Nachkriegsarchitektur als UNESCO-Welterbe

Wegweiser für die moderne Städteplanung

07:34 Minuten
Blick von oben auf das Hansaviertel in Berlin-Mitte.
Auch das 1953 geplante Berliner Hansaviertel soll UNESCO-Welterbe werden. © picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm
Marcus Nitschke im Gespräch mit Vladimir Balzer · 06.07.2021
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Die Berliner Karl-Marx-Allee und das Hansaviertel aus den 50er-Jahren sollen als Nachkriegsmoderne künftig zum UNESCO-Welterbe gehören. Die räumliche Nähe dieser Ost-West-Architektur sei weltweit einzigartig, sagt der Architekt Marcus Nitschke.
Teile der Berliner Nachkriegsarchitektur sollen UNESCO-Welterbe werden, dazu hat die Stadt jetzt einen Antrag eingereicht. Das Hansaviertel nahe dem Berliner Tiergarten, die Karl-Marx-Allee in den Ortsteilen Mitte und Friedrichshain und das Corbusier-Haus in Berlin-Westend gehören dazu.
Im Corbusier-Haus wohne er gerne, sagt der Architekt und Architekturhistoriker Marcus Nitschke. Das Gebäude umfasst 530 Wohnungen.

Wohnen in der Stadt mit viel Natur

Die Idee für das Wohnen im Corbusier-Haus und in den Häusern des Hansaviertels der interbau57 sei in den 1950er-Jahren gewesen, die "Stadt von morgen im Grünen und gleichzeitig autogerecht" zu bauen. "Das steht sogar an einer Fassade: Jeder sieht seinen Nachbar nicht – aber das Grüne, wenn er rausschaut."
Gemeinsam mit den Partnerorganisationen bei der Karl-Marx-Allee und im Hansaviertel wolle man erreichen, dass diese besondere Ost-West-Architektur in Berlin als Co-Evolution der Moderne Anerkennung finde.

Architektur als Reaktion auf die andere Seite

Trotz der Trennung Berlins im Kalten Krieg habe die Architektur beider politischen Systeme aufeinander reagiert. "Das Hansaviertel ist politisch gesehen auch schon eine Antwort auf die damalige sogenannte Stalinallee gewesen", erklärt Marcus Nitschke. Weltweit einmalig sei, dass die Architektur dieser Zeit diese räumliche Nähe habe. "Im Prinzip an einer Straße gelegen. Das ist schon sehr einzigartig."
Die Karl-Marx-Allee mit Frankfurter Tor in Berlin-Friedrichshain
Sie galt als Vorzeigestraße Ostberlins: die in den 1950er-Jahren erbaute Karl-Marx-Allee – früher Stalinallee. © picture alliance / dpa / Britta Pedersen
Bei Informationsveranstaltungen würden vor allem ältere Bewohner der Häuser erstmals die Gebäude in Ostberlin kennenlernen – und umgekehrt. Doch bei jüngeren Menschen, die herzögen, verwischten sich die Unterschiede. "Wir entdecken mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede, auch in der Architekturauffassung und Einschätzung dessen, was in den 50er- und 60er-Jahren hier passiert ist", so der Architekt.

Ausprägung des sozialen Gedankens

Die Architekten der Zeit hätten sich damals sehr wahrgenommen: "Die Ostmoderne und die Westmoderne – die sich damals so gerne als die internationale Moderne sah – haben schon Gemeinsamkeiten." Diese würden jetzt auch immer mehr herausgestellt, etwa die generelle Betonung des Gemeinsamen und auch die Ausprägung des sozialen Gedankens. Dies sähe man heute eher als das Trennende, erklärt Markus Nitschke.
Falls dem Antrag auf Welterbestatus stattgegeben wird, müsse daraus nicht zwangsläufig auch eine Verteuerung des Wohnens in diesen Gebäuden folgen, meint der Architekt. An allen Standorten gebe es Gentrifizierungsphänomene, doch man versuche, etwa an der Karl-Marx-Allee, den Verdrängungswettkampf möglichst abzuwehren, um die Bewohnerschaft zusammenzuhalten.

Für den Architekturkritiker Nikolaus Bernau bieten das Hansa-Viertel im Westen Berlins und die Prachtbauten an der ehemaligen Stalinallee im Osten der Stadt die weltweit einzigartige Chance, den Kalten Krieg anhand der Architektur erfahrbar zu machen. Die beiden Viertel in die Unesco-Welterbeliste aufzunehmen, wäre deshalb absolut berechtigt, meint Bernau in unserer Sendung "Kompressor" [AUDIO] .

"Es gibt auch 20er-Jahre-Siedlungen, die schon Welterbe sind. Aber ich sehe da nicht automatisch Kostensteigerungen, sondern auch eine Qualitätssteigerung, die ja auch zu einem sorgfältigen Umgang mit dem Wohnerbe und den Wohnungen selber führt", sagt Marcus Nitschke.
(mle)
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