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Späterer Unterrichtsbeginn
Schülerin: "Ich bin tatsächlich sehr ausgeschlafen"

Morgens länger schlafen - am Gymnasium Marienthal in Hamburg beginnt der Unterricht seit drei Jahren eine halbe Stunde später. Mit Erfolg: Der Schulbeginn ist entspannter, die Schüler sind konzentrierter. Das hat positive Auswirkungen auf den weiteren Lebensweg, sagen Schlafforscher.

Von Thomas Samboll | 17.08.2018
    Dreieichschule Langen (Gymnasium), am 20.03.2015
    Anders als hier geht der Unterricht im Hamburger Marienthal Gymnasium eine halbe Stunde früher los (imago / Jan Hübner)
    Im Oberstufenkurs des Gymnasiums Marienthal geht es an diesem Vormittag richtig zur Sache. 'Schlagfertigkeit und spontanes Reden' ist das Thema, mit dem sich gerade ein rundes Dutzend Elftklässler beschäftigt. Dafür muss man wach und ausgeschlafen sein. Und tatsächlich reden sich die Jugendlichen im Unterricht die Köpfe heiß. Von Müdigkeit keine Spur, auch bei der 17jährigen Heidi nicht:
    "Ja, ich bin tatsächlich sehr ausgeschlafen. Dadurch, dass ich eine halbe Stunde später zur Schule muss, kann ich eine halbe Stunde länger schlafen. Und das bringt schon was, auch wenn's im ersten Moment nicht so aussieht. Eine halbe Stunde ist viel! Ich komme morgens besser aus dem Bett, schneller aus dem Bett. Ich bin besser gelaunt tatsächlich auf dem Weg zur Schule und kann dann in der Schule besser arbeiten."
    Biologische Gründe, warum Jugendliche Nachteulen sind
    Seit drei Jahren fängt der Unterricht für Heidi und ihre Mitschüler nicht wie sonst in Hamburg üblich um acht, sondern erst um halb neun an. Gerade ältere Jugendliche seien morgens oft noch sehr müde. Und das bedeutet: Stress! Warum das so ist, erklärt die Schlaf-Forscherin Eva Winnebeck von der Ludwig-Maximilians-Universität in München:
    "Es geht hier ganz besonders um die Jugendlichen, also so ab Mitte Teenager-Alter, so grad für die letzten Jahre eigentlich in der Schule. Und das liegt daran, dass gerade zu der Zeit die Jugendlichen besonders spät zu Bett gehen. Dafür gibt es verschiedene Gründe, unter anderem eben starke biologische Gründe. Und dadurch, dass die Schule so früh beginnt, kriegen sie zuwenig Schlaf."
    Das liegt vor allem an der sogenannten inneren Uhr. Das sind biologische Prozesse im Gehirn, die unter anderem auch unseren Schlaf- und Wach-Rhythmus steuern. Bei Jugendlichen ticke diese Uhr irgendwie anders, später, eher so wie bei nachtaktiven Eulen, sagen die Schlafforscher:
    "Es scheint auch so zu sein, dass Jugendliche nicht so schnell einen sogenannten Schlafdruck aufbauen. Das hießt, nicht so stark das Bedürfnis sich so schnell entwickelt, dass man dringend schlafen muss. Und diese zwei Sachen wirken zusammen, warum Jugendliche tendenziell einfach spät einschlafen."
    Phänomen des Schlafmangels bei Jugendlichen
    Die Wissenschaftler rätseln immer noch, warum das so ist. Dass es das Phänomen des Schlafmangels bei Jugendlichen tatsächlich gibt, ist aber schon in vielen Studien nachgewiesen worden. Eva Winnebeck und ihre Kollegen von der Ludwig-Maximilians-Universität wollen dazu demnächst die erste in Deutschland durchgeführte Forschungsarbeit veröffentlichen:
    "Ich kann auch hier schon sagen, dass sich unsere Studie genauso einreiht in die anderen, dass wir auch eindeutig positive Effekte vermerken an Tagen, wo die Schüler später zur Schule gehen!"
    Solche 'positiven Effekte' kennt auch Heidis Mitschüler Jasper. Er ist 14 und geht in die achte Klasse. Jasper schläft manchmal richtig schlecht und ist dann schon um halb fünf wach. Und natürlich völlig unausgeschlafen!
    "Aber an Tagen, wo ich normal aufwache, da bin ich auf jeden Fall auch besser gelaunt, als ich früher noch in der Grundschule war. Also ich kann sagen, ich habe da auch schon einen Unterschied bemerkt. Dass ich mich irgendwie fröhlicher fühle. Außerdem bemerke ich, dass ich als Fahrradfahrer auf den Straßen mehr Platz habe, wodurch der Schulweg auch stressfreier wird. Geschlafen habe ich auch früher im Unterricht nicht! Aber ich habe schon das Gefühl, dass meine Ohren ein bisschen besser verarbeiten können, was sie hören."
    Bessere Leistungen in der Schule, mehr Sicherheit auf dem Schulweg - ausgeschlafene Schüler sind eindeutig im Vorteil, meint Eva Winnebeck. Die Dauer-Müdigkeit könne die Jugendlichen dagegen sogar richtig krank machen:
    "Man weiß, dass sie eher zu Alkoholkonsum neigen, dass die Depressions-Wahrscheinlichkeit hochgeht, dass die Neigung zu Übergewicht enorm sich erhöht. Also es gibt durchaus auch Langzeitfolgen einfach für die Gesundheit!"
    Besseres Schulklima mit ausgeschlafenen Schülern
    Am Gymnasium Marienthal hat man sich deshalb zum Handeln entschlossen. Eine halbe Stunde später mit dem Unterricht anzufangen, gefällt Schulleiter Dietrich Schlüter auch ganz persönlich:
    "Dieser spätere Schulbeginn kommt mir enorm entgegen. Weil ich wirklich ein Abendmensch bin. Mein Eindruck ist, dass das insgesamt hier dem Schulklima ganz gut tut. Dass es morgens relativ entspannt ist. Das ist ein Eindruck, den ich habe, wenn ich durch die Schule gehe."
    Um später anfangen zu können, wurde die Mittagspause verkürzt, sagt Oberstufenschülerin Heidi:
    "Früher war es so, dass wir mittags anderthalb Stunden Pause hatten. Das fand ich ein bisschen schwierig, weil das teilweise zuviel war. Man saß rum, hat sich gelangweilt, hatte nichts zu tun. Jetzt ist es nur noch eine Stunde. Da haben wir sozusagen die halbe Stunde vom Anfang her. Nach hinten hat sich da nicht wirklich was verschoben von den Zeiten. Jetzt sind es fünf Minuten mehr, was die Länge der Schulzeit angeht."
    Heidis Gymnasium ist eine Ganztagsschule. Deshalb auch die lange Mittagspause. Andere Schulen wie zum Beispiel das Rostocker Christopherus-Gymnasium haben diese "Spar-Möglichkeit" nicht, so Schulleiter Steffen Kästner:
    "Würden wir den Unterrichtsbeginn um eine Stunde oder länger verschieben, dann würde auch das Unterrichtsende unweigerlich eine Stunde nach hinten rausrutschen, was zur Folge hätte, dass ein sehr großer Teil unserer Schüler das Nachmittagstraining in ihren Vereinen verpassen würden. Ein Kollege von mir hat das so formuliert: Wir würden also die Vereine hier in der Umgebung komplett totmachen."
    Aber nicht nur deshalb ist Steffen Kästner in puncto späterer Schulbeginn skeptisch, auch wenn er die Erkenntnisse der Schlafforscher nicht anzweifelt. Ihm bereitet auch Sorgen, dass die Jugendlichen dann häufiger allein aus dem Haus gehen müssten, möglicherweise ohne Frühstück, weil ihre Eltern früher zur Arbeit gehen:
    "Ich finde einfach, dass die Verhältnisse, in denen wir hier in Deutschland leben, was Arbeitswelt und Schulwelt betrifft, in dieser Frage nicht aufeinander abgestimmt sind."
    Frühstück in der Schulmensa
    Auch dieses Problem hat das Gymnasium Marienthal offenbar gelöst: Wer will, kann nämlich auch schon um acht kommen und mit seinen Kumpels klönen oder Hausaufgaben machen. Lehrer übernehmen die Betreuung. Und in der Schulmensa gibt's Frühstück! Schulleiter Dietrich Schlüter findet die Lösung mit der halben Stunde später optimal. Denn:
    "Ich will auch mal sagen: Es gibt Kinder, die morgens fit sind und vor Energie explodieren. Was sollen die dann machen um acht Uhr? Kinder, die eben um die Zeit schon explodieren vor Energie, die gibt's ja auch. Das Ganze ist eine sehr komplexe Angelegenheit. Ich finde, es gibt da keine einfachen Antworten!"
    Eva Winnebeck glaubt dagegen, dass im Prinzip jede Schule in Deutschland später mit dem Unterricht anfangen könnte. Und sollte. Denn, so die Schlafforscherin:
    "Es steht sehr viel auf dem Spiel! Es geht nicht um ein bisschen praktischeren Schulbeginn. Es geht darum, dass unsere Jugendlichen unausgeschlafen sind. Dass sie dadurch krankheitsgefährdet sind und anderen Risiken ausgesetzt sind und nicht optimal lernen können und teilweise eben auch enorm benachteiligt! Weil das über weitere Lebenswege eben entscheidet! Es sind hier Riesenfolgen des frühen Schulbeginns. Und andere Länder schaffen das auch. Das heißt, das ist mehr eine Tradition, mit der gebrochen werden muss!"