der Soziologe Sa'adeddin Ibrahim. Eine Gruppe dieser Größe und Bedeutung dürfe nicht länger politisch ausgeschlossen werden - weder von Husni Mubarak noch von Condoleezza Rice.

    "Sie hat Unrecht. Sie hat nicht Recht, nur weil sie die Außenministerin der USA ist. Sie wird erkennen, dass sie Unrecht hat. Sie wird sich mit Hamas in Palästina, mit der Hizbullah im Libanon und mit den Muslimbrüdern ins Benehmen setzen müssen. Jetzt kann sie sagen, was sie will, aber die Ereignisse werden ihr zeigen, dass sie völlig falsch liegt."

    Ägypten befindet sich zum Beginn des dritten Jahrtausends in einer schwierigen Lage, in einer Phase des Umbruchs. Die Globalisierung der Arbeitsmärkte, der Produktion und des Handels stellt für das Land eine enorme Herausforderung dar. Denn Ägypten ist auf den globalen Wettbewerb nicht gut vorbereitet. Es gibt zu wenig qualifizierte Arbeitskräfte und zu wenig qualifizierte Jobs. Das durchschnittliche Bildungsniveau ist niedrig, die Analphabetenrate liegt bei mehr als 40 Prozent und die meisten Hochschulabschlüsse entsprechen kaum internationalem Standard. Das 72-Millionen-Volk lebt großteils von der Hand in den Mund, und beinahe jeder Fünfte fristet sein Dasein unter der Armutsgrenze von einem Dollar am Tag. Die enormen Herausforderungen gebieten es nachgerade, dass alle gesellschaftlichen Gruppen zusammenarbeiten, die interessiert sind an einem Gedeihen der ägyptischen Gesellschaft entsprechend den international geltenden Regeln friedlicher Koexistenz. Die Muslimbrüder sind nach eigenem Bekunden dazu bereit. Und nach Meinung Dia Rashwans, vom staatlichen al-Ahram Zentrum für politische Studien, ist die Zeit reif, die Muslimbrüder politisch zu beteiligen und einzubinden.

    "Die Muslimbrüder haben alle notwendigen Garantien gegeben, damit keiner sie fürchten muss. Der Ball ist nun im Feld der Regierung. Sie muss allen politischen Kräften das Recht geben, eigene Parteien zu bilden. Es sollte klare Regeln über die Machtfolge geben. Und diejenigen, die fürchten, die Muslimbrüder würden sich nicht daran halten, die sagen das nicht über die Regierung, die die Macht nie an andere abgetreten hat."

    "Ägypten hat keine Projekte, um die Islamisten politisch oder gesellschaftlich einzugliedern. Das heißt, die bleiben immer außen vor, sie können ihren Ärger, aber auch ihre politische Kreativität nicht kanalisieren. Und das ist der Grund dafür, warum diese Leute eine ständige Bedrohung für das politische Leben in Ägypten darstellen."

    "Genauso werden Menschen gewalttätig, wenn sie keine Gelegenheit sehen, eingebunden zu werden - gleich ob es um wirtschaftliche, politische oder soziale Einbindung geht. Das lehren uns soziologische und soziale Fakten."

    Zwischen November '97 und Oktober 2004 ist es ruhig in Ägypten. Aber dann schlagen sie wieder zu, die religiös bemäntelten Terroristen. Ihr erster schwerer Anschlag richtet sich gegen das Taba Hilton Hotel auf dem Sinai - 34 Menschen werden getötet, darunter viele israelische Touristen.

    Am 23. Juli 2005 folgt dann nach mehreren kleineren Anschlägen in Kairo die Anschlagserie in Scharm el-Scheich, bei der bis zu 88 Menschen umgekommen sein sollen. Bei den Tätern handelt es sich wahrscheinlich um eine auf der Sinaihalbinsel gewachsene Extremistengruppe. Der Terror ist zurückgekehrt nach Ägypten und schlägt eine Schneise der Ratlosigkeit. Etwa jeder achte Arbeitsplatz hängt in Ägypten mittlerweile am Tourismus. Im vergangenen Jahr sind mehr als acht Millionen Besucher gekommen und haben dem Land Einnahmen von gut sechs Milliarden Euro beschert. Schon lange ist der Tourismus die wichtigste Jobmaschine und Devisenbeschaffer Nummer eins. Doch diese wichtige Stütze der ägyptischen Wirtschaft ist enorm anfällig.

    Denn die Zahl derer nimmt zu, die in Ägypten auf der Strecke bleiben, die keine guten Zukunftsaussichten haben, die potentiell anfällig für extremistische Ideen sind - nicht zuletzt weil sie in politischer Unmündigkeit gehalten werden. Ägypten ist de facto ein Einparteienstaat. Die winzigen Oppositionsparteien fristen im Schatten des Ausnahmerechts ein kümmerliches Dasein. Das Parlament wird zu 90 Prozent von Husni Mubaraks Nationaldemokratischer Partei beherrscht. In der Beratenden Versammlung sowie in den Regionalräten ist die NDP-Dominanz noch erdrückender.

    Ägypten braucht rasche Entwicklung wie die Luft zum Atmen. Das rasante Bevölkerungswachstum, überbordende Bürokratie und planerische Misswirtschaft haben aus dem einstigen Vorreiter der arabischen Welt ein rückständiges und abhängiges Land gemacht. Die Fleischtöpfe Ägyptens werden in der Bibel erwähnt - doch heute führt das Land einen Großteil seiner Nahrungsmittel und Konsumgüter ein.

    UN-Berichten und Studien der Weltbank zufolge hat Ägypten nur dann eine reelle Chance, der wirtschaftlichen Stagnation und der technologischen Rückständigkeit gegenüber den entwickelten Industrieländern zu entkommen, wenn es tiefgreifende politische Reformen ins Werk setzt und wenn sich die Zivilgesellschaft in dem Land am Nil entwickeln kann. Genau das fordern die Kifaya-Bewegung, die Muslimbrüder und die Oppositionsparteien im Parlament. Und genau das dürfte nach der Rückkehr des Terrors nach Ägypten und der Aufrechterhaltung des Ausnahmezustands sehr schwer sein. Husni Mubarak, der alte und wohl auch neue Präsident, hat in 24 Jahren Regentschaft wenig in dieser Richtung unternommen.