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Afghanistan
"Pakistan setzt die Taliban quasi als fünfte Kolonne ein"

Der afghanische Philosoph Masoud Rahel hat die Bundesregierung und die europäische Politik aufgefordert, im Kampf gegen die Taliban mehr Einfluss auf Pakistan zu nehmen. Zusammen mit China und Russland müsse ein Konzept gegen Terrorismus und Fundamentalismus entwickelt werden, sagte er im DLF.

Masoud Rahel im Gespräch mit Michael Köhler | 03.10.2016
    Afghanische Sicherheitskräfte versuchen die Lage in Afghanistan in den Griff zu bekommen.
    Afghanische Sicherheitskräfte versuchen die Lage in Afghanistan in den Griff zu bekommen. (dpa / picture alliance / Ghulamullah Habibi)
    Michael Köhler: In den nächsten zwei Tagen veranstalten die Europäische Union und die Regierung Afghanistans gemeinsam die Brüsseler Afghanistan-Konferenz. Um Reformpläne auf dem Weg zu Frieden, Staatsaufbau und Entwicklung wird es gehen. Das Land wird seit 35 Jahren vom Krieg beherrscht und heimgesucht. Binnenflüchtlinge, bewaffnete Milizen sind große Probleme für den zivilen Wiederaufbau, und doch gibt es Fortschritte, etwa ein arbeitendes Parlament. Die Partei des Kriegsherrn und Warlords Hekmatyar hat einen Friedensvertrag mit der Kabuler Regierung unterzeichnet, vielleicht bedeutet das sogar die Rückkehr Hekmatyars in die afghanische Politik. Ich habe mit dem in Deutschland lebenden afghanischen Philosophen Masoud Rahel gesprochen und ihn zuerst gefragt: Sind die Menschen immer noch zahlenmäßig groß auf der Flucht?
    Masoud Rahel: Die Zahlen der Flüchtlinge in Afghanistan sind sehr virulent, also man redet von zwei bis drei Millionen Flüchtlingen in Pakistan, und die Zahl der Flüchtlinge im Iran ist noch nicht geklärt, und in Deutschland sind auch mittlerweile Hunderttausende von Flüchtlingen da. Die Zahlen variieren sehr stark.
    Köhler: Es gibt keine Arbeit, es gibt keine Sicherheit im Land, was motiviert die Menschen überhaupt noch zu bleiben? Weil es ihre Heimat ist oder ihr Schicksal oder sie keine andere Zukunft haben?
    "Die Situation in Afghanistan dürfen wir nicht so pessimistisch sehen"
    Rahel: Die Situation in Afghanistan ist so schlimm, wie Sie das geschildert haben, trotzdem, durch den Einsatz der NATO in Afghanistan gab es Zeiten von relativem Frieden, und der Aufbau in Afghanistan hat teilweise gut funktioniert. Es gibt durchaus in Afghanistan etwas, was man als Oase des Friedens bezeichnen kann, und die wirtschaftliche Lage hat sich innerhalb dieser zwölf Jahre Einsatz der NATO in Afghanistan erheblich erholt. Also die Situation in Afghanistan dürfen wir nicht so pessimistisch sehen, wie man es im Westen tut. Und die Afghanen, die im Land selbst leben, sehen ihre eigene Situation nicht so – trotz allem, was da an schlimmen Sachen passiert, sind einige friedliche Zonen in Afghanistan.
    Afghanische Männer beten zum Opferfest neben einer Moschee in Kabul, im Vordergrund fliegt ein Schwarm Tauben.
    Afghanische Männer beten zum Opferfest neben einer Moschee in Kabul. (AFP / Shah Marai)
    Köhler: Herr Rahel, wie kann so etwas wie Staatsbildung oder Nation Building gelingen? Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Ihnen vor einigen Jahren, da sagten Sie, es gibt so etwas wie zentralstaatliche demokratische Tradition, an die sich aber keiner mehr erinnert. Wir haben gerade gesagt, wir haben das Problem der intern Vertriebenen, wir haben das Problem, dass es einen Rückzugsraum auch des IS ist – wie kann Nation Building, wie kann Staatsbildung, der Aufbau von funktionierenden Strukturen gelingen? Denn immerhin, es ging ja jährlich … also es gibt Zahlen zwischen 430 und 460 Millionen Euro allein an Entwicklungshilfe aus Deutschland in das Land, aber irgendwie hat man von außen den Eindruck, dass die Strukturen noch nicht da sind.
    "Die afghanische Regierung ist nicht kollabiert und funktioniert"
    Rahel: Zuerst einmal, die afghanische Regierung oder die afghanische Sicherheit hat Ende 2015 die Sicherheit von der NATO, die Aufgabe der Sicherstellung der Sicherheit in Afghanistan von der NATO übernommen, und 2014 haben einige Journalisten darüber geredet, dass die afghanische Regierung innerhalb von Wochen kollabieren würde. Und jetzt, zwei Jahre später, stellen wir fest, dass die afghanische Regierung noch nicht kollabiert ist und diese Regierung funktioniert. Die afghanische Armee kann die Sicherheitslage in Afghanistan relativ gut sichern. In den deutschen Medien redet man permanent von dem Vormarsch der Taliban, das ist zum Teil richtig, aber es gibt auch Rückzug der Taliban, zum Beispiel im Fall Kundus – die Taliban haben Kundus erobert –, und wir müssen nicht die Lage in Afghanistan so pessimistisch sehen, wie man es im Westen tut. Der Aufbau des Staates in Afghanistan, der Aufbau der Armee in Afghanistan hat zum Teil gut funktioniert. Die afghanische Armee ist tatsächlich eine Dritte-Welt-Armee, unterfinanziert, unterbewaffnet, aber trotzdem, seit zwei Jahren kann diese Armee die Taliban eindämmen. Jetzt, in Bezug auf den Westen, müssen wir einfach kontinuierlich daran arbeiten, dass die afghanischen Sicherheitskräfte zumindest finanziell unterstützt werden, aber auch moralisch. Die Tatsache, dass diese Konferenz stattfindet, ist erst mal eine moralische Unterstützung für die afghanische Armee und die afghanische Regierung. Inhaltlich natürlich bietet diese Konferenz eine Plattform, um unterschiedliche Themen zu besprechen – Zivilaufbau, Aufbau von Institutionen –, aber wir müssen feststellen, dass in diesem Afghanistan Institutionen zum Teil aufgebaut sind und zum Teil auch gut funktionieren, zum Beispiel das Parlament funktioniert ziemlich gut. Die Regierung, trotz aller Korruption, wir haben eine funktionsfähige Regierung, und die Armee, die afghanische Armee und Sicherheitskräfte, sie haben es geschafft, innerhalb von zwei Jahren mit minimaler Unterstützung der NATO die Sicherheit in diesem Land zum Teil zustande zu bringen.
    Köhler: Ich höre aber, dass die Arbeitslosigkeit groß ist, die Armut im Nordosten würde explodieren. Da stellt sich doch die Frage: Ist die Entwicklungszusammenarbeit überhaupt glücklich gewesen, oder ist die gescheitert?
    "Die Angriffe des Taliban-Terrorismus verunsichern"
    Rahel: Die Entwicklungshilfe ist noch nicht gescheitert. Wissen Sie, das Problem ist, die Angriffe der Taliban führen zu einer Verunsicherung der Bevölkerung. Also laut Statistik sind einige Milliarden Investitionen in Afghanistan, das heißt, die Angriffe des Taliban-Terrorismus verunsichert, schafft eine Situation der Unsicherheit, Unstabilität, und natürlich wirkt das negativ auf die wirtschaftliche Lage. Aber die Probleme, die Sie bezeichnen – Armut und Arbeitslosigkeit –, ist ein Problem des Nahen Ostens insgesamt. In manchen arabischen Ländern haben Sie eine Jugendarbeitslosigkeit von 60 Prozent, und das hat natürlich auch damit zu tun, dass ISIS entstanden ist, aber wir arbeiten daran, es wird daran viel gearbeitet, dass man diese Situation in den Griff bekommt.
    Köhler: Herr Rahel, mich interessiert sehr, wie Sie den Waffenstillstand, den gegenwärtigen, einschätzen und auch die, ja, wie soll man sagen, die Zugeständnisse an Hekmatyar und vielleicht auch die Teilamnestie der Strafaussetzung, wie Sie das beurteilen. Ist das ein wirksames Instrument zur Befriedung des Landes, oder ist da quasi nur der Deckel auf einem siedenden Topf und man kann warten, bis das nächste Unglück passiert?
    Rahel: Der Versuch, Hekmatyar zu integrieren in diesen gesamten politischen Prozess, das ist ein Experiment, sage ich mal. Ich weiß nicht, was dabei herauskommt. Wir müssen feststellen in den nächsten Jahren, inwieweit diese Integration von Hekmatyar, den ich für einen Fundamentalisten halte, im Kontext, im politischen Prozess gelingen würde. Das müsste man mal genau beobachten. Das kann man momentan nicht sagen. Ich habe da keinen positiven Eindruck von Hekmatyar oder der Integration von Hekmatyar in den afghanischen Regierungs- oder politischen Prozess.
    Köhler: Ja, aber die Milizen und die islamistischen Kräfte sind ja eine ernst zu nehmende politische Kraft im Land, die immer wieder zu Störungen führt, und wenn man sie nicht auf irgendeine Weise mit einbindet, wird da keine dauerhafte Reform stattfinden, oder?
    "Es muss auf internationaler Ebene Druck auf Pakistan geben"
    Rahel: Das kann man versuchen. Wir sind auch in Gesprächen mit den Taliban. Wir müssen auch daran festhalten, dass unter den Taliban auch unterschiedliche Fraktionen sind – es sind Ideologen, aber auch Pragmatisten. Die wichtigste Frage ist es, im Kontext Afghanistans, ist die Tatsache, dass Pakistan, Taliban so eine Art fünfte Kolonne aufbaut. Wichtig ist, dass die Bundesregierung und die europäische Politik Einfluss nimmt auf Pakistan. Ob Europa direkten Einfluss auf Pakistan …
    Köhler: Da finden ja auch Massenabschiebungen zurzeit statt.
    Rahel: Ja.
    Köhler: Rückführungen.
    Rahel: Rückführungen, nein, aber die Tatsache, dass Pakistan quasi Taliban als fünfte Kolonne in Afghanistan einsetzt und benutzt, und darauf muss man Einfluss nehmen. Und man muss auch darauf Einfluss nehmen, auf diese Koranschulen, die an der Grenze zu Pakistan gebaut worden sind. Wir wissen über dieses Problem. Dieses Problem Koranschulen an der Grenze Afghanistans wurde 2002, 2001 ein Thema, und das haben wir vergessen. Wir müssen auf internationaler Ebene versuchen, Druck auf Pakistan auszuüben, damit Pakistan seine Unterstützung für die Taliban unterlässt – vielleicht durch China, weil Pakistan ist ein Klientelstaat von China. Und wir müssen auch neben dieser Konferenz versuchen, mit Russen und Chinesen – weil Russen und Chinesen sind auch von diesem islamischen Fundamentalismus bedroht –, ein Gesamtkonzept zu entwickeln zur Eindämmung von Terrorismus und Fundamentalismus. Bedauerlicherweise haben wir momentan eine Art neuen Kalten Krieg mit Russland, und man soll verhindern, man kann das nicht zulassen, dass dieser neue Kalte Krieg Auswirkungen hat auf Afghanistan oder Syrien. Wir müssen in diesem Kontext auch von denen mal uns beraten lassen und im Gespräch bleiben.
    Zweitens: Bei der afghanischen Armee müssen wir gucken, dass wir Special Forces bilden, Spezialtruppen bilden. In Bezug auf Waffenlieferungen für die afghanische Armee ist die Bundesregierung, Europäer ein bisschen zu sehr zurückhaltend. Wir müssen diese Kardinalfrage der Sicherheit in Afghanistan … Übrigens, Sicherheit in Afghanistan ist verbunden mit der Sicherheit im ganzen Nahen Osten. Die Verbreitung von islamischem Islamismus im Nahen Osten hat schon – das haben wir schon erfahren – Auswirkungen auf die europäische Sicherheit und die amerikanische Sicherheit. Und unser Einsatz in Afghanistan hat bis jetzt - wir haben es geschafft, dass es in Afghanistan den Terrorkampf zumindest nicht mehr gibt, existiert. In den letzten 16 Jahren ist kein einziger Terrorist, der in Afghanistan ausgebildet worden ist, nach Europa gekommen oder nach Europa. Das heißt, die Sicherstellung der Sicherheit in Afghanistan ist Teil eines Gesamtkonzepts für den Nahen Ostens. Ich bin einverstanden mit der Aussage von Frau von der Leyen, die sagt, in Afghanistan haben wir einiges erreicht. Und wir müssen das festhalten und nicht zuletzt die Rückführung einiger Flüchtlinge, die in Deutschland sind, afghanische Flüchtlinge, ein wesentlicher Teil dieser Rückführung findet statt mit dem Hinweis, dass man in Afghanistan arbeitet an zivilrechtlichen Themen und zivilem Aufbau.
    Köhler: Versprechen Sie sich was von der Brüsseler Konferenz, der internationalen Afghanistan-Konferenz?
    "Konferenzen sind eine Bestätigung unserer Verpflichtung gegenüber Afghanistan"
    Rahel: Ja, diese Konferenzen sind deswegen notwendig, weil diese Konferenzen eine Plattform anbieten, damit man wesentliche Fragen bespricht, neue Zielsetzungen. Das ist auch eine Konfirmation unserer Verpflichtung gegenüber Afghanistan …
    Köhler: Bestätigung ...
    Rahel: Und zweitens, diese Konferenzen fördern die Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Organisationen, die in Afghanistan arbeiten und zum Teil miteinander eigentlich gar nicht in Afghanistan selbst arbeiten. Das heißt, die gemeinsame Besprechung, gemeinsame Zielsetzung in Afghanistan ist eine notwendige Sache. Konferenzen sind sehr begrüßenswert.
    Köhler: Das sagt der Philosoph Masoud Rahel zur kommenden Brüsseler Afghanistan-Konferenz.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.