Gewaltbereitschaft im Linksextremismus

"Nicht jeder Antifaschist ist ein Demokrat"

08:11 Minuten
Polizisten stehen auf einer Straße im Stadtteil Connewitz, auf der Pflastersteine liegen. Mehrere Hundert Menschen protestierten gegen Durchsuchungen der Sonderkommission Linksextremismus (Soko «LinX») der sächsischen Polizei am Morgen in diesem Viertel.
Laut Verfassungsschutzbericht hat die linksextremistische Gewalt 2020 zugenommen. Politikwissenschaftler Eckhard Jesse plädiert für einen differenzierten Blick. (Symbolbild) © picture alliance / dpa-Zentralbild / Sebastian Willnow
Eckhard Jesse im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 15.06.2021
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Der Verfassungsschutz warnt vor einer Zunahme linksextremistischer Gewalt. Doch weil Linksextremisten sich auf ihren antifaschistischen Kampf berufen, werde diese Gewalt öffentlich oft anders bewertet, sagt der Politikwissenschaftler Eckhard Jesse.
Laut dem aktuellen Verfassungsschutzbericht hat die linksextremistische Gewalt 2020 zugenommen. Nach Meinung des Politikwissenschaftlers und Extremismusforschers Eckhard Jesse sollte man solche Meldungen zwar ernst nehmen. Wichtiger findet er aber, gewalttätige und nicht-gewalttätige Formen von Linksextremismus zu unterscheiden. Jesse war bis bis 2014 Professor an der Technischen Universität Chemnitz und hat zahlreiche Schriften zum Thema herausgegeben.
Gemeinsam hätten Linksextremisten mit Rechtsextremisten, dass beide den demokratischen Staat mit seinen verfassungsrechtlichen Strukturen ablehnten. Und tatsächlich sei die Zahl "der Gewalttaten von Linksaußen gegenwärtig höher als die Gewalttaten von Rechtsaußen. Insofern ist es durchaus sinnvoll, dass man alle Seiten des Extremismus im Auge behält."

Bewertung linksextremer Taten

Aber: "Den Linksextremismus gibt es nicht", betont der Politikwissenschaftler, der Mitherausgeber des "Jahrbuchs Extremismus & Demokratie" ist. Es gebe Organisationen, die Gewalt ablehnten. Und auf der anderen Seite gebe es in Deutschland circa 10.000 gewaltbereite Autonome.
Ist aber die alte Unterscheidung – Rechtsextremisten stehen stellvertretend für rassistische Gewalt und Hass auf Minderheiten, Linksextremisten verstehen sich als Bollwerk gegen Nazis, Kapitalismusfolgen und Menschenrechtsverletzungen – noch zeitgemäß?
Zumindest, sagt Jesse, lasse sich unverändert feststellen: "Rechtsextremistische Gewalt ist stärker expressiv orientiert, man reagiert sich eher spontan ab, während die linksextremistische Gewalt instrumentell ist: Man hat ein höheres Maß an Planungsintensität und versucht, die einzelnen Ziele umzusetzen."

Zunehmende Brutalisierung

Hat der Politikwissenschaftler eine Erklärung für die zunehmende Brutalisierung des Linksextremismus? "Ein Teil der Linksextremisten hat den Eindruck, dass die Gesellschaft einen Teil ihrer Taten durchaus toleriert, wenn nicht sogar Verständnis dafür hat. Während der Rechtsextremismus – glücklicherweise – in der Gesellschaft völlig isoliert ist", ist Jesses Antwort. Viele Linksextremisten fühlten sich angesichts des wachsenden Rechtsextremismus auf dem Vormarsch und erklärten, sie müssten antifaschistische Akzente setzen. Und dieser Eindruck "guter Ziele" stoße zum Teil auf Zustimmung in der Bevölkerung.
"Wir dürfen jedoch nicht vergessen: Humane Ziele rechtfertigen niemals inhumane Mittel", sagt Jesse. Der Gesellschaft müsse deutlich gemacht werden, dass die Bekämpfung des Rechtsextremismus immer mit demokratischen Mitteln geschehen müsse.
"Man kann sagen: Alle Demokraten müssten Antifaschisten sein. Aber nicht jeder Antifaschist ist ein Demokrat – und das wird häufig vernachlässigt."
(mkn)
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