Freitag, 19. April 2024

Archiv

Aggressionsforschung
Amokläufe im Vorfeld erkennen

Columbine High School in den USA, Erfurt, Winnenden - mit diesen Namen verbindet fast jeder von uns grausame Erinnerungen an Amokläufe. Der Aggressionsforscher Christoph Paulus sucht nach Übereinstimmungen und typischen Abläufen. Seine Erkenntnisse können und sollen helfen, Amokläufe zu verhindern.

Von Eva-Maria Götz | 26.02.2015
    Jugendliche betrachten an einem Schultor einen Zettel mit dem Titel "Warum???"
    Nach dem Amoklauf stellt sich die Frage "Warum?" (picture-alliance / dpa / Daniel Karmann)
    "Amoklauf ist eigentlich wie ein großes Puzzle. Es gibt viele einzelne Teile, die Sie zusammensetzen müssen," sagt Dr. Christoph Paulus. 60 Amokläufe von zumeist jugendlichen Attentätern hat er untersucht, Hunderte von Daten ausgewertet. Sein Fazit:
    "Es müssen viele Dinge zusammenkommen. Das erste ist eben die Persönlichkeitsstörung, das bedeutet, narzistische Menschen sind einerseits stark eingenommen von ihren Phantasien, sie seien die Schönsten, die Besten, die Schlauesten, haben aber gleichzeitig ein sehr schwaches Selbstwertgefühl. Und wenn dann noch Anzeichen einer paranoiden Störung dazukommen, also übertriebene Empfindlichkeit auf Zurückweisung, Nachtragen bei Kränkungen, ständiges Misstrauen, die Umwelt möchte was tun, was mich verletzt, dann ist das schon eine viel größere Last, die diese Jugendlichen mit sich rumschleppen."
    Erkenntnisse für die Prävention erhofft
    Eric Harris, Dylan Klebold, Robert Steinhäuser, Tim Kretschmer und andere Attentäter haben viel Leid über Menschen gebracht, die ihnen einst nahestanden. Die Frage, der Christoph Paulus in seinen Forschungen nachgeht, heißt jedoch:
    "Das Ziel ist eigentlich immer, herauszufinden, wie wird aus einem Baby, das auf die Welt kommt, letztendlich ein so gewalttätiger Mensch? Das ist die große Frage, die dahintersteht. Und was kann ich daraus für Erkenntnisse ziehen, um frühzeitig aktiv präventiv tätig zu werden?"
    Gedenkstätte für die Opfer des Amoklaufs in Winnenden vom 11. März 2009
    Gedenkstätte für die Opfer des Amoklaufs vom 11. März 2009 (Stadtverwaltung Winnenden)
    Die Entwicklung, so seine Erkenntnis, verläuft über Jahre und oft unbemerkt. Ein sich ausgeschlossen fühlen aus der Gemeinschaft, die mangelnde Fähigkeit, mit auch scheinbar harmloser Kritik umzugehen, Probleme mit sich selbst zu verarbeiten oder mit Freunden zu bereden, ein Gefühl der Hilflosigkeit, dass sich aufstaut und langsam in Wut und Hass verwandelt. Gleichzeitig die Erfahrung, dass man mit aggressivem Verhalten erfolgreich sein kann. Eine daraus resultierende, zunehmende Faszination für Waffen. Depressive, hoffnungslose Gemütszustände, eine sicher immer mehr verdunkelnde Weltsicht. Und schließlich der Wunsch, all dem ein Ende zu setzen auf möglichst spektakuläre Weise - das ist das Muster, das sich immer wiederholt. Mit tatsächlichen Mobbingerfahrungen, wie man lange glaubte, hat das nichts zu tun.
    "Leben und Sterben sind eigentlich kaum relevant"
    "Wenn Sie spätere Amokläufer sehen, in ihrem normalen Alltag, in der Schule, im Sport, dann stehen die meistens am Rande ihrer Altersgenossen. Und bei Mobbing ist das so: Gruppe schließt einen einzelnen aktiv aus, also Mobbing heißt alle gegen einen, Amokläufer- weiß man jetzt inzwischen - schließen sich aktiv aus der Gesellschaft aus. Das sieht von außen genauso aus, ist aber ne völlig andere Motivation."
    Einmal Herr über Leben und Tod sein - die Selbstüberhöhung, wie sie der damals 18-jährige Colombine-Attentäter Eric Harris in seinem Tagebucheintragungen betrieb, gehört zum Bild des Amokläufers ebenso dazu:
    "Im Laufe einer Entwicklung eines Amokläufers kommt irgendwann der Punkt, dass Leben und Sterben eigentlich kaum relevant ist. Einer hat geschrieben in einem Tagebuch: Ich wünschte, ich wäre Gott, dann wäre wenigstens offiziell jeder unter mir, aber so bin ich fast wie Gott und ich kann entscheiden, was ich tun kann und was nicht. Wenn Sie diese Grundeinstellung haben, dass Sie besser, stärker, und einfach über den Menschen stehen, dann haben sie auch wenig Veranlassung, Verantwortung zu übernehmen, weil was Sie machen ist immer richtig, aus Ihrer eigenen Sicht."
    Während es für Amokläufe von Erwachsenen im vorhinein kaum Hinweise gibt, entwickeln die Jugendlichen ihre Taten lange im voraus.
    Planung bis ins Detail
    "Sie planen den Zeitablauf, sie planen den Weg, den sie gehen müssen, sie müssen an Waffen herankommen, sie müssen mit diesen Waffen auch üben, das muss alles bis ins Kleinste ausgearbeitet sein."
    Auf einem Tisch liegen Fotos von zwei Pistolen und zwei Messern.
    Auf einem Tisch liegen Fotos von zwei Pistolen und zwei Messern. (picture-alliance / dpa / Caroline Seidel)
    Straftat mit Ansage - so ist es in dem meisten Fällen. Und darin sieht Christoph Paulus eine Chance: In Tagebüchern, in Konfliktsituationen, im Internet in Newsforen und Chatrooms- Jugendliche kündigen ihre Tat an. Solche Aussagen ernst zu nehmen, sich darüber auszutauschen und notfalls auch zur Polizei zu gehen, das ist ein Rat, den der Wissenschaftler gibt, wenn es um Prävention geht.
    "Zum Beispiel hat ein Amokläufer fünf Monate vor seiner Tat in einem Forum geschrieben, es stinkt ihm, dass er immer nur zuhause sitzt und er spürt eine Wut und ja, er redet hier von Amoklauf, bitte helft mir. Wohingegen Tim Kretschmer aus Winnenden einen Tag vor seinem Amoklauf geschrieben hat, es reicht mir, alle unterschätzen mein Potential, ich hab Waffen hier, ich bin bereit, denkt an den Ort, Winnenden, morgen werdet ihr was erleben. Wenn diese Aussagen sehr konkret und detailreich werden, dann weiß man, es ist ein sehr ausgereifter Plan."
    Großer Nachahmungseffekt
    Ein Vater umarmt seinen Sohn nach dem Amoklauf eines 14-Jährigen an der Marysville-Pilchuck High School im US-Bundesstaat Washington.
    Nach dem Amoklauf an der Marysville-Pilchuck High School herrscht Trauer und Entsetzen bei Eltern, Lehrern und Schülern. (picture alliance / dpa / Matt Mills Mcknight)
    Auch wenn sich Jugendliche fasziniert von anderen Amokläufen zeigen, ist erhöhte Aufmerksamkeit gefragt, denn die Nachahmung spielt Christoph Paulus' Untersuchungen zufolge eine immense Rolle.
    "Die Taten selber sind medial auch präsent, und regen die späteren Amokläufer auch in gewissen Dingen an, so könnte ich das ja auch machen, das hat schon mal jemand vor mir gemacht, der hatte die gleichen Gefühle, die gleichen Erlebnisse und das war doch eigentlich eine gute Tat.
    Robert Steinhäuser aus Erfurt hat zum Beispiel gesagt, er fand die Amokläufe der Colombine Highschool "ganz gut", nur "deren Pressearbeit war schlecht"."
    Aufklärungsarbeit zur Prävention
    Eine andere Präventionsmaßnahme ist die Aufklärung. Um das Phänomen und seine Rahmenbedingungen zu erklären und eine erhöhte Sensibilität zu erreichen, zum Beispiel, wenn sich ein Mitschüler plötzlich abkapselt oder sein Verhalten signifikant verändert, steht das Thema mittlerweile in vielen Schulen auf dem Lehrplan im Deutsch- oder Englischunterricht. Es betrifft alle:
    "Wenn ich Vorträge halte vor Jugendlichen und frage, wer hat schon von Amokläufern gehört, dann gehen in der Regel alle Hände nach oben."
    Von schärferen Waffengesetzen oder dem Verbot von Killer-Computerspielen hält Christoph Paulus nichts. Umso mehr von mehr Zuwendung und Verantwortungsbewusstsein in Familien und Klassenräumen.
    "Die Gesellschaft wird eigentlich immer individualistischer, die Großfamilien fallen weg, die Gesellschaft wird anonymer, und damit bleiben diese jungen Männer, die große Schwierigkeiten mit sich und ihrer Umwelt haben, immer mehr mir sich alleine und haben kaum noch Ansprechpartner, um ihre Probleme zu besprechen.
    Und sie müssen immer viele Erlebnisse verarbeiten, das häuft sich und das führt dann zu einer Wut und einem Ärger, bei dem sie keine Lösungsstrategien entwickeln können und dann entwickelt sich irgendwann der Amokplan."