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Afghanistan
Vom Schlächter zum Politiker

Gulbuddin Hekmatyar ist bekannt als "Schlächter von Kabul". Doch nun gibt es einen Friedensvertrag zwischen der afghanischen Regierung und seiner islamistischen Bewegung. Somit werden er und seine Gefolgsleute am politischen Prozess teilnehmen. Ein Vorbild für den Umgang mit den Taliban?

Von Sandra Petersmann | 21.10.2016
    Auf einem Bildschirm in einem Saal ist der afghanische Kriegsherr Gulbuddin Hekmatyar zu sehen. Er unterschreibt gerade den Friedensvertrag mit der Regierung.
    Auf einem Bildschirm in einem Saal ist der afghanische Kriegsherr Gulbuddin Hekmatyar zu sehen. Er unterschreibt gerade den Friedensvertrag mit der Regierung. (AFP / Wakil Kohsar)
    Die Friedenszeremonie hat etwas Surreales: Die geballte politische Prominenz der afghanischen Hauptstadt sitzt im Präsidentenpalast und schaut sich auf einer großen Leinwand ein Video an. Hauptdarsteller des Videos ist Gulbuddin Hekmatyar.
    Ein älterer, schlanker Mann mit schwarzem Turban, gepflegtem langen Graubart und edler Brille, vor einer blauen Leinwand sitzend. Der Ton scheppert blechern.
    "Ich hoffe, dass dieser Vertrag die Krise beenden und für Stabilität sorgen kann", sagt der 69-jährige Hekmatyar in seiner voraufgezeichneten Videobotschaft. Und er hoffe außerdem, dass die verbliebenen ausländischen Truppen schnell abziehen.
    Wo er sich aufhält, bleibt unklar. Noch ist Gulbuddin Hekmatyar ein gesuchter Terrorist. Er steht seit 2003 auf der Terrorliste der Vereinten Nationen. Vor den geladenen Gästen im Palast ergreift anschließend Präsident Ashraf Ghani das Wort.
    "Diese Zeremonie ist auch eine Chance für die Taliban und andere Oppositionsgruppen, die Chance zu nutzen, den Weg des Friedens einzuschlagen, um am Wiederaufbau des Landes teilzunehmen."
    Ein seltener Hoffnungsschimmer
    Aus Afghanistan kommen nach 15 Jahren NATO-Mission kaum noch gute Nachrichten. Das Land lebt mit dem Krieg. Die Zahl der zivilen Opfer steigt. Immer mehr Menschen sind auf der Flucht – weil ihnen Sicherheit und eine Perspektive fehlen.
    Der Friedensvertrag zwischen der afghanischen Regierung und der islamistischen Bewegung von Gulbuddin Hekmatyar vom 29. September wirkt da wie ein seltener Hoffnungsschiffer, glaubt Alexey Yusupov von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kabul.
    "Mitten in einer sehr kriegsähnlichen Situation ist es ein symbolisches Ereignis, was für Frieden steht, das zeigt, dass Frieden möglich ist. Das zeigt, dass Parteien, die schon seit Jahrzehnten kämpfen, theoretisch an den Tisch kommen können. Trotzdem hat das natürlich auch den Effekt: er wird reingewaschen, er kriegt einen Persilschein. Er ist ein legitimer politischer Player. Und das ist für sehr viele, die sich noch genau daran erinnern können, was er alles angerichtet hat, mit viel Blut, das geflossen ist durch seine Schergen und ihn selbst, die sagen sich jetzt natürlich: ja, super!"
    Gulbuddin Hekmatyar, auch bekannt als Schlächter von Kabul, verkörpert fast vier Jahrzehnte Krieg und Gewalt in Afghanistan. Seine "Hezb-e-Islami" wird für Mord, Vergewaltigung und Terror verantwortlich gemacht. Doch in Zukunft werden Hekmatyar und seine Leute am politischen Prozess teilnehmen können.
    Frieden ohne Gerechtigkeit?
    Auch an Wahlen, falls es noch einmal welche geben sollte. Die Parlamentswahlen für dieses Jahr wurden abgesagt. Ein neues Datum gibt es nicht. Afghanistans Menschenrechtskommissarin Sima Samar ist der Vertrags-Zeremonie im Präsidentenpalast am 29. September demonstrativ ferngeblieben.
    "Ich befürworte Verhandlungen. Aber wir sollten in diesen Verhandlungen nicht die Gerechtigkeit und die Menschenrechte untergraben. Wenn Gulbuddin Hekmatyar sich öffentlich beim afghanischen Volk und insbesondere bei den Opfern entschuldigt hätte, bevor der politische Prozess beginnt, hätte er das Leid der Opfer in diesem langen Krieg anerkannt. Ich glaube nicht, dass es Frieden ohne Gerechtigkeit geben kann."
    Nach dem Einmarsch der sowjetischen Besatzungstruppen 1979 zog Gulbuddin Hekmatyar wie viele andere in den heiligen Krieg gegen die ungläubigen Kommunisten. Seine islamistische Gruppe "Hezb-e-Islami" bekam über den Vermittler Pakistan besonders viel Geld und Waffen aus den USA und aus Saudi-Arabien.
    Nach dem Abzug der Sowjetunion brach dann 1992 ein Bürgerkrieg aus, und Hekmatyar und seine Männer waren maßgeblich daran beteiligt, Kabul in Schutt und Asche zu legen. Sie bombten, plünderten und vergewaltigten. Mehrere zehntausend Menschen verloren ihr Leben.
    Auch Hekmatyars Gruppe ist für Anschläge verantwortlich
    In den vergangenen 15 Jahren kämpfte Hekmatyar gegen die internationalen Truppen und gegen die afghanische Regierung, die der Westen nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in Kabul an die Macht gebracht hat. Der radikale Islamist schloss sich nie den Taliban an. Doch auch seine Gruppe ist für Anschläge verantwortlich. Auf amerikanische und französische Soldaten. Hekmatyars "Hezb-e-Islami" bekannte sich auch zu einem Selbstmordattentat in einem Supermarkt in Kabul.
    "Ich bin gegen Rache. Ich bin gegen die Todesstrafe. Aber ich bin dafür, die Wunden der Opfer zu heilen. Ich denke bei dem Deal mit Hekmatyar an das Gesicht meiner Kollegin. Du siehst das politische Spiel, das sie spielen. Ich spreche jetzt als Opfer. Es ist sehr schwer, das Leid zu vergessen."
    Sima Samar, die Chefin der afghanischen Menschenrechtskommission, verlor durch den Supermarkt-Anschlag im Januar 2011 ihre Kinderrechtskommissarin Hamida Barmaki. Der Attentäter riss Barmaki, ihren Mann und ihre vier Kinder mit in den Tod, als er seine Sprengstoffweste zündete.
    Doch der Friedensvertrag, den Hekmatyar jetzt mit der afghanischen Regierung geschlossen hat, garantiert ihm und seinen Anhängern Schutz vor einer Strafverfolgung. Für "vergangene militärische und politische Handlungen", wie es im Dokument heißt. Vermutlich wird sein Name bald von der Terrorliste gestrichen. Im Gegenzug hat sich Hekmatyar verpflichtet, die Waffen niederzulegen und die afghanische Verfassung anzuerkennen. Ahmad Shuja von der internationalen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch fragt sich, ob der Preis für den Frieden zu hoch ist.
    Kultur der Straflosigkeit - international gefördert
    "Die Regierung argumentiert, dass dieser Konflikt unerträglich ist. Was sie uns noch nicht erklärt hat ist, wie uns dieser Deal dem Frieden auch nur einen Schritt näher bringt. Heute ist Kabul oder ein anderer Teil des Landes nicht sicherer als gestern oder vorgestern oder vor zwei Monaten. Es gibt keine Garantie für Frieden. Derzeit zementiert dieser Deal nur die Kultur der Straflosigkeit. Und wir müssen uns als Nation und als Staat fragen: wem dient diese Kultur der Straflosigkeit? In welche Richtung führt uns diese Straflosigkeit? Das ist eine Frage, die noch niemand beantwortet hat."
    Die internationale Staatengemeinschaft hat die Kultur der Straflosigkeit in Afghanistan vor 15 Jahren gefördert, als sie mutmaßliche Kriegsverbrecher zu Partnern machte, um die Taliban zu stürzen. Der Friedensvertrag der afghanischen Regierung mit Gulbuddin Hekmatyar ist ein möglicher Vorgeschmack auf weitere Abkommen, die noch folgen könnten. Auch mit Vertretern der Taliban.