Freitag, 19. April 2024

Archiv


Afghanistanexperte: Westen hat Taliban unterschätzt

Nach Einschätzung des Afghanistanexperten Thomas Ruttig wäre eine Aufstockung der internationalen Truppen am Hindukusch kein Erfolgsrezept zur Stabilisierung des Landes. "Man braucht eine bestimmte militärische Komponente. Ich denke aber, dass man die Zahl der Soldaten auch auf eine halbe Million erhöhen könnte und trotzdem das Problem militärisch nicht in den Griff kriegen würde", sagte Ruttig, Gastwissenschaftler an der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Moderation: Elke Durak | 30.07.2007
    Elke Durak: Die Taliban führen bekanntlich einen Mehrfrontenkrieg im eigenen Land und auswärts mit Waffengewalt in Afghanistan mittels Propaganda tief in den Westen hinein. Das ist eine neue Qualität. Wie soll man ihr begegnen? Ich will dies und mehr Thomas Ruttig fragen. Er hat mehrere Jahre in Afghanistan gelebt, leitete im Jahr 2000 und 2001 das UN-Büro in Kabul und gehörte 2001 der UN-Delegation bei der Petersburger Konferenz an. Er ist am Telefon. Guten Morgen, Herr Ruttig!

    Thomas Ruttig: Guten Morgen, Frau Durak!

    Durak: Ist denn der Westen von diesem Propagandakrieg überrascht worden?
    Ruttig: Ich würde nicht sagen, dass er überrascht worden ist, aber ich glaube, dass die Taliban mit ihrer sehr intensiven Öffentlichkeitsarbeit da häufig in der Offensive sind.

    Durak: Sind sie unterschätzt worden, die Taliban?

    Ruttig: Sie sind zumindest im Jahre 2001, 2002 unterschätzt worden. Es ist ja sehr viel davon die Rede gewesen, man müsse jetzt nur noch mit den Überresten der Taliban fertig werden. Und man hat deren, nennen wir es, Überlebenspotenzial tatsächlich unterschätzt, ja.

    Durak: Und ihre Verbindungen ins Ausland, denn von ganz allein werden sie kaum so stark geworden sein. Wer unterstützt die Taliban?
    Ruttig: Ja, da gibt es ganz sicher Unterstützung aus Pakistan, das ist unbestritten. Umstritten ist nach wie vor, wie stark doch Teile der pakistanischen Regierung oder, also des pakistanischen Staatsapparates, sprich Geheimdienst, involviert sind. Es gibt da alte Connections aus der Zeit des Kampfes gegen die sowjetische Besatzung im benachbarten in Afghanistan in den 80er Jahren. Die funktionieren bis heute zum Teil.

    Durak: Wir sprechen hier immer weit weg von Afghanistan von den Taliban. Und wenn wir jetzt hören, wie es zum Beispiel um die zweite deutsche Geisel steht, die noch entführt ist, da ist zu lesen, er darf täglich mit dem deutschen Krisenstab telefonieren, sein Entführer sei ein lokaler Taliban-Chef, der sich eigentlich für einen entgangenen Bauauftrag rächen wollte. Also überhaupt kein politischer Hintergrund. Und trotzdem wird er den Taliban zugeordnet. Also, über welche Gruppen reden wir eigentlich, wenn wir von den Taliban sprechen?

    Ruttig: Ja, das ist erst mal schon so weit richtig, dass die Taliban also keine sehr homogene Bewegung sind, dass sich da sehr unterschiedliche Gruppen zusammengefunden haben oder denen zum Teil dann auch das etikettale Band der Einfachheit halber sozusagen angeklebt wird auch aus unserer Sichtweise. Es gibt sicher einen harten ideologischen Kern um den bekannten Mullah Omar, der ja auch schon in den 90er Jahren Führer der Taliban-Bewegung war. Und darum gruppieren sich auch zum Teil ideologisch motivierte Kämpfer im Land, also in Afghanistan, selbst. Dann, wie wir es ja auch in diesem Entführungsfall haben, Leute, die eher dem kriminellen Milieu zuzurechnen sind oder die halt zum Teil sich auch über Kriminalität finanzieren und damit auch eine gewisse Autonomie oder, ja, eine Autonomie besitzen gegenüber der Taliban-Führung. Und wir haben natürlich auch es mit sehr vielen Leuten zu tun, die inzwischen wieder zur Waffe gegriffen haben, die einfach mit dem unzufrieden sind, was in Kabul passiert, sowohl über das internationale Engagement dort, also sprich Mängel beim Wiederaufbau, die grassierende Korruption im afghanischen Staatsapparat vor allen Dingen auf Provinz- und Distriktebene, wo die Leute ja am stärksten mit ihrem eigenen Staat konfrontiert werden. Und wenn der sich dann als korrupt erweist, oder zum Beispiel auch bestimmte Gruppen ausschließt vom Zugang zu Ressourcen wie Entwicklungshilfe und so weiter, dann entsteht sehr schnell Ärger. Und in Afghanistan landen dann viele Leute, die verärgert sind, tatsächlich auch in den Bergen und schließen sich dann den Taliban zumindest zeitweise an. Das wäre zum Beispiel auch ein Ansatzpunkt, wenn man mit ihnen fertig werden möchte, dann lokal zu differenzieren, mit wem man es wirklich zu tun hat.

    Durak: Also auch mit gemäßigten Taliban verhandeln beispielsweise?
    Ruttig: Ja, das Wort "gemäßigte Taliban", das ist auch natürlich umstritten. Ich würde es lieber so bezeichnen: Ich nenne die Leute lokale Taliban oder Anti-Korruptions-Taliban. Mit denen kann man tatsächlich reden. Mit kriminellen Banden ist es natürlich schon schwieriger. Mit denen kann man, wie man sieht, natürlich auch verhandeln. Aber wenn die tatsächlich nur auf Geld aus sind, dann kann man sozusagen dieses Engagement auch relativ schwer wegverhandeln. Mit denen muss man dann natürlich mit rechtsstaatlichen Mitteln umgehen. Und wenn die nicht existieren, und wenn die noch nicht wiederaufgebaut sind in Afghanistan, ist das natürlich relativ schwer, weil die in einer Art rechtsfreiem Raum operieren.
    Durak: Sollten mehr Soldaten nach Afghanistan geschickt werden? Auch deutsche Soldaten werden ja da inzwischen auch von der SPD ins Gespräch gebracht.

    Ruttig: Ja, die Probleme in Afghanistan sind sicher militärisch allein nicht zu lösen. Man braucht eine bestimmte militärische Komponente. Ich denke aber, dass man die Zahl der Soldaten auch auf eine halbe Million erhöhen könnte und trotzdem das Problem militärisch nicht in den Griff kriegen würde, weil es nicht so sehr von der Zahl abhängt, glaube ich, sondern auch von der Art und Weise von der Taktik, mit der man vorgeht. Und diese "Operation Enduring Freedom", also ein Teil des internationalen militärischen Engagements in Afghanistan, die ja sozusagen die Terroristen dort jagen soll, hat ja zumindest, was deren Führer betrifft, bisher nur begrenzt Erfolge gezeigt. Und wenn wir im Moment halt Vorfälle haben, die hier auch die afghanische Bevölkerung, selbst die afghanische Regierung sehr stark verärgern, dass halt bei diesen offensiven militärischen Operationen halt sehr viele Zivilisten umkommen, dann ist das auf alle Fälle der falsche Weg. Dann sollte man vielleicht mehr Soldaten schicken, aber für defensive Aufgaben, also diese Gebiete erst mal sichern, in denen es noch einigermaßen ruhig ist und dort den Afghanen zeigen, dass auch unsere Entwicklungshilfe nutzbringenden bringt und effektiv und schnell eingesetzt wird.
    Durak: Man könnte auch kleinere Bombe werfen. So einen Vorschlag hat jetzt NATO-Generalsekretär de Hoop Scheffer gemacht. Man sollte nicht mehr 500-Kilogramm-Bomben zum Beispiel werfen, sondern 250-Kilogramm-Bomben, um die Zahl der Opfer zu reduzieren und eigentlich überhaupt keine Taliban angreifen, wenn sie sozusagen sich hinter Zivilisten verstecken. Ist das ein Weg?

    Ruttig: Na ja, Frau Durak, ich bin kein Bombenexperte. Ich weiß nicht, welches Arsenal der NATO da zur Verfügung steht. Ich glaube auch nicht, dass das eine Frage der Gewichtsklasse ist, sondern tatsächlich eine Frage der Taktik. Ein sehr hoch stehender US-General, der unter Clinton der oberste Verantwortliche für Drogenfragen war, hat mal gesagt, man sollte eine Null-zivile-Opfer-Strategie fahren und Taliban auch mal entkommen lassen, wenn sie sich in der Zivilbevölkerung verstecken und lieber nicht dann sozusagen Zivilisten den Taliban in die Arme treiben, dadurch dass man ihre Verwandten bei Offensivaktionen umbringt.
    Durak: Was ist denn, abschließend gefragt, von der großen Petersburger Konferenz übrig geblieben, dem großen Friedensplan für Afghanistan?
    Ruttig: Ich glaube, dass die Petersburger Konferenz schon ein guter Ansatz war, aber sie hatte halt auch einige Mängel. Man konnte damals, glaube ich, tatsächlich nur sehr schwer voraussehen, dass die Taliban sich wieder regenerieren würden. Und die Petersburger Konferenz hat sehr stark auf politischen Institutionen aufgebaut, Parlament und Regierung und so weitergesetzt, was natürlich wichtig ist, um ein Land zu regieren. Aber alleine reicht es auch nicht. Die Leute müssen zu Essen haben, die müssen Unterkünfte haben, wir hatten ja fünf bis sechs Millionen Flüchtlinge im Ausland, die mit großen Hoffnungen zurück nach Afghanistan gekommen sind, die keine Jobs gefunden haben, die nur sehr schwer Unterkunft gefunden haben, da ist sehr große Enttäuschung eingetreten. Also es reicht nicht, nur auf der politischen Ebene zu handeln, sondern das Leben der Leute muss sich verbessern. Und das hat es bei einem Großteil der afghanischen Bevölkerung eben noch nicht gegeben.
    Durak: Thomas Ruttig, Gastwissenschaftler an der Stiftung Wissenschaft und Politik, Afghanistanexperte. Besten Dank für das Gespräch, Herr Ruttig.