Donnerstag, 25. April 2024

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WHO-Sprecher Christian Lindmeier
"Alle können das Virus weitertragen, auch die Geimpften"

Die Delta-Variante sei nun in 98 Ländern vertreten, Neuinfektionen stiegen wieder an, daher müssten alle Vorsichtsmaßnahmen weiter eingehalten werden, mahnte WHO-Sprecher Christian Lindmeier im Dlf. Nur weil man geimpft sei, heiße das nicht, dass man nicht das Virus weitertragen könne.

Christian Lindmeier im Gespräch mit Lennart Pyritz | 05.07.2021
Fussballfans im Achtelfinale England-Deutschland im Londoner Wembley- Stadion am 11. Juni 2021.
Fans ohne Maske und nennenswerten Abstand im EM-Achtelfinale England-Deutschland im Londoner Wembley-Stadion - es wurde laut WHO zu einem Spreader-Event (Sven Simon)
Für Europa hat die WHO jetzt erstmals seit Wochen wieder steigende Zahlen präsentiert. Europa drohe eine neue Pandemiewelle, so der WHO-Regionaldirektor für Europa, Hans Kluge, vor ein paar Tagen in Kopenhagen. Angesichts der Ausbreitung der hochansteckenden Delta-Variante und wieder steigender Infektionszahlen müssten Vorsichtsmaßnahmen einfach weiter eingehalten werden, sagte Christian Lindmeier, Sprecher der Weltgesundheitsorganisation WHO, im DLF.
Christian Lindmeier: Ja, wir haben natürlich so eine Art Plateau erreicht, nicht nur mit den Impfstoffen oder mit den Fällen, sondern vor allem mit dem Verhalten der Bevölkerung - durch ganz Europa gesehen. Jeder hat aufgeatmet, als die Zahlen endlich wieder gesunken sind, es wurde wärmer draußen, jeder wollte rausgehen. Und damit sind auch leider wieder die Vorsichtsmaßnahmen gesunken. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass uns Impfstoffe zwar einen Schutz geben, aber keinen hundertprozentigen Schutz, und wir dürfen vor allem nicht vergessen, dass nirgends in Europa 100 Prozent der Bevölkerung geimpft sind, das ist ja überhaupt nicht erreichbar. Wir haben also hohe Impfzahlen, weltweit die höchsten, wenn wir mal von den USA absehen. 30, 40, 50 Prozent teilweise, aber es ist eben maximal die Hälfte der Bevölkerung und eben nicht die ganze Bevölkerung.
Digitaler Corona-Impfpass - Mehr Freiheiten in Deutschland und Europa Die Zahl der Neuinfektionen ist derzeit stabil niedrig. Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sind weitestgehend gelockert. Dank digitaler Impzertifikate genießen Geimpfte und Genesene wieder mehr Freiheiten. Der deutsche digitale Impfnachweis gilt am dem 1. Juli auch als EU-Impfpass. Ein Überblick.
Wir haben Risikogruppen, die nicht geimpft werden können, wir haben Großevents, bei denen sich Leute treffen, wir haben viele, die sich nicht impfen lassen wollen oder können. Und alle diese Personengruppen können jetzt das Virus weitertragen - und natürlich auch die, die geimpft sind, das dürfen wir auch nicht vergessen. Der wichtigste Punkt vielleicht auch noch, dass diese neue Delta-Variante oder andere Varianten sich mittlerweile verbreiten. Die Delta-Variante, die ja in Indien zuerst entdeckt wurde, haben wir mittlerweile in 98 Ländern weltweit vertreten, die hat ja auch schon dazu geführt, dass in England die Vorsichtsmaßnahmen noch gar nicht zurückgenommen wurden, wie sie hätten zurückgenommen werden sollen vorher. Also dieses Zusammenspiel von den ganzen Faktoren hat dazu geführt, dass wir leider wieder Anstiege haben. Und die Vorsichtsmaßnahmen müssen einfach weiter eingehalten werden. Wir sind nicht raus aus dem Wald.

Impfquote in Prozent seit Beginn der Pandemie
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Weiter individuelle Schutzmaßnahmen, Hygienekonzept, Vorsicht

Lennart Pyritz: Das führt jetzt zu meiner nächsten Frage: Wie sollten wir uns in Europa angesichts dieser Lage verhalten?
Lindmeier: Wir müssen verstehen, dass Impfungen uns nicht hundertprozentig schützen. Die Impfstoffe sind hervorragend, uns vor Tod und schwerer Krankheit zu schützen, aber sie schützen uns nicht hundertprozentig. Daher bleiben die Impfstoffe nur Teil eines Pakets. Und das Paket besteht weiterhin aus den individuellen Schutzmaßnahmen, das heißt dem Hygienekonzept, das ist im privaten Rahmen wichtig, aber noch viel wichtiger natürlich bei Großveranstaltungen.
Neue Infektionen

Corona-Maßnahmen - Physikerin: Durch soziale Bubbles "Sackgassen für das Virus" schaffen
Um die Infektionszahlen deutlich zu senken, komme es auf das Verhalten der Privathaushalte an, sagte die Physikerin Viola Priesemann im Dlf. Haushalte sollten sich einen Partnerhaushalt suchen, und dann nur Menschen aus diesem Haushalt treffen.

Ansteckungsrisiko in Räumen, bei Großveranstaltungen bleibt

Pyritz: Das Stichwort greife ich auf, die WHO hat sich auch besorgt gezeigt, dass sich das Coronavirus durch Zuschauer bei den Spielen der Uefa Fußball-Europameisterschaft schneller verbreiten könnte. Welche Maßnahmen sollten dagegen eingesetzt, umgesetzt werden in den und auch außerhalb der Stadien?
Coronavirus - Wie gefährlich ist die Delta-Variante?
Noch ist die Alpha-Variante in Deutschland die am weitesten verbreitete Coronavirus-Mutation. Doch sieht es derzeit so aus, als würde sich die Delta-Variante langfristig durchsetzen. Sie gilt im Vergleich zum Wildtyp als ansteckender und gefährlicher. Ein Überblick.
Lindmeier: Hier gilt natürlich das gleiche, nur weil ich geimpft bin, heißt das nicht, dass ich nicht eventuell das Virus weitertragen könnte oder eventuell sogar angesteckt werden könnte. Deswegen gilt weiterhin ein risikobezogener Ansatz. Wenn ich mich in einem Rahmen bewege, wo Ansteckung weiterhin möglich, also Großveranstaltungen, Räume mit vielen Leuten, geschlossen, vielleicht auch ohne Ventilation, dann bleibt weiterhin ein Risiko der Ansteckung bestehen, selbst wenn in dem Raum 100 Prozent der Leute geimpft sein sollten. Daher bleibt dort weiter, bitte benutzen Sie weiterhin die Maske im engen Rahmen und schützen Sie sich durch die normale Mund- und Atemhygiene und die Etikette beim Niesen und Husten.
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Afrika ohne eigene Impfstoffproduktion und Infrastruktur

Pyritz: Wenn wir in eine andere Weltregion schauen: Die Delta-Variante lässt die Fallzahlen in Afrika nach Angaben der WHO rapide steigen. Tempo und Ausmaß der dritten Welle auf dem Kontinent seien mit nichts vergleichbar, das wir vorher gesehen haben, so die Regionaldirektorin für Afrika, besonders Südafrika sei ein Hotspot der neuen Welle. Steht der Kontinent durch die Ausbreitung ansteckenderer Virusvarianten vor einer ganz neuen Bedrohungsebene?
Lindmeier: Das kann man sicher so sagen, zum einen natürlich durch die Bedrohung von Varianten, die wir schon kennen, die sich im Moment ziemlich ungehindert ausbreiten leider – und da spielt der mangelnde Impfstoff eine große Rolle, aber auch die Logistik, die ausgebaut werden muss, um solche Impfstoffe überhaupt zu verteilen. Zum anderen, und das ist ein sehr wichtiger Punkt, wenn wir eine nur gering geimpfte Bevölkerung haben, können sich ja jederzeit wieder neue Varianten bilden. Und diese zwei Faktoren, die wir haben, stellen uns vor eine große Herausforderung. Afrika ist im Moment eine Priorität, wir fordern ja schon seit Langem, seit über einem Jahr, diese Länder, vor allem die afrikanischen Länder, nicht zu vergessen, die nicht über eine eigene Produktion, eine eigene Infrastruktur verfügen, und dort sowohl die Behandlungen als auch die Impfungen rasch zu verbreiten.
Afrika - Wenn COVID-19 auf HIV, Tuberkulose und Malaria trifft COVID-19 traf in vielen afrikanischen Ländern auf Gesundheitssysteme, die auch mit anderen Infektionskrankheiten zu kämpfen haben: Malaria, Tuberkulose, HIV. Zwar hat das medizinische Personal daher viel praktische Erfahrung im Umgang mit Epidemien, aber die Belastungen für Pflegepersonal und Kliniken steigen.

Impfungen in Afrika wohl erst ab 2022

Pyritz: Wie könnte das konkret aussehen, was wäre da das Idealszenario aus Sicht der WHO?
Lindmeier: Von der WHO haben wir vor Kurzem mit einigen Ländern in Afrika, vor allem auch mit Südafrika, eine Kooperation gebildet, um dort lokale Produktionsstätten aufzubauen. Das ist sehr wichtig, weil natürlich die Lieferwege sehr weit sind, wenn sie aus Europa oder aus Asien oder aus Nordamerika erst bis nach Afrika müssen. Lokale Produktionsstätten, aber auch lokale Kapazität ist unheimlich wichtig, denn Impfstoff ist ja nur das eine, die Produktion. Das Impfen ist ja das Wichtige. Und um impfen zu können, brauchen wir viel, wir brauchen lokales Know-how, wir brauchen Kühlketten, wir brauchen Personal, wir brauchen eine Logistik, die das Ganze überhaupt erst möglich macht. Das muss vor Ort aufgebaut werden, das ist am Werden. Aber das dauert leider seine Zeit, in diesem Jahr wird das nicht mehr zur Verfügung stehen. Das heißt, ab 2022 sieht das dann vermutlich besser aus mit lokaler Produktion, bis dahin müssen wir mit dem leider sehr begrenzt vorhandenen Impfstoff arbeiten. Und es ist unheimlich wichtig, die Risikogruppen weltweit zuerst zu impfen, also zehn Prozent weltweit zu erreichen, bevor wir in einzelnen Ländern über 60 Prozent erreichen, dafür in anderen nur ein oder zwei Prozent.

Expertenteam soll Virus-Ursprung erneut untersuchen

Coronavirus auf dem afrikanischen Kontinent - Malteser International: Covax ist "viel zu langsam angelaufen" Die afrikanischen Länder seien komplett abhängig von der Covax-Initiative, sagte Roland Hansen von Malteser International im Dlf. Doch die sei zu langsam angelaufen. Hilfe für diese Länder sei auch in Europas Interesse. Denn bei niedriger Impfquote steige die Gefahr, dass neue Mutationen entstünden.
Pyritz: Wenn wir zum Schluss noch auf den Ursprung der Corona-Pandemie schauen, Joe Biden, der US-Präsident, hat kürzlich die Debatte um die Laborthese wieder angestoßen, die USA fordern zudem von der WHO, eine zweite Phase einzuleiten, also unabhängige Experten sollten vollständigen Zugang zu ursprünglichen Daten und COVID-19-Proben in China erhalten. Wie positioniert sich die WHO zu solchen Forderungen?
Lindmeier: Die WHO hat ja schon ganz am Anfang, als diese Studie veröffentlicht wurde, die erste, mit dem internationalen Expertenteam, das sich in China bewegt hatte, gesagt, dass alle Thesen auf dem Tisch bleiben. Manche sind wahrscheinlicher als andere laut den Experten, aber dennoch sind erst mal alle These weiter auf dem Tisch geblieben. Um das so abschließend wie möglich zu klären, ist ja nun international gefordert, dass eine neue Expertengruppe am besten das Ganze untersucht, die WHO hat jetzt an ihre Mitgliedsländer, wir haben ja 194 Mitgliedsländer, aus denen die WHO eigentlich besteht, an diese Mitgliedsländer den Vorschlag unterbreitet, wie ein Team, eine Expertengruppe zusammengestellt sein müsste und wie das voranzugehen hat. Hier warten wir jetzt gerade, wie alle Mitgliedsländer, da gehören die USA genauso dazu wie Deutschland oder Südafrika, sich entscheiden und wie dann letztlich so ein Team ausschaut.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.