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Afghanistan wählt: Zwischen Freund und Feind

Am Donnerstag wählt Afghanistan einen Präsidenten. Der seit 2001 regierende Amtsinhaber Hamid Karsai geht als Favorit in die Wahl - ist aber nicht beliebt. Anschlagswarnungen der Taliban sollen die Wähler einschüchtern.

Von Marc Thörner | 19.08.2009
    "Die Route, auf der wir uns gerade bewegen, ist die gefährlichste Kabuls. Am Straßenrand bieten sich unzählige Verstecke, die sich für Angriffe auf uns verwenden lassen."

    Durch die südlichen Außenbezirke der Hauptstadt bewegt sich eine Patrouille italienischer Fallschirmjäger. Ihr Kommandant macht keinen Hehl daraus, dass er jetzt lieber woanders wäre.

    "Das ist eine hoch sensible Zeit, weil die Wahlen unmittelbar bevorstehen. Wenn jemand die Lage destabilisieren möchte, dann ist das genau die richtige Zeit. Die Aufständischen versuchen gerade jetzt zu zeigen, dass sie überall präsent sind."

    Kaum hat der italienische Hauptmann das gesagt, fährt aus einer Seitenstraße ein Taxi auf den Konvoi zu.

    "Hau ab!" ruft ein MG-Schütze dem Taxifahrer im Paschtunendialekt zu und fuchtelt mit der Hand. Der Taxifahrer verlangsamt zwar sein Tempo und hält an, macht aber keine Anstalten den Armbewegungen des MG-Schützen zu folgen und sein Auto weg von der Straße zu lenken – in den Graben.

    Im Panzerfahrzeug bricht Hektik aus. Der MG-Schütze legt seine Waffe an, bereit, das Taxi zu durchlöchern. Da endlich scheint der Fahrer zu begreifen, setzt zurück und lässt sein Taxi in den nächsten Straßengraben sinken.

    Situationen, die sich in Afghanistan tagtäglich wiederholen. Und die nicht ohne Echo auf der anderen Seite bleiben.

    Im Jahre Acht der ISAF-Stationierung hat sich das Verhältnis der Bevölkerung zu den ausländischen Truppen verändert – nicht zum Guten. Auf einem Platz am Südrand von Kabul finden sich Fahrer und Reisende zusammen, die nach Süden wollen: in die unruhige Provinz Wardak und von dort weiter Richtung Helmand oder Kandahar.

    "Manchmal kommt uns auf einer engen Straße ein Konvoi ausländischer Militärs entgegen. Dann haben wir nur die Wahl, auf sie zuzufahren und in ihrem Kugelhagel zu sterben oder von der Straße weg zu steuern, in ein möglichst tiefes Loch."

    ISAF, das bedeutet "International Security Assistance Force". Getreu einem Mandat der UNO soll die internationale Schutztruppe den Sicherheitskräften der Afghanen assistieren.
    Doch über eines hegt hier keiner einen Zweifel: Für die ISAF steht die Unversehrtheit der eigenen Soldaten an erster Stelle. Ob Afghanen diesem Sicherheitsbedürfnis der ausländischen Uniformträger zum Opfer fallen oder nicht, das sei den ausländischen Uniformträgern doch egal.

    Die westlichen Soldaten, so glauben diese Fahrer und Reisende am Taxenplatz, seien es, die die Probleme verursachten. Sie verstünden Afghanistan nicht. Und ob sie da seien oder nicht, das mache sowieso keinen Unterschied. Verbindet irgendjemand eine Hoffnung mit den anstehenden Wahlen?

    Kopfschütteln: Weder die internationale Gemeinschaft, noch die afghanischen Politiker, da sind sich die Fahrer und Reisenden hier einig, hätten etwas zum Besseren gewendet. Angesichts dessen kommt bei einigen so etwas wie Nostalgie auf: Damals, während des Kampfes gegen die Sowjets, habe es die Mudschaheddin-Führer gegeben, die seien gut und anständig gewesen. Und dann sagt einer etwas, was man in Kabul – trotz allem – ziemlich selten hört.

    "Es ist das Recht und die Pflicht jedes Afghanen, gegen die ausländischen Truppen zu kämpfen und sie aus unserem Land zu werfen."

    Jemand hat das auf sehr grausame und sehr spektakuläre Weise zu tun versucht. Wenige Tage vor der Wahl sprengte sich ein Selbstmordattentäter vor dem Hauptquartier der internationalen Afghanistan-Schutztruppe ISAF in die Luft. Es gab mehrere Tote und Verletzte. Die Verantwortung übernahmen die Taliban. Über dem Eingang des Gebäudes flattert eine ramponierte NATO-Flagge. In einem Pavillon des weitläufigen Komplexes sitzt ISAF-Stabschef General Bertolini hinter seinem Schreibtisch. Der italienische Fallschirmjägeroffizier ist Stabschef des neuen US-amerikanischen ISAF-Chefs General Mc Crystal. Was Bertolini sagt, hört sich wie ein Appell an:

    "Wenn die Afghanen einen wirklichen Fortschritt, wenn sie nach 30 Jahren Krieg endlich den Frieden wollen, dann müssen sie der Versuchung widerstehen, die Aufständischen zu unterstützen. Die wollen ihnen keinen Frieden bringen. Die Motivation der Taliban, oder der Kriminellen vom Schlage Gulbuddin Hekmatyars oder der Haqqani-Gruppe besteht doch nur darin, Macht zu bekommen. Solchen wie denen reicht es, ihr Geld durch den Drogenhandel zu machen."

    Es scheint, als halte der ISAF-Stabschef hinter rußgeschwärzten Mauern eine Standarte hoch. Eine Standarte auf deren Fahnentuch, in Gold gestickt, die Beschlüsse der Bonner Afghanistan-Konferenz vom Dezember 2001 funkeln: Parlamentarismus, Rechtstaat, Nation Building nach internationalen Standards.

    "Die 7,5 Millionen Afghanen, die mittlerweile zur Schule gehen, tun das dank ISAF und nicht dank der Taliban. Die Afghanen müssen begreifen, dass sie ihrer Regierung Vertrauen entgegenbringen müssen, wenn sie ihre Lebensumstände wirklich verbessern wollen. Wir geben dieser Regierung alle mögliche Unterstützung. Aber die Afghanen haben sie ja selbst gewählt. Sie ist nicht Ausdruck unseres, sondern ihres Willens. Und jetzt bietet sich ihnen noch einmal eine wunderschöne Gelegenheit: Noch einmal über den Lebensstil zu entscheiden, den sie haben wollen."

    Damit drückt General Bertolini eigentlich nur das aus, was die ISAF im Auftrag der UNO tun soll: Den Afghanen helfen, ihr Land zu demokratisieren. Doch der Auftrag ist das eine, die raue Wirklichkeit das andere. Von der neuen US-Afghanistan-Strategie unterscheiden sich General Bertolinis Worte etwa so wie ein Roman Rosamunde Pilchers von einer Staubsauger-Gebrauchsanweisung.
    Das neue US-Konzept ist so realistisch, dass es schon den Zynismus streift. Die Grundüberlegung dahinter lautet etwa wie folgt: Wenn die Afghanen mit Demokratie nun einmal nichts anfangen können, wenn sie nun einmal ihren Stammeschefs und Mullahs hörig sind – dann muss man diese traditionellen Autoritäten eben mit ins Boot bekommen. Dank dieses Konzepts, so Colonel Greg Julian, habe man schließlich den Irak stabilisieren können. Armee und Polizei, schön und gut. Aber für den Sprecher der US-Armee in Kabul lautet das neue Wundermittel anders: Stammesmilizen.

    "Aus unserer Erfahrung im Irak gibt es viele Lehren zu ziehen. Einige lassen sich tatsächlich auf Afghanistan übertragen. Zum Beispiel der Aufbau einer einheimischen Schutztruppe. Das heißt: Die Einwohner der Provinzen und Distrikte nehmen selbst die Sicherheit für ihre eigenen Gouverneure, Einrichtungen und Gemeinden in die Hand. Das scheint bis jetzt sehr gut zu funktionieren, das Programm wird im Augenblick auf immer neue Distrikte in der Provinz Wardak ausgedehnt. Wir hoffen, in Zukunft dieses System auf ganz Afghanistan ausweiten zu können."

    Die Vertreter der afghanischen Zivilgesellschaft warnen vor einer solchen Strategie. Zum Beispiel Abaceen Nasimi vom Institute for War and Peace Reporting, einer internationalen Nachrichtenagentur mit Hauptsitz in London. Aus Sicht Nasimis würden die ausländischen Truppen in Afghanistan dadurch in koloniale Techniken abgleiten, in Techniken, wie sie etwa die Briten in Indien oder im Nahen Osten angewandt hätten. Das Problem dabei sei: Wenn man einmal Stammeschefs bewaffne, könne man hinterher kaum noch beeinflussen, was sie mit den Waffen machen. Nasimi:

    "Im Grunde handelt es sich um die Anwendung des alten schmutzigen 'Teile-und-herrsche'-Prinzips. Man teilt eine Gemeinschaft aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder ihrer unterschiedlichen Ideologien. Aber dadurch kann man eine Gesellschaft nicht nachhaltig stabilisieren. Langfristig gesehen wird das die rudimentären zentralstaatlichen Strukturen zerstören, die in Afghanistan vorhanden sind. Einer der Stammesältesten, die diese Miliz organisieren sollten, erklärte uns bereits ganz offen: OK, wir begrüßen dieses Modell. Dann machen wir es so: Tagsüber agieren wir jetzt als Miliz. Aber nachts kämpfen wir für die Taliban."

    Eine Gruppe scheint das neue US-Konzept außer Acht zu lassen. Die – zwar zahlenmäßig kleine, aber höchst aktive und engagierte Gruppe von Afghanen, die teils aus dem Exil zurückgekehrt sind, teils nach dem Fall der Taliban an einheimischen Universitäten studiert haben. Sie setzen ihre Hoffnung auf die Zivilgesellschaft. Nun sehen sie sich getäuscht und einer bloßen Interessenpolitik geopfert. Zu diesen Vertretern der Zivilgesellschaft gehört auch Yaqub Ibrahimi, einer der prominentesten Journalisten Afghanistans:

    "Deutschland und andere Länder sind nach Afghanistan gegangen, weil sie eine klare Mission vor Augen hatten, die sich in drei Punkten zusammenfassen lässt. Erstens: den Terrorismus bekämpfen. Zweitens: die Gesellschaft demokratisieren. Drittens: gegen den Drogenanbau und Drogenhandel kämpfen. Das war ihre Mission. Und als sie das Afghanistan-Mandat beschlossen, baten sie die Steuerzahler ihrer Länder um die nötigen Mittel: Das ist unser Ziel. Gebt uns das Geld dafür."

    Jetzt aber, so Ibrahimi, fördere die US-Armee mit ihrer Aufstandsbekämpfung in Afghanistan das Stammesdenken, die Unterordnung unter Warlords und traditionelle, nicht demokratisch legitimierte Autoritäten. Und die übrigen ISAF-Staaten seien auf Gedeih und Verderb genötigt, der US-Strategie zu folgen. Dabei scheint sich im militärischen Bereich eigentlich nur der neue politische Ansatz der Obama-Administration zu spiegeln: Weg von der Ideologie der Bush-Regierung. Vorbei die Zeit als die Idee des Nation Building, des Aufbaus eines Rechtsstaats ganz oben auf der Tagesordnung stand. Die bestehenden Machtstrukturen nutzen. Stabilität um jeden Preis herstellen. Unnachgiebige Aufständische noch härter bekämpfen als zuvor. Aber gesprächsbereite Warlords und Taliban einbinden.
    Für Präsident Obama schließt das auch Gespräche mit, so wörtlich, "Leuten ein, die wir als Fundamentalisten bezeichnen würden."

    In seinem Büro in einem der besseren Viertel Kabuls sitzt Abdelhadi Argandehwal – sichtlich gut gelaunt. Er lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass er sich schon jetzt als den Gewinner dieser Wahl sieht.

    "Wir glauben an das Prinzip des Gesprächs und deshalb begrüßen wir die neue US-Strategie, mit den Gegnern der afghanischen Regierung zu sprechen. Und wir drängen die afghanische Regierung, dieser Strategie zu folgen."

    Der gedrungene Mann Anfang 50 trägt einen Vollbart und die flache Kappe der Paschtunen. Bei ihm, so macht er deutlich, rennt Präsident Obama offene Türen ein. Er, so macht er deutlich, er ist der gesprächsbereite Fundamentalist, den Präsident Obama sucht. Seine Partei ist die Hizb Islami , die langjährige Partei Gulbuddin Hekmatyars, des Widerständlers, den ISAF-General Bertolini als Kriminellen und als Drogenhändler qualifiziert. Hekmatyar und Drogengelder?

    "Das doch lächerlich. Das glaube ich nicht. Und die, die das behaupten, glauben das doch selber nicht. Gulbuddin Hekmatyar ist ein Intellektueller. Er ist ein sehr rationaler Mensch. Er ist nicht der, den manche aus ihm machen möchten, ein Diktator oder so jemand. Damals hat man uns Freiheitskämpfer genannt. Also: Gestern waren wir noch Freiheitskämpfer und heute sollen wir Warlords sein? Das ist die Meinung von ganz bestimmten Politikern. Wir sind noch immer Freiheitskämpfer."

    Heute kämpft Hekmatyar als Verbündeter der Taliban gegen die ISAF-Truppen. Und Arghandehwal ist Hekmatyars ehemaliger Politikchef und Schatzmeister. Offiziell hat sein Zweig der Partei sich von der kämpfenden Hizb Islami getrennt. Beobachter halten das allerdings für eine Schutzbehauptung. Vor Kurzem hat Arghandehwals Hizb Islami ein Wahlbündnis mit Präsident Karsai geschlossen. Unter ganz bestimmten Bedingungen, wie Arghandehwal hervorhebt.

    "Präsident Karsai hat die meisten dieser Bedingungen akzeptiert. Die Scharia beispielsweise ist für uns ein ausgesprochen wichtiger Punkt. Falls die afghanische Bevölkerung denkt, dass die Scharia sie von der Korruption erlösen kann und von dem augenblicklichen System, das ja nicht funktioniert, dann sind wir die Ersten, die sich darüber freuen."

    Und wenn der Hizb-Islami-Chef "Scharia" sagt, dann bedeutet das nicht eine bloße juristische Verbeugung vor den traditionellen Rechtsquellen, wie sie auch die afghanische Verfassung vorsieht. Die Scharia der Hizb Islami ist eine Scharia, die sich auf Familienrecht, Strafrecht, kurz: auf die gesamte Gesellschaft erstreckt. Ein solcher Staat wäre genau der Staat, für den Bin Laden in Afghanistan gekämpft hat. Langfristig eine höchst schlechte Gewähr dafür, dass Afghanistan nicht Nährboden des internationalen islamischen Extremismus bleibt.
    Doch ist das Bündnis Präsident Karsais mit der erzfundamentalistischen Hizb Islami ein Schachzug, um die Gegner des neuen Afghanistan einzubinden? Versucht er verzweifelt und mit allen Mitteln an der Macht zu bleiben, auch wenn das den endgültigen Abschied vom Rechtstaat bedeuten würde?
    Karsais Wahlkampfstil lässt nichts Gutes hoffen.

    Allmorgendlich, wenn der Muezzin zum zweiten Gebet ruft, finden sich im Posteingang ausländischer Journalisten E-Mails von Karsais Wahlkampfmanager. Triumphmeldungen wie diese:

    "400 Mitglieder vom Team des Kandidaten Abdullah haben sich Präsident Karsai angeschlossen."

    Eine Meldung, die am nächsten Tag noch überboten wird:

    "600 Mitglieder vom Wahlkampfteam des Kandidaten Abdullah Abdullah haben sich Präsident Karsai angeschlossen. Zur Erklärung führten sie aus, dass Präsident Karsai über mehr politische Erfahrung als Abdullah Abdullah verfüge."

    Es gehört viel Idealismus dazu, um anzunehmen, dass bei solchen überraschenden Entdeckungen kein Geld im Spiel ist. Viel spricht dafür, dass es Präsident Karsai nur noch um Machterhalt zu gehen scheint. Dazu scheinen ihm alle Allianzen recht.
    Am Anfang war einmal die Nordallianz: Warlords wie die Generäle Dostum und Atta führten Tadschiken und Usbeken in den Kampf gegen die überwiegend paschtunischen Taliban. Dank der massiven Hilfe der US-Armee vertrieb die Nordallianz die Taliban 2001.
    Als Präsidenten benötigte die Nordallianz einen Vorzeige-Paschtunen – schließlich sind Paschtunen Afghanistans größter Bevölkerungsteil. Abdullah Abdullah schlug Hamid Karsai vor. Die Nordallianz ist längst zerbröckelt. Abdullah Abdullah kandidiert gegen seinen ehemaligen Schützling Karsai. Karsai designierte den Tadschiken-Warlord Fahim als Vizepräsidenten. Was wiederum General Atta empört. Der mächtige Gouverneur der Balkh-Provinz hatte sich selber Chancen auf den Posten ausgerechnet. Ein paar Wochen vor den Wahlen schloss Atta sich Karsais Rivalen Abdullah Abdullah an. Mit Gouverneur Atta erwächst Präsident Karsai ein neuer mächtiger Gegner im Norden.
    Jetzt zeigen sich die Nachteile der neuen US-Strategie: Auf starke Männer in den Provinzen zu setzen: Stammeschefs, Warlords, Mudscheheddin-Seilschaften – das könnte Afghanistan zersplittern lassen.
    In seinem De-facto-Fürstentum im Norden hat Atta bereits mit Verfolgung einflussreicher Paschtunen begonnen, weil er sie allesamt für Sympathisanten der Hizb Islami hält – den neuen Bündnispartnern Präsident Karsais.
    Aus der Balkh -Provinz berichten lokale Beobachter über schwere Menschenrechtsverletzungen. Journalisten wie Samiullah Goshtoon , in Nordafghanistan Korrespondent von Radio Free Europe und Radio Libetry:

    Diversen Paschtunen, so Goshtoon, sei in der Balkh-Provinz ihr Land weggenommen worden. Dann zählt er die Namen von 24 Personen auf, die dort in grausam umgebracht wurden. Es handele sich um Gemeindechefs, Stammesführer und andere einflussreiche Repräsentanten der paschtunischen Minderheit.

    Abaceen Nasimi, von der Nachrichtenagentur Institute for War and Peace Reporting:

    "Es gab in der Balkh-Provinz in der letzten Zeit eine Reihe von Morden, hauptsächlich an Stammesführern und an einflussreichen Persönlichkeiten der Paschtunen. Nach dem was unsere Mitarbeiter vor Ort berichten, steht Gouverneur Atta hinter diesem gezielten Vorgehen gegen die paschtunische Bevölkerung in Nordafghanistan. Das Ganze ist eine hochsensible Sache, weil Attas Geheimdienst in und um Mazar-e Sharif allgegenwärtig ist und weil er in der gesamten Bevölkerung eine Atmosphäre der Angst erzeugt, sodass es niemand wagt, etwas über diese Vorfälle zu sagen."

    Gouverneur Atta residiert als eine Art Sonnenkönig im Innersten der konzentrisch auf ihn zulaufenden Machtkreise. Schattenhafte Sekretäre öffnen die allerletzte Mahagonitür. Ein Saal wird sichtbar, an dessen Stirnseite Atta auf einer Art Thron sitzt, neben sich eine Weltkugel aus Lapislazuli. Von diesem Platz aus weist er die Anschuldigungen gezielter Morde an Paschtunen zurück. Dahinter vermutet er die Propaganda eines politischen Gegners. Diese Gerüchte seien ursprünglich von Juma Khan Hamdard ausgestreut worden, einem prominenten Mitglied der paschtunisch geprägten Hizb Islami.

    "Hamdard möchte selbst gern Gouverneur dieser Provinz werden und möglichst viele Leute aus dieser Gegend hinter sich zu bringen. Deshalb betreibt er schon seit Jahren Propaganda gegen mich. Ihm geht es darum, die Hizb Islami in dieser Provinz aufzubauen. Aber wir denken, dass die Hizb Islami eine gegen Afghanistan gerichtete Partei ist."

    In Mazar-e Sharif sieht man kaum noch Bilder mit dem Konterfei von Karsai. Dagegen überall Fotos, die Atta mit Karsais Gegenkandidat Abdullah Abdullah zeigen. Im Falle eines Wahlsiegs dürfte Karsai versuchen, Attas Macht zu brechen. Doch dessen Verhalten lässt keinen Zweifel daran, wie er sich sieht: als der König eines unabhängigen Fürstentums.

    "Ich bin sehr glücklich, dass die Menschen mich beim Aufbau dieser Provinz so tatkräftig unterstützen und dabei, sie sicherer zu machen. Und ich habe noch viele Programme und Ideen für die Zukunft auf Lager."

    Am Ende ihrer Patrouille stoßen die italienischen Fallschirmjäger auf eine verdächtige Stelle an einer Mauer unweit ihres Stützpunkts, argwöhnen sie, könnte eine Bombe vergraben sein.

    Ein Soldat steigt aus und gibt dem mitgeführten Spürhund das Kommando, die mögliche Bombe aufzustöbern. Der Hund findet nichts. – Der Vorfall wirkt beinahe wie ein Vorzeichen auf die Lage nach der Wahl, auf die Gefahr, dass Afghanistan schon bald zersplittern könnte:
    In Einflusszonen unterschiedlicher Warlords, Stammesführer, Drogenbarone, Provinzgewaltige, die sich durch ihre Ethnien definieren und die den Hass auf andere Ethnien schüren. Ausländische Mächte, die ISAF nicht weniger als Afghanistans Nachbarn, könnten einige von ihnen zu ihren Verbündeten machen. Um die Nation Afghanistans wäre es dann geschehen.