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Äußere Schüchternheit und innere Arroganz

Mag sein, dass Philip Marlowe, der Detektiv in den Kriminalromanen Raymond Chandlers, heute berühmter ist als sein Erfinder - auch weil jeder natürlich Humphrey Bogart vor sich sieht in der Verfilmung einiger Romane. Dass ein Schriftsteller - der immerhin schon zu Lebzeiten nicht nur als herausragender Kriminalautor, sondern überhaupt einer der besten Schriftsteller Amerikas galt - im Laufe der Zeit hinter seinen literarischen Figuren verschwindet, ist aber nichts Ungewöhnliches.

Von Christian Linder | 26.03.2009
    Wer an Philip Marlowe denkt, "the hero" in den Kriminalromanen Raymond Chandlers, sieht sofort Humphrey Bogart vor sich in der Rolle des kleinen Privatdetektivs, der für 25 Dollar am Tag plus Spesen in dem "Warenhausstaat" Kalifornien die merkwürdigsten Aufträge ausführt und manchmal selber nicht weiß, warum ihn jemand wirklich beauftragt hat. Wer aber meint, diesen immer etwas resigniert-melancholischen, wenn auch sich nach außen ruppig gebenden Philip Marlowe manipulieren zu können, irrt. Letztlich versucht Marlowe ehrlich durchs Leben zu gehen, obwohl er weiß, dass um ihn herum alle anderen Privatdetektive sowie Polizisten und Staatsanwälte bestechlich sind.

    "Vielleicht werden wir alle so in der kalten Welt, halbdunklen Welt, wo immer das Falsche passiert und nie das Richtige. Wir rabiaten Burschen sind im Herzen allesamt hoffnungslose Sentimentalisten."

    Philip Marlowe, hätte Raymond Chandler frei nach Gustave Flaubert sagen können, "Das bin ich". Sein eigener Charakter, hat er denn auch betont, sei wie der Marlowes auf geradezu "unschickliche" Weise bestimmt durch "äußere Schüchternheit und innere Arroganz".

    "Angenommen, Marlowes Intelligenz ist so hoch wie meine (höher könnte sie kaum sein), angenommen auch, seine Chancen im Leben, das eigene Interesse zu fördern, sind so zahlreich, wie sie's sein müssen, wieso arbeitet er dann für einen derartigen Hungerlohn? Die Antwort darauf ist die ganze Geschichte."

    Den ersten Teil seiner Lebensgeschichte pflegte Raymond Thornton Chandler kurz abzuhandeln: Sieben Jahre nach seiner Geburt 1888 in Chicago verließ der Vater die Familie und war danach nur noch "das Schwein". Die Mutter ging anschließend mit dem Sohn nach England, wo er nach einer klassisch-humanistischen Schulausbildung in den Journalismus geriet und über alles Mögliche schrieb. Nach einem Militärdienst kehrte er 1912 in die USA zurück und schlug sich in verschiedenen Jobs durch. Zuletzt war er Direktor einer Ölfabrik, bis man ihn wegen seines unsteten Lebenswandels feuerte.

    Chandler war Mitte 40, als er in dieser Situation sein zweites Leben begann: Er schrieb Kriminalgeschichten für das Magazin "Black Mask", als Probe für einen geplanten Roman, der ein paar Jahre später, 1939, unter dem Titel "The Big Sleep", "Tote schlafen fest", im angesehenen New Yorker Verlag Alfred A. Knopf erschien und ihn gleich nicht nur als herausragenden amerikanischen Kriminalautor etablierte, sondern überhaupt in eine Reihe mit den besten Schriftstellern seines Landes stellte. Sechs Jahre später, als Howard Hawks den Roman mit Humphrey Bogart in der Rolle von Chandlers Privatdetektiv Philip Marlowe verfilmte, kam der Weltruhm.

    Romane wie "The Big Sleep", "Farewell, my Lovely" ("Lebwohl mein Liebling") oder "The Long Good-Bye" ("Der lange Abschied") leben nicht so sehr durch eine spannende äußere Handlung, sondern durch die Eleganz und Brillanz von Chandlers Stils. Unvergleichlich, wie er mit der Magie seines Schreibens Atmosphäre herstellen und Marlowes Blick auf die Menschen, die Welt und die Dinge darin fixieren konnte.

    "Vielleicht lassen Sie meine Gedanken doch besser meine Sache sein. Sie sind nicht sonderlich wichtig, natürlich nicht, aber sie sind das einzige, was ich habe."

    Auch die Lakonie seiner Dialoge - und der hintergründige Witz, der sich in solcher Lakonie verbirgt - haben Chandlers Kriminalromane berühmt und seinen Autor für Hollywood als Drehbuchautor attraktiv gemacht, aber letztlich blieb ihm die Filmwelt fremd. Er konnte zum Beispiel nicht verstehen, wie Alfred Hitchcock sein Buch zum Film "Der Fremde im Zug" "zu einem schlappen Brei von Klischees" reduzieren konnte, wie er Hitchcock in einem bösen, allerdings nie abgeschickten Brief schrieb. Das Briefeschreiben war Chandlers Passion. Damit vertrieb er sich die langen Nächte in seinem Haus im kalifornischen La Jolla, wenn seine Frau Cissy früh zu Bett ging und er die Einsamkeit fürchtete und auch seiner Neigung entkommen wollte, die Whiskyflasche zu öffnen. Öffentliche Auftritte hasste er. Fast ein Wunder, dass in den Archiven seine Stimme überhaupt überliefert ist.

    Die wenigen Menschen, die Chandler wirklich an sich heranließ, zum Beispiel seinen englischen Schriftstellerfreund J. B. Priestley, konnten ihn selbst in seinen Büchern überdeutlich erkennen.

    "Er reduziert die leuchtende kalifornische Szene auf blanke Verzweiflung, geleerte Flaschen und einen Berg Zigarettenkippen unter sinnlosem Neonlicht. Für mein Gefühl vermittelt er fast besser als sonst jemand das Scheitern eines Lebens, dem irgendwie eine Dimension fehlt und bei dem jeder sich entweder nachdenklich fragt, was nicht in Ordnung ist, oder barbarische Abkürzungen nach Nirgendwo einschlägt."

    Als Raymond Thornton Chandler starb, am 26. März 1959 in einem Krankenhaus in La Jolla, war er allein. Er hatte sich, nach einem missglückten Selbstmordversuch, zu Tode getrunken. Zuletzt ein Getriebener, verfolgt von der Erinnerung, wie er einige Jahre vorher seine Frau, nach seinen Worten "der Schlag seines Herzens", "zentimeterweise" hatte sterben sehen. Das Buch "Der lange Abschied" ist als Dokument dieser Liebe und dieses Verlustes vielleicht Chandlers persönlichste Hinterlassenschaft.