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Agatha-Christie-Gedächtnis-Landschaft

Agatha Christie kam 1890 in Torquay an der englischen Südküste zur Welt. Hier spielen einige der Romane der später zu Weltruhm kommende Schriftstellerin und auch ihr eigener Landsitz Greenway diente in ihren Werken als Kulisse.

Von Paul Stänner | 09.09.2012
    In meinen Augen kann kein Küstenort Südenglands St. Loo das Wasser reichen. Zu Recht gebührt ihm der Ehrentitel "Die Perle unter den Badeorten", was einen unweigerlich an die französische Riviera erinnert. Als ich dies meinem Freund Hercule Poirot gegenüber äußerte, meinte er lediglich: "Genau das stand gestern auf der Karte im Speisewagen, mon ami. Also keine sehr originelle Bemerkung Ihrerseits."

    Armer Captain Hastings. Versuchen wir es ohne den Reklamezettel aus dem Speisewagen: An der englischen Südküste liegt eine Bucht namens Torbay. Sie ist geformt wie ein Hufeisen. Auf dem Scheitelpunkt des Hufeisens liegt die Stadt Torquay. Dieses Torquay ist in dem Roman "Das Haus an der Düne" von Agatha Christie jener Badeort St. Loo, von dem der immer etwas dümmliche Captain Hastings gerade sprach. Das "Imperial Hotel" von heute ist das "Majestic" von damals.

    "Wenn Agatha es heute sehen würde, sie würde es wieder erkennen so, wie sie es aus ihren Tagen kannte. Es hat sich nicht groß verändert, im Stil sehr edwardianisch, sehr opulent, ziemlich genau so wie zu Agatha’s Zeiten."

    Da muss ich ihm zustimmen: Die Sonne bricht gerade durch die Wolken. Der Blick über die weite Bucht ist hinreißend und öffnet die Seele.

    Frank Turner, weiße strähnige Haare, heller Blouson, kommt klatschnass aus einem Regenguss. Er hat den Schirm vergessen. Wie kann ein Engländer seinen Schirm vergessen?

    Ich bin in Torquay auf den Spuren von Agatha Christie, der Lady of Crime und der vermutlich meist verkauften Kriminalerzählerin überhaupt. Frank und ich versuchen herauszufinden, wo in dem Roman "Das Haus an der Düne" der Detektiv Poirot und sein Freund Hastings auf der Terrasse des Hotels "Majestic gesessen haben könnten, als auf eine junge Frau namens Nick ein Mordanschlag verübt wird. Meiner Meinung nach müsste die Terrasse, auf der anderen Seite des Hotels liegen, die der Stadt zugewandt ist. Frank widerspricht.

    Frank und ich irren im Ballsaal von Fenster zu Fenster, schauen nach draußen und versuchen das Geschehen des Romans auf die schmale Veranda unterhalb des Ballsaals zu beziehen. Nach einigem Hin und Her muss ich Frank recht geben – links unter uns müssen Poirot und Hastings gesessen haben, Nick kam von weiter links, von dort kam auch der Schuss und am Ende dieser gedachten Linie liegt das Haus an der Düne.

    "Sie sitzen da unten und es sieht so aus, als käme das Geschoss vom End House, das dahinten liegt, und es traf die Wand zwischen ihnen beiden. Leuchtet das ein?"

    Es stürmt, Wind und Wellen drücken in die Torbay. Ich bin auf dem Weg zu den Torre Abbey Gardens in Torquay. Agatha Christie hatte hier während des Ersten Weltkriegs beim Freiwilligen Hilfskomitee zunächst als Krankenschwester, dann als Apothekenhelferin gearbeitet. Sie empfand die Arbeit als einigermaßen langweilig, hatte aber nebenher noch Zeit, an ihren Kriminalromanen zu arbeiten, denn schon damals versuchte sie sich als Schriftstellerin. Ihre Arbeit in der Apotheke brachte es mit sich, dass sie viel mit Giften arbeitete und mit Medikamenten, die – je nach Dosierung – entweder tödlich wirkten oder heilten. Dieser Umstand führt mich in den Torre Abbey Garden. Er liegt ein wenig oberhalb der sturmumtosten Küstenstraße.

    "In diesem Beet sind die Pflanzen, die ich in Agatha Christies Romanen gefunden habe. Ich habe sie nach Rubriken eingeordnet. Einige sind nicht wirklich gefährlich, die sind mit nur einem Totenschädel gekennzeichnet. Andere haben fünf, da weiß man, das sind wirklich schlimme Gifte. Ich muss darauf hinweisen, dass sie alle nachweisbar sind. Man kann keines von ihnen benutzen."

    Ali Marshall hat eine schmächtige Figur, dunkelbraune Haare, die ihr der Seewind immer wieder ins Gesicht bläst und Lachfalten um die Augen. Sie ist eine begeisterte Krimileserin und so kam ihr die Idee, Agathas Werk durch ein eigenes Gartensegment unter den düsteren Mauern der Torre Abbey zu ehren.

    "Die Pflanzen sind wunderschön. Da ist die Familie der Pflaumen und dort – wir alle lieben unsere Kirschbäume. Die Pfirsichbäume, die dort blühen, liefern das Cyanid. Cyanid ist Agathas Lieblingsgift, weil man es auf so viele Weisen benutzen kann. Man kann es als Gas einsetzen oder als Flüssigkeit, man kann es auch in einen Champagner tropfen lassen – also das war wirklich ihr Lieblingsgift."

    Der Pfirsichbaum, beziehungsweise das Cyanid, ist mit fünf Totenköpfen ausgezeichnet. Und daneben steht ein Schild mit einem entmutigenden Hinweis von Ali:

    "Für diejenigen unter ihnen, die sich in Versuchung geführt fühlen: Die moderne forensische Wissenschaft kann alle aufgeführten Gifte nachweisen. Und in jedem Fall bräuchte man Spezialistenkenntnisse, um das Gift aus der Pflanze auszulösen."

    Der dunkelgrüne Leyland-Bus von 1947 ist ein Liebhaberstück. Die Verschleißteile wurden sorgfältig ersetzt, die Blechschäden überlackiert und selbst die Spinnweben in der Fahrerkabine wurden nachgezüchtet. Der Fahrer ist ein jovialer Mann mit kurzen, weißen Stoppelhaaren und einem ebenso stoppeligen Schnauzbart. Er ist deutlich über 60, ein paar Zähne hat er eingebüßt, aber sonst ist er körperlich gut in Schuss. Der Bus ruckt und rüttelt, wackelt und schüttelt, vibriert und klappert. Der Motor röhrt, das Getriebe, das kaum mehr Zähne übrig hat als der Fahrer, lässt mahlende Geräusche hören. Als wir nach circa 20 Minuten in Greenway House ankommen, ist mir schlecht und ich habe Kopfschmerzen.

    Aber durch die Fahrt habe ich ungefähr ein Gespür für die Welt um 1950 bekommen, als Agatha ihr Refugium wirklich genießen konnte. 1938, da war sie schon eine Erfolgsschriftstellerin, hatte sie diesen Landsitz mit Gärtnerei, Nebengebäuden und Stallungen erworben, umgebaut und modernisiert. Greenway House liegt in einem Park von der Größe eines repräsentativen Stadtgartens. Man kann gern eine Stunde und länger gehen, ohne Gefahr zu laufen, in seine eigenen Fußstapfen zu treten. An einem dramatischen Steilhang über dem River Dart liegt Greenway House, ein dreigeschossiges, weißes Landhaus mit einem Eingang, der von vier Säulen geschmückt wird.

    "Wir sind hier in der großen Eingangshalle mit der zweiflügeligen Eingangstür und sehen hinunter auf den Dart und auf die wundervollen Sträucher und Bäume. Die Menschen lieben es, hier am Portico zu sitzen und einfach den Blick schweifen zu lassen."

    Julia, elegant, nicht unkokett, tritt gelegentlich als Schauspielerin in Liebhaberinszenierungen von Agatha-Christie-Stücken auf. Sie ist eine der vielen Freiwilligen, die die Besucherströme durch Greenway House lenken. Die Eingangshalle ist angefüllt mit Dutzenden von Dingen: Vertikos mit und ohne Aufsatz, eine goldbeschlagene Kiste, eine Frauenbüste mit Strohhut. In einem Schirmständer steht eine Kollektion von Spazierstöcken – einer davon hat einen Handgriff von Elfenbein, aus dem der lange Kopf eines Windhundes geschnitzt wurde. Die spitze Schnauze am Ende des Griffes könnte durchaus als elegante Waffe verwendet werden, von einem stutzerhaft gekleideten Hercule Poirot beispielsweise. Ich folge Julia, die von der Leiche bis zur Mörderin schon alles gegeben hat, nach links, und …

    "Jetzt kommen wir in das Morgenzimmer. Auf der linken Seite ist ein wundervolles Porträt von Agatha im Alter von vier Jahren. Sie schaut ziemlich gelangweilt, aber ein vier Jahre altes Mädchen, das still sitzen soll, um gemalt zu werden, sieht nun mal gelangweilt aus."

    Das änderte sich: In ihren jungen Jahren war Agatha Christie durchaus eine Schönheit, schlank, agil, mit einem gewinnenden Lächeln. In ihren späteren Jahren vermied sie erfolgreich zeitgenössische Unarten wie Nikotin und Alkohol. Stattdessen wurde sie süchtig nach einem Getränk, das sie sich selbst mischte – zur Hälfte Milch, zur Hälfte Sahne. Der Effekt war absehbar und unschön, Agatha ging aus dem Leim. Wir ziehen weiter:

    "Hier ist das Winterspeisezimmer - man sieht, dies ist ein großes Haus mit zwei Speisezimmern. Hier ist das Speisezimmer, das man im Winter benutzte, mit einem schmalen Gang in die Küche. Hier hatten sie im Winter, in der Kälte, ein wunderbares großes Feuer im Kamin. So war es gemütlicher als in dem großen, offiziellen Esszimmer."

    Ein Regal vom Fußboden bis zur Decke bildet die Rückwand des Winterspeisezimmers. In der Familie ist über Generationen Porzellan gesammelt worden in einer Größenordnung, die für die Ausstattung eines Landgasthofes reichen würde. Dazwischen liegen Spielzeug, Silberbesteck, Schachteln und achtlos hingeworfen ein Orden. Hätten die Christies nicht so ein großes Haus gehabt, sie wären mit ihrer Sammelleidenschaft für Alles-und-Jedes als Messis in die Psychiatriegeschichte eingegangen. Und dies war nur das Haus für den Sommer! Weiter geht es: Das Schlafzimmer von Agatha und ihrem Ehemann Max Mallowen. Max war ein bekannter Archäologe an der Universität von London.

    "Hier sehen Sie das große Bett, in dem Agatha schlief, und daneben steht ein kleines Metallbett. Die Leute wollen oft wissen, warum steht da ein Kinderbett? Und wir antworten, das ist kein Kinderbett, sondern Max’ Kampagnen-Bett, das er benutzte, wenn er auf einer Grabungs-Kampagne war. Er schien es bequem zu finden und hat es nach dem Ende seiner Grabungen nach England zurückgebracht."

    Sicherlich erleichterte Maxs` Vergnügen an dem harten Feldbett des Archäologen das Eheleben – das Doppelbett daneben wurde von Agatha ausgefüllt, die infolge ihrer Leidenschaft für Milch und Sahne außerordentlich in die Breite gegangen war. Auf das Zusammenleben von Agatha und Max scheint die körperliche Expansion keinen Einfluss gehabt zu haben – die beiden waren einander zeitlebens harmonisch zugetan, sie im breiten, er im schmalen Bett.

    Agatha Christie war eine unglaublich produktive Erzählerin. Sie schrieb bis zu drei Romane im Jahr, die sie erst nach und nach veröffentlichte, um die Leser und die Steuerbehörden nicht zu verwirren. Im Morgensalon von Greenway House steht in einem Regal ein unscheinbares 50er-Jahre-Transitorradio. Es ist manipuliert und gibt auf Knopfdruck nur einen Interviewausschnitt von Agatha preis.

    "Die Leute wollen immer wissen, nach welcher Methode ich arbeite. Ich glaube, die eigentliche Arbeit liegt darin, die Entwicklung der Geschichte so lange hin und her zu wälzen, bis es richtig auskommt. Das kann einige Zeit dauern, und dann, wenn man seinen Stoff beisammen hat, bleibt eines übrig: Man muss nur noch die Zeit finden, das Ding zu schreiben."

    Auf dem Rückweg nach Torquay wird mir deutlich, dass ich nur die Hälfte des Hauses gesehen habe – die andere Hälfte wird an Besucher vermietet, damit das kostspielige Museum zu Einnahmen kommt. Gruppen bis zu zehn Personen können hier übers Wochenende oder bis zu zwei Wochen wohnen – im Haus von Agatha Christie.