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AfD-Vorstoß zur Grenzsicherung mit Waffen
AfD ist "Sammelbecken der Empörten und der Antidemokraten"

Die von der AfD initiierte Debatte über den Gebrauch von Schusswaffen an der Grenze zu Deutschland zeige, welche radikalen Vorstellungen es gebe, um den Flüchtlingsstrom aufzuhalten, sagte der Grünen-Politiker Werner Schulz im DLF. Wähler der AfD möchten "den Obrigkeitsstaat, der für Ruhe und Ordnung sorgt".

Werner Schulz im Gespräch mit Bettina Klein | 03.02.2016
    Der Grünen-Politiker Werner Schulz am 14.01.2009.
    Der Grünen-Politiker Werner Schulz am 14.01.2009. (imago / Christian Thiel)
    Schulz, der selbst Bürgerrechtler in der DDR war, sagte, man könne sich "gar nicht vorstellen, dass an einer deutschen Grenze noch einmal geschossen werden sollte". Das sei wirklich die Position an der Spitze der AfD. Ernst betrachtet brauche man Zeit, Geduld, Durchhaltewillen und klares Verständnis dafür, dass man nicht nur den Ankommenden unsere Grundwerte vermitteln müsse, "sondern dass wir sie auch ausüben".
    Beim Vergleich mit dem Schießbefehl in der DDR gehe vieles durcheinander. An der DDR-Grenze sei die Todesstrafe ohne staatsanwaltliche Untersuchung vollstreckt worden.
    Frauke Petry hatte in einem Interview mit dem "Mannheimer Morgen" den Vorstoß gebracht, die deutschen Grenzen mit Schusswaffen zu sichern. Solche "verrückten Kapriolen" seien laut Schulz typisch für politische Aufsteiger, die plötzlich ins Rampenlicht treten. Das habe weniger mit DDR-Mentalität zu tun.
    Mangelndes Demokratieverständnis
    Die AfD sei keine Alternative, sondern ein Sammelbecken der Empörten und der Antidemokraten. Man möchte den Obrigkeitsstaat, der für Ruhe und Ordnung sorgt. Die Wähler der AfD seien Protestwähler, die mit nichts zufrieden sind. Das Ausgrenzen der AfD bezeichnete Schulz als falsch. Sie zu ignorieren mache sie eher stärker. "Das sind Leute, die noch nicht in den demokratischen Verhältnissen angekommen sind", sagte Schulz.
    Was die Darstellung von Petrys Argumentation betrifft, glaubt Schulz nicht, dass die Medien überreagiert hätten. Frauke Petry verbreite selbst Lügen, wie die Behauptung, dass die Dresdner Universität würde ihren Mitarbeitern die Teilnahme an Pegida-Demonstrationen verbieten. Das sei aber nicht der Fall.
    Russland betreibe "hybriden Propagandakrieg"
    In Russland könne man im Gegensatz dazu Lügenpresse erleben. Russland versuche seit längerem, vor allem die Rechtspopulisten zu unterstützen, um Europa auseinanderzutreiben. Es sei ein hybrider Propagandakrieg, der hier geführt werde.
    Was die Reise von Horst Seehofer (CSU) nach Russland betrifft sagte, Schulz: "Wir sollten zwar reden, aber uns nicht anbiedern, weil wir wirtschaftliche Beziehungen wieder aufbauen wollen." Russland sei mitverantwortlich, dass es diese Flüchtlingsströme gebe. Den russischen Präsidenten Putin bezeichnete er als "Kriegstreiber".

    Das Interview in voller Länge:
    Bettina Klein: Die Forderung ist von der AfD und von Frau Petry relativiert. Rechtlich gibt es für einen Schusswaffeneinsatz gegen unbewaffnete Flüchtlinge an der Grenze kaum eine Handhabe. Und doch waren die Reaktionen so heftig wie auch die Interpretationen. So, dass ein genauerer Blick auf die Debatte vielleicht lohnt, zumal das ganze Thema aus unserer jüngeren Zeitgeschichte nur zu bekannt ist. Am Telefon begrüße ich den früheren DDR-Bürgerrechtler und langjährigen Grünen-Politiker Werner Schulz. Er war zuletzt im Europaparlament unter anderem auch für die Beziehungen zu Russland zuständig. Guten Morgen, Herr Schulz.
    Werner Schulz: Schönen guten Morgen, Frau Klein.
    Klein: Hat die Aufregung danach auch damit zu tun, dass schon allein das Wort "Schießbefehl" an der Grenze sofort böse Erinnerungen an die jüngere deutsche Geschichte weckt?
    Schulz: Ja sicherlich, klar. Man kann sich das gar nicht vorstellen, dass an einer deutschen Grenze noch mal geschossen werden sollte. Es war entsetzlich und es war auch keine spontane Äußerung oder irgendein Missgriff, sondern es ist wirklich die Position in der Spitze der AfD. Der Lebensgefährte von Frau Petry hat das bereits im vorigen Jahr gesagt. Da wurde das bloß nicht so aufgenommen und skandalisiert und darüber geredet. Und im Endeffekt treibt sie etwas auf die Spitze, was andere eigentlich nicht direkt oder nur verblümt sagen. Denn wenn die CSU beispielsweise von Obergrenzen spricht, dann müsste sie dazu sagen, was sie denn tut, wenn diese Obergrenze überschritten wird, oder was sie in letzter Konsequenz bedeutet, diese Obergrenze, wie man denn diese Flüchtlinge aufhalten will, die dann dennoch kommen.
    Klein: Subkutan ist das natürlich unterschwellig im Hinterkopf bei vielen ein Thema gewesen in den vergangenen Monaten, genau bei der Frage, was in letzter Konsequenz heißt denn dann Grenzsicherung. Das haben wir jetzt mal auf offener Bühne diskutiert und gesehen, das gibt die Rechtslage eigentlich so nicht her. War es denn vielleicht auch ein Gutes, dass man das mal offen ausdiskutiert?
    Schulz: Ich weiß nicht, ob es ein Gutes war. Es hat die Debatte auf jeden Fall verschärft und zeigt auch die radikalen Vorstellungen, die es gibt, um diesen Flüchtlingsstrom aufzuhalten. Es sind keine praktikablen Vorschläge. Es ist nichts dabei gewesen, was uns in der Sache weiterbringt, weil ernst betrachtet müssen wir sagen, wir brauchen Zeit, wir brauchen Geduld, wir brauchen diesen Durchhaltewillen, den wir bisher gezeigt haben, und wir brauchen vor allen Dingen, glaube ich, auch noch mal ein klares Verständnis dafür, dass wir den hier ankommenden nicht nur unsere Grundwerte beibringen und vermitteln müssen, sondern wir müssen sie auch vorleben, also den Artikel eins, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt. Vielleicht muss man das mal jedem deutschen Haushalt über die Tür schreiben.
    "Asylbewerber haben das Recht auf Schutz und Sicherheit in unserem Land"
    Klein: Ich würde gerne auch noch mal auf die Debatte schauen, Herr Schulz. Müssen wir an der Stelle auch noch mal festhalten, dass der Sinn von Mauer und Schießbefehl zu DDR-Zeiten aus Sicht der SED-Führung de facto war, Menschen an der Flucht aus einem Land zu hindern und nicht in ein Land? Denn das geht bei der Frage der Grenzsicherung und ging jetzt auch bei den Reaktionen auf Frauke Petry etwas durcheinander.
    Schulz: Natürlich. In erster Linie ist die Flucht von DDR-Bürgern verhindert worden, oder hat man zumindest verhindern wollen. Über 2000 sind, glaube ich, an der Grenze umgekommen. Wir haben noch nicht genau exakte Zahlen. Aber an der Grenze wurde auf alles geschossen, was sich dort bewegt hat. Das sollten wir nicht vergessen. Auch Fluchthelfer, die von der anderen Seite gekommen sind, sind erschossen worden. Es war eine hermetisch abgeriegelte Grenze und dort wurde praktisch die Todesstrafe vollstreckt, ohne staatsanwaltliche Untersuchung. Das war grausam und schon deswegen sind wir in einer historischen Verpflichtung. Aber hier geht vieles durcheinander. Viele reden wirklich Mumpitz im Moment. Auch wenn Frau Wagenknecht davon redet, wer sein Gastrecht missbraucht, hat sein Gastrecht auch verwirkt. Asylbewerber, sofern sie anerkannt werden, haben kein Gastrecht, sondern sie haben das Recht auf Schutz und Sicherheit in unserem Land. Das ist Fakt und das sollte man mal klar machen.
    Klein: Man muss auch sagen, die offizielle Doktrin der SED seinerzeit war ja, es handele sich bei Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl um einen antifaschistischen Schutzwall. Es wurde suggeriert, der Feind steht draußen, wir müssen uns dagegen schützen und hier drinnen alle zusammenhalten. So eine Art Wagenburg-Mentalität wurde da möglicherweise auch initiiert. Ist das ein Aspekt in der Debatte, der stimmt?
    Schulz: Nein, es ist dieser verlogene Antifaschismus. In der DDR war jegliche Opposition immer unter Verdacht, faschistisch zu sein. Selbst der Volksaufstand am 17. Juni 1953 war angeblich ein faschistischer Putsch und dergleichen. Die DDR hat solche Dinge erfunden, so wie die russische Propaganda den faschistischen Putsch auf dem Maidan erfunden hat, um deutlich zu machen, dass man berechtigt ist, dagegen vorzugehen und in diesem Land einzugreifen.
    Klein: Was ich meinte war eigentlich: Was ist dran an dem Argument, das manche jetzt auch vorbringen, das Ganze sei so ein bisschen Petrys ostdeutscher Mentalität geschuldet, so eine Art Mauer-Mentalität. Deswegen sprach ich gerade noch mal die offizielle SED-Doktrin an, wonach es ein antifaschistischer Schutzwall war.
    Schulz: Ich weiß nicht, ob sie davon geprägt ist. Es ist eher typisch für politische Aufsteiger, die plötzlich und voller Leidenschaft und Fanatismus so ins Rampenlicht der Öffentlichkeit treten und Zuspruch und politischen Aufwind spüren und dann abheben und die verrücktesten und abenteuerlichsten Kapriolen drehen. Wir haben das Beispiel Gabriele Pauli gehabt. Ich glaube, das ist bei Frauke Petry ähnlich. Das hat weniger jetzt mit DDR-Mentalität zu tun, denn da müsste man sehr sensibel sein gegen solche Fragen, Grenzsicherung, Grenzschutz.
    "Die AfD ist ein Sammelbecken der Empörten"
    Klein: Andere sagen auch, es gibt eine autoritäre antiwestliche, antiaufklärerische Tradition in Deutschland, die sich in der DDR eben wegen der politischen Verhältnisse viel länger gehalten hat.
    Schulz: Das ist richtig.
    Klein: Ist das auch ein Faktor, den man in der aktuellen aufgeheizten Debatte beachten muss?
    Schulz: Ja, das ist richtig. Insofern ist die AfD, glaube ich, keine Alternative für Deutschland, sondern das ist eher so ein Sammelbecken der Empörten, der Frustrierten, der Antidemokraten. Das ist durchaus eine Mentalität. Deswegen wird auch diese Putin-Huldigung dort so hochgehalten. Das kann man durchaus feststellen. Es ist der Obrigkeitsstaat, den man möchte, der von oben durchgreift, für Ruhe, Sicherheit und Ordnung sorgt. Das steckt so bei Etlichen drin. Das sind diese Protestwähler, die mit nichts zufrieden sind, die vorher die Linkspartei gewählt haben und jetzt AfD.
    Klein: Was würde sich denn daraus ableiten für die aktuelle politische Diskussion, darauf zu reagieren?
    Schulz: Ich glaube, man muss mit ihnen reden. Man muss mit ihnen diskutieren. Ich finde zum Beispiel das Ausgrenzen der AfD falsch. Man sollte sie eher in diese Diskussion hineinholen, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Sie zu ignorieren, macht sie eher stärker, weil dann ziehen sie sich beleidigt zurück. So war es ja auch bei der Linkspartei oder diesen Komitees für Gerechtigkeit. Das war ja eine ähnliche impulsive Wallung, die es da mal gegeben hat, all diese Empörten und Beleidigten und Enttäuschten, die da wieder auf die Straße gegangen sind, um gegen die da oben und die Lügenpresse und was alles zu protestieren. Man ist das ja gewöhnt aus der DDR, dass einen die Presse belügt, und insofern wird das dann übertragen. Das sind Leute, die, glaube ich, noch nicht in den demokratischen Verhältnissen wirklich angekommen sind.
    Klein: Da Sie noch mal den Faktor Lügenpresse aufgegriffen haben, Herr Schulz, würde ich ganz gerne noch einen O-Ton von Frauke Petry einspielen, wo sie sich dagegen verwahrt, dass ihre Äußerungen jetzt instrumentalisiert werden, und wir spielen das deswegen ein, weil das ja ein wichtiger Faktor in der aktuellen Debatte im Augenblick ist.
    O-Ton Frauke Petry: "Die Frage ist, wie man in Wahlkampfzeiten versucht, einseitige und sinnentstellende Schlagzeilen zu produzieren, ob wir in Deutschland noch in der Lage sind, ein sicherlich hoch emotionales, aber trotzdem wichtiges Thema von Rechtsstaatlichkeit noch auf der Sachebene zu diskutieren, oder ob daraus einfach am Ende eine sinnentstellende Aussage gemacht wird mit der entsprechenden Emotionalität. Das ist kein Glanzstück für die Medienlandschaft."
    Klein: Soweit Frauke Petry. Herr Schulz, müssen wir uns da auch vorwerfen lassen, dass wir zu hysterisch, zu aufgeregt reagiert haben, zumindest in Teilen der Öffentlichkeit?
    Schulz: Das glaube ich nicht. Frauke Petry hat sich beschwert, dass der "Mannheimer Morgen" sie da übern Tisch gezogen hätte. Das ist nicht der Fall. Wie gesagt, ihr Lebensgefährte Marcus Prezell, der hat das schon im November geäußert. Die Frau von Storch äußert ähnliche Gedanken. Man rudert dann leicht zurück, wenn man erschreckt über die Reaktionen, die es gibt. Andererseits ist man schon bewusst, dass man eine Provokation gesetzt hat. Frauke Petry verbreitet auch Lügen. Sie hat zum Beispiel bei Plasberg gesagt, dass die Dresdener Universität den Mitgliedern oder den Beschäftigten verbietet, auf die Pegida-Demonstration zu gehen. Das ist nicht wahr gewesen, was sie da gesagt hat. Sie ist eher ein Bestandteil der Verbreitung von Lügen.
    "Putin ist ein Kriegstreiber, der mit den Flüchtlingen auch Europa in die Ecke treibt."
    Klein: Ich würde gerne auf einen weiteren Aspekt kommen, Herr Schulz, weil Sie auch für die Russland-Politik mit zuständig waren im Europaparlament. Wir sprechen im Augenblick viel über Desinformationspolitik aus dem Kreml. Manche Experten sagen, es handele sich um das bewusste oder als unbewusst verschleierte Bemühen Moskaus, Europa, die Europäische Union, Deutschland zu destabilisieren, hier auch die Bundesregierung auseinanderzutreiben. Da war ein Beispiel dieser Fall einer 13jährigen, die angeblich entführt und vergewaltigt worden ist. Das Ganze stellte sich dann als Ente heraus, sie selbst hat ihre Aussagen später revidiert. Gleichzeitig gab es ja gewaltige Proteste von Russland-Deutschen hier in Deutschland, die sich gegen eine Vertuschungspolitik deutscher Behörden gewandt haben. Wie haben Sie das eingeordnet?
    Schulz: Wie gesagt, da kann man Lügenpresse erleben. Wenn man den Chefredakteur von "Rossija Sewodnja", Dmitri Kisseljow erlebt, dann war Münchhausen oder gar Eduard von Schnitzler ein Waisenknabe dagegen. Hier werden Fehlmeldungen produziert und hier werden Stimmungen gemacht und man hat sich dieser Minderheit der Russland-Deutschen bedient. Ich meine, es ist ja wirklich verheerend gewesen, dass der russische Außenminister sich sogar dazu geäußert hat. Im Übrigen: Als ein Russland-Deutscher in Dresden eine Muslima im Gerichtssaal umgebracht hat, hat sich niemand in Russland darüber empört oder damit beschäftigt. Nein, man versucht schon seit längerem, vor allem auch die rechtspopulistischen Parteien in Europa zu unterstützen, um Europa und diese Länder zu destabilisieren. Das ist ein hybrider Propagandakrieg, der hier geführt wird.
    Klein: Was wäre abschließend Ihre Antwort darauf? Sie sagten, die AfD nicht ausgrenzen, sich mit Argumenten auseinandersetzen. Wir haben heute schon gesprochen in der Sendung über den Besuch von Horst Seehofer in Moskau. Da war die Begründung auch, wir müssen mit ihnen reden, Sprachverweigerung, Dialogverweigerung ist das, was jetzt am wenigsten nützt.
    Schulz: Ja, reden schon. Es kommt bloß darauf an, was wir sagen. Wir sollten da keinen Kotau machen oder uns anbiedern, weil wir wirtschaftliche Beziehungen zu Russland wiederherstellen wollen, sondern wir sollten da wirklich Klartext reden und uns dagegen verwahren, was hier abläuft. Das sind wirklich extreme Eingriffe in unsere Politik. Russland ist ja mit einer der Verantwortlichen dafür, dass es diese Flüchtlingsströme gibt. Wir hätten ja Obama unterstützen müssen, als er die rote Linie in Syrien ziehen wollte, das heißt ein Flugverbot und Schutzzonen in diesem verheerenden Bürgerkrieg. Wir hätten diese Flüchtlinge gar nicht. Jetzt bombardiert Moskau noch. Moskau setzt noch eins drauf und bringt noch weitere Flüchtlinge zu uns. Putin ist ein Kriegstreiber und ist einer, der mit diesen Flüchtlingen auch Europa in die Ecke treibt.
    Klein: ... sagt Werner Schulz, der frühere Europaabgeordnete der Grünen und ehemalige DDR-Bürgerrechtler. Herr Schulz, danke für das Gespräch heute Morgen.
    Schulz: Bitte schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.