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Affenforschung
Die Geburt des Altruismus

Von Martin Hubert | 22.09.2014
    Ein Käfig voller Weißbüschelaffen an der Universität Zürich. Spannung liegt in der Luft. Ein Experiment soll klären, wie sozial die Tiere sind, die zu den sogenannten Marmosetten gehören, einer Gattung der Krallenaffen. Normalerweise leben die quicklebendigen Tiere in Brasilien. Ihre Ohren sind von einem Büschel grauweißer Haare eingerahmt. Ihr Fell ist goldbraun gefleckt, ihr buschiger Schwanz oft länger als ihr zarter, schlanker Körper. Aber jetzt wird es langsam ernst.
    Der Käfig besteht aus zwei Abteilen, die voneinander durch eine Wand getrennt sind. In einem der Abteile sitzt ein Weißbüschelaffe. Er sieht, wie eine Züricher Forscherin ein Stück Futter auf ein kleines Tischchen legt. Wenn der Affe seinen kleinen Körper in Bewegung setzt und mit seinen Ärmchen weit ausholt, kann er dieses Tischchen mithilfe eines Hebels bewegen. Aber davon hätte er nichts. Im Gegenteil. Er würde das Tischchen mit dem wunderbaren Mahl nur ins Nachbarabteil des Käfigs bugsieren. Dort würde es ein zweiter Weißbüschelaffe dankbar abnehmen. Was wird passieren? Der Hebel bewegt sich. Weißbüschelaffe 1 ist zur Tat geschritten. Weißbüschelaffe 2 nimmt im Nachbarkäfig das Präsent vom Tischchen, gebettelt hat er darum nicht. Judith Burkart vom Anthropologischen Institut der Universität Zürich versichert: Ein Weißbüschelaffe macht das immer wieder, sobald ein anderer Weißbüschelaffe da ist, der etwas davon hat.
    "Wichtig ist dabei, dass er nie eine Belohnung bekommen hat, also es war nur der Aufwand für den anderen, damit der das Futter bekommen kann. Und da haben wir eine ganze Reihe von Kontrollversuchen gemacht, um zu zeigen, dass es tatsächlich die Anwesenheit von Anderen ist. Es scheint tatsächlich so zu sein, dass die einfach bereitwillig diesen Aufwand auf sich nehmen."
    Zig mal schon haben die selben Weißbüschelaffen sich ohne Belohnung als edler Spender erwiesen. Judith Burkart begann mit diesen Experimenten an Marmosetten vor einigen Jahren, weil sie herausbekommen wollte, wann Lebewesen beginnen, sich altruistisch, also völlig selbstlos, zu verhalten. Zunächst schloss sie aus, dass die Tiere nur deshalb selbstlos handelten weil sie eng miteinander verwandt waren.
    "Zuerst haben wir Familiengruppen getestet, wo viele verwandte Tiere drin sind. Da funktioniert es ganz gut. Und dann haben wir extra Paare zusammengesetzt von Tieren, die sich noch nie gesehen haben, die auch nicht genetisch miteinander verwandt waren: Und dann funktioniert es genau so."
    Judith Burkart glaubt daher, dass die Bedingungen, unter denen die Marmosetten aufgezogen werden, sie zu selbstlosen Wesen machen. Sie gehören zu den seltenen Tieren, die kollektiv versorgt werden. Nicht nur die Mutter kümmert sich um sie, sondern auch Vater, Großvater, der große Bruder oder andere Verwandte sind immer für sie da. Der Drang, dem Nachwuchs kooperativ zu helfen, scheint bei diesen Tieren einfach in den Genen zu liegen.
    "Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass erwachsene Tiere einfach generell positiv auf kleine Kinder reagieren bei den Weißbüschelaffen. Sobald sie ein hungerschreiendes Kind hören, gehen sie zu dem hin und nehmen es auf. Es reicht sogar, wenn man einen iPod in den Käfig legt, der solche infantilen Vokalisierungen hat. Die Männchen kommen und schauen sich das an und möchten tragen und füttern, also das ist ganz stark bei denen da."
    Mit einem internationalen Forscherteam hat Judith Burkart ihren Altruismustest inzwischen an 24 sozialen Gruppen aus 15 verschiedenen Primatenarten durchgeführt. Das Ergebnis: Nur Menschen und Affenarten wie Tamarine und Marmosetten, die kollektiv aufgezogen werden, verhielten sich im Experiment durchgängig selbstlos. Schimpansen, Kapuzineraffen oder Makakken dagegen, die nur von der Mutter aufgezogen werden, machten das nur sehr selten. Die neue Studie liefert also gute Belege für die sogenannte "cooperative breeding theory": Für die Annahme, dass Selbstlosigkeit vor allem durch Arten in die Welt kam, die ihren Nachwuchs kollektiv aufzogen.