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Agenda 2010 "hat schwere Gerechtigkeitslücken hinterlassen"

Die Agenda 2010 sei handwerklich schlecht gemacht gewesen, sagt Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU). Die damalige rot-grüne Regierung habe keine sozialen Leitplanken eingezogen. Vieles an der Reform sei aber mutig gewesen.

Ursula von der Leyen im Gespräch mit Jasper Barenberg | 14.03.2013
    Jasper Barenberg: Jetzt begrüße ich auf der anderen Leitung die Bundesarbeits- und Sozialministerin. Guten Morgen, Ursula von der Leyen!

    Ursula von der Leyen: Guten Morgen.

    Barenberg: Frau von der Leyen, wir wollen gleich über Hartz IV sprechen, eine Bilanz ziehen und ein bisschen in die Zukunft schauen. Aus gegebenem Anlass wollte ich aber von Ihnen auch wissen, ob die Wahl des neuen Papstes gestern Abend auch für Sie ein besonderer Moment gewesen ist.

    von der Leyen: Oh ja, das war es zweifelsohne. Ich sehe das natürlich mit dem Blickwinkel einer Protestantin. Es war eine Überraschung, ich kenne den neuen Papst überhaupt nicht. Aber ich habe eben noch den Rest des Gespräches mit Herrn Thierse gehört und ich fühle genauso, dass die Gesten der Demut, die er ganz anfangs gezeigt hat, mich bewegt haben. Ich hoffe einfach, dass das auch ein Papst ist, der keine weitere Abgrenzung der Kirchen, sondern ein Zusammenführen der Kirchen mit sich bringen wird.

    Barenberg: Und jetzt wollen wir tatsächlich über die Agenda 2010 sprechen, welche Korrekturen, welche Weiterentwicklungen eventuell nötig sind. Wir haben ja auf dem Tisch liegen das, was sich die SPD vorstellt, wenn es im Herbst an die Bundestagswahl geht, als Antwort, manche sagen als eine Art Wiedergutmachung für die Agenda-Politik, die vor zehn Jahren begann. Stichworte dazu sind gesetzlicher Mindestlohn, Beschränkung der Leiharbeit, höhere Hartz-IV-Regelsätze, Vermögenssteuer, Solidarrente. Frau von der Leyen, wenn wir zunächst mal darüber sprechen: Sie haben ja die Agenda 2010 im Rückblick mutig und richtig genannt. Würden Sie also heute jedenfalls die Hand dafür heben im Deutschen Bundestag?

    von der Leyen: Ich würde nicht für exakt die gleiche Gesetzesform die Hand heben. Der Entschluss zur Agenda 2010, der war mutig, also zum Beispiel das Zusammenlegen von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, weil es einfach Menschen aus der Sozialhilfe in das Blickfeld der Arbeitsvermittlung gebracht hat, oder die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Aber handwerklich ist das zum Teil ausgesprochen schlecht gemacht gewesen und es hat schwere Gerechtigkeitslücken hinterlassen. Also die Grundrichtung stimmt, aber ich hätte niemals die Gesetze so mit begleitet.

    Allein die Tatsache, dass die Zeitarbeit eingeführt worden ist, ist richtig, aber wir mussten dann später zunächst einmal überhaupt die sozialen Leitplanken einziehen wie den Mindestlohn, wie die Drehtürklausel, dass nicht die Stammbeschäftigten entlassen werden und als Leiharbeiter wieder eingestellt werden. Oder zum Beispiel in Hartz IV sind komplett die Kinder mit der Bildung vergessen worden. Wir haben erst das Bildungspaket einführen müssen, damit die Kinder Zugang zu Bildung und Teilhabe haben. Also das sind alles Themen, die in einer Agenda 2010 die Flexibilität gebracht hat, die sozialen Leitplanken eingezogen hat. Und wenn man mal nach vorne guckt, dann zeigt das auch genau, dass …

    Barenberg: Lassen Sie uns einen Augenblick noch zurückblicken, denn damals haben Union und FDP, hat besonders Angela Merkel Gerhard Schröder ja einen Zauderer genannt. Die Auffassung der damaligen Opposition war, die Reformen gehen nicht weit genug. Jetzt im Rückblick sehen Sie mit anderen Worten auch, dass da soziale Unwuchten drin waren?

    von der Leyen: Es ist vor allem handwerklich schlecht gewesen. Das Erste, was ich hatte als Arbeitsministerin, waren zwei Verfassungsgerichtsurteile, die über die alte Agenda 2010 nun gefallen sind. Die Jobcenter waren schlecht aufgestellt, wir mussten sie verfassungsfest machen, dass sie auch wirklich gute Jobcenter vor Ort sind, die ihre Arbeit leisten können. Und die Regelsätze in Hartz IV waren schlicht und einfach verfassungswidrig, die mussten wir auch erst verfassungsfest machen.

    Also das Handwerk war nicht gut gewesen und meines Erachtens war auch der Blick, wie gehen die verschiedenen Gesetzesteile zusammen, fehlerhaft. Also zum Beispiel, dass man in der Rente das Rentenniveau absenkt, gleichzeitig den Niedriglohnsektor ausweitet, lässt eine klaffende Gerechtigkeitslücke für die Geringverdiener offen, die wir jetzt spüren und wo ich jetzt sage, die muss geschlossen werden durch die Lebensleistungsrente. Man kann nicht den Leuten sagen, arbeitet im Niedriglohnsektor, das ist besser als Arbeitslosigkeit – das würde ich unterschreiben -, aber dann hinten an der Rente sagen, ihr könnt so viel arbeiten, wie ihr wollt als Geringverdiener, ihr habt keine Chance mehr, eine volle Rente zu erreichen, ihr müsst dann in die Grundsicherung. Das geht nicht und das sind die Dinge, wo man sagt, dass sie im Zusammenhang …

    Barenberg: Aber in Ihrer eigenen Partei und in der Union, Frau von der Leyen, bekommen Sie ja Ihre Vorstellung dieser Lebensleistungsrente gar nicht durch.

    von der Leyen: Meine Aufgabe als Arbeits- und Sozialministerin ist es, die Entwicklungen aufzuzeigen, die in die falsche Richtung gehen, und da hält mich auch keiner zurück, sondern da sage ich ganz deutlich, ich finde es richtig, dass wir Menschen in Arbeit bringen, aus der Arbeitslosigkeit in den ersten Arbeitsmarkt. Ich finde aber, es muss fair zugehen. Das heißt: Geringqualifizierte, die erwerbstätig sind, die brauchen einen Mindestlohn, damit es fair zugeht, dass sie mit ihrer Arbeit dann auch ihren Lebensunterhalt verdienen können. Und am Ende des Tages, wenn jemand 40 Jahre gearbeitet hat, eingezahlt hat in die Rentenversicherung, oder Frauen, die Kinder erzogen haben, Ältere gepflegt haben, denen können wir am Ende des Tages, wenn sie alt sind, nicht sagen, vielen Dank, dass du das alles gemacht hast, jetzt geht es in die Grundsicherung wie jemand, der gar nichts dessen geleistet hat.

    Da müssen wir dann eben in den Rentensystemen die Lebensleistungsrente als soziales Element einführen, das sagt, du bekommst deine Rente aus der Rentenversicherung. Das sind Elemente, die eigentlich die Grundfesten der sozialen Marktwirtschaft sind. Wenn man fleißig ist, unterstützen wir das. Es muss aber dann auch die Leistung sich am Ende lohnen.

    Barenberg: Das gilt ja auch für die allgemeine Lohnentwicklung gleichsam. Wenn man hart arbeitet und die ganze Woche zur Arbeit geht, muss man von dem Geld leben können. Das Stichwort dazu lautet ja Mindestlohn. Warum sind Sie eigentlich noch so weit entfernt von einem gesetzlichen Mindestlohn, denn die SPD argumentiert ja, man kann das schlicht ausrechnen: 8,50 Euro, das braucht jemand, um fair und ordentlich leben zu können, wenn er einen Vollzeitjob hat.

    von der Leyen: Nun, wir haben in Deutschland zwölf Branchenmindestlöhne. Damit sind wir gut gefahren, übrigens alle unter CDU-Kanzlern eingeführt worden. Und was ist das Prinzip, das wir da genutzt haben? Wir haben gesagt, Gewerkschaften und Arbeitgeber, die genau wissen, wie die Lohnentwicklung ist, die sollen den Mindestlohn aushandeln. Wir in der Politik machen ihn dann allgemein gültig. Und das ist das Prinzip, was wir bundesweit haben wollen, nämlich eine Kommission, in der Arbeitgeber und Gewerkschaften, die im Augenblick 65.000 Tarifverträge verwalten, also die wissen genau, was vor Ort läuft, die handeln den Mindestlohn aus, ohne Vorgaben, die entscheiden, wie er aussieht, und wir erstrecken das dann als Politik.

    Das heißt, ich möchte schlicht und einfach nicht, dass im Parlament mit den Linken verhandelt wird, wie hoch soll er denn sein, der Mindestlohn. Das geht schief, das wird Arbeitsplätze zerstören. Ich möchte, dass in der guten Tradition der sozialen Marktwirtschaft die Tarifpartner es aushandeln. Wir sorgen nur dafür, dass er dann überall gilt.

    Barenberg: Die Bundesministerin für Arbeit und Soziales über den Papst und über Arbeit und Soziales heute Morgen hier im Deutschlandfunk. Danke, Ursula von der Leyen.

    von der Leyen: Haben Sie vielen Dank.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.