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Ahmad Mansour über die "Generation Allah"
Im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken

Ahmad Mansour war selbst Islamist. Inzwischen hilft er jungen Extremisten, sich zu deradikalisieren. Geboren in Israel, lebt der Psychologe seit gut zehn Jahren in Berlin. Jetzt hat er sein erstes Buch geschrieben. Der Titel: "Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen."

Ahmad Mansour im Gespräch mit Andreas Main | 05.11.2015
    Der Psychologe und Autor Ahmad Mansour
    Der Psychologe und Autor Ahmad Mansour (Deutschlandradio / Torben Waleczek)
    Navid Kermani, Hamed Abdel-Samad, Mouhanad Khorchide – in diesem Herbst haben sich sehr unterschiedliche muslimische Autoren zu Wort gemeldet. Und zwar ausgesprochen markant. In diese Reihe gehört auch Ahmad Mansour. In verschiedenen Projekten hat er sich eingesetzt gegen religiösen Extremismus und Antisemitismus in der muslimischen Gemeinschaft. Mansour weiß, wovon er redet: Er geht in die Schulen, redet mit jenen jungen Leuten, die in islamistische Kreise geraten.
    Andreas Main: Ahmad Mansour, lassen Sie uns beginnen mit dem Ist-Zustand, bevor wir auf Ihre Lösungsvorschläge kommen. Politiker dürfen sich nicht länger hinter gut gemeinten, vermeintlich toleranten Formeln verstecken, lese ich bei Ihnen. Was bringt Sie da besonders auf die Palme?
    Ahmad Mansour: Wie oberflächlich die Debatten laufen und wann die Debatten überhaupt laufen. Also, wir haben mit dem Thema Islamismus seit Jahren zu kämpfen, auf kommunaler Ebene, in den Schulen, in den Familien. Und das Thema ist zum Thema geworden, seitdem ein paar Menschen ausgewandert sind, sag ich mal, nach Syrien und Irak gegangen sind, um da zu kämpfen, oder seitdem ein paar von denen wieder zurück in Deutschland sind. Das ist eine Riesengefahr, aber das ist nur die Spitze des Eisberges. Und die Generation Allah, die darunter steht, die nicht vom Verfassungsschutz beobachtet werden sollte, die aber für uns unfassbar relevant und unfassbar auch viel Arbeit mitbringt, darüber spricht kein Politiker.
    Main: Wie definieren Sie diese Generation Allah, was meinen Sie genau?
    Mansour: Teilweise sind die Jugendlichen nicht mal religiös. Sie beten nicht mal, sie wissen nicht so viel über ihre Religion, aber ihre Religion ist ihnen sehr, sehr wichtig. Die Religion ist zu einem Tabu geworden, wo sie nicht hinterfragen wollen, wo sie keine kritischen Fragen stellen wollen, wo sie bestimmte Werte und Ideologien in sich tragen, die hoch problematisch sind. Das sind sehr problematische Geschlechterrollen natürlich. Das sehen wir auch immer wieder in den Schulen, wenn es um Schwimmunterricht geht, wenn es um Lehrerinnen geht, die Probleme haben, Respekt zu bekommen. Das sehen wir bei antisemitischen Einstellungen, Verschwörungstheorien, die weit verbreitet sind – besonders im Internet, aber nicht nur im Internet. Es sind Jugendliche, die an einen bestrafenden Gott glauben, der sehr ähnlich wie der patriarchale Vater agiert und funktioniert: mit klaren Regeln, mit Bestrafung, er lässt mit sich nicht reden, er ist zornig und so weiter und so fort. Aber das ist auch eine Generation, die eine ganz klare Feind- und Opferrolle in sich trägt. Und dann kommen die Islamisten und müssen nur diese Inhalte überspitzen. Sie haben nichts Neues erfunden. Sie haben nur die Inhalte, die bei dieser Generation alle schon bekannt und verbreitet sind, einfach überspitzt und radikalisiert. Und deshalb hat Salafismus in Deutschland heute so einen Zulauf.
    Main: Und die Mehrheitsgesellschaft reagiert darauf mit Verharmlosung oder Panikmache, Sie haben das schon angedeutet. Was ist für Sie die Ursache für dieses Schwarz-Weiß-Denken?
    Mansour: Schauen Sie mal, was in Dresden gerade läuft, wie Pegida argumentiert. Wenn wir Themen in der Mehrheitsgesellschaft, in der Mitte der Gesellschaft tabuisieren, nicht darüber sprechen, dann tun das die Radikalen. Und die tun das auf eine Art und Weise, die uns nicht gefällt, die natürlich falsch ist. Wollen wir solche Themen einfach nur den Rechtsradikalen überlassen? Oder wollen wir über Missstände, die auch innerhalb unserer Gesellschaft existieren, sprechen, nach Lösungen suchen und solche Themen auch differenziert betrachten? Nicht jeder Muslim ist eine Gefahr für diese Gesellschaft, nicht mal die Mehrheit der Muslime ist eine Gefahr für diese Gesellschaft. Viele Flüchtlinge sind eine Ressource, sie sind etwas, wovon wir eigentlich gewinnen können. Tun wir das nicht, laufen wir Gefahr, dass solche Themen dann von den Rechtsradikalen für sich instrumentalisiert werden und natürlich so dargestellt, dass Ängste geschürt werden.
    Main: Sie wollen die Probleme ansprechen, gleichzeitig erleben Sie, dass Sie diffamiert werden. Derjenige, der Dinge beim Namen nennt – wie erleben Sie diese Situation?
    Mansour: Es gibt viele, viele, viele Reaktionen, die super positiv sind. Von Flüchtlingen, von Jugendlichen, mit denen ich arbeite, von Jugendlichen, die ich nicht mal kenne und die mir trotzdem schreiben und sagen: Gut so, machen Sie so weiter – oder: Mach so weiter. Aber es gibt zwei typische Reaktionen, die mich manchmal auch verletzen und die überhaupt nicht sachlich sind. Die eine kommt natürlich von der islamistischen Ecke: Das ist ein Verräter, das ist jemand, der seine Religion verlassen hat. Das ist ein Kafir, ein Ungläubiger, der von Gott bestraft wird. Das sind Diffamierungsversuche und Emails, die unschön sind, die auch mir manchmal Angst machen, natürlich. Aber auf der anderen Seite merke ich, dass manche politische Richtung in diesem Land nur bereit ist, uns, die Muslime, als Opfer wahrzunehmen. Wenn wir die Verantwortung übernehmen, wenn wir Missstände in unserer eigenen Community ansprechen, dann passen wir nicht in dieses Bild und werden ganz schnell entweder nicht wahrgenommen oder auch diffamiert auf eine sehr politische korrekte Art und Weise, natürlich nicht vergleichbar mit dem, was ich von der islamistischen Ecke bekomme, aber das ist für mich auch eine Art von Rassismus. Wer uns alles als Kuscheltier bezeichnen will, der geht davon aus, dass wir nicht gleichberechtigt sind. Und das darf natürlich nicht passieren. Wir Muslime können auch Kritik aushalten, wir brauchen diese Kritik, wir brauchen diese Debatten, damit wir Missstände innerhalb unserer Community ansprechen können – und vor allem, um nach Lösungen zu suchen.
    Main: Sie fordern ja eben auch eine innerislamische selbstkritische Debatte, und aus Ihrer Sicht sind extremer Islam und gemäßigter Islam längst nicht so weit auseinander, wie oft vermutet. Welche strukturellen Gemeinsamkeiten beobachten Sie als Psychologe?
    Mansour: Wenn wir das Islamverständnis von "Mustafa-normaler-Moslem" in Deutschland anschauen, dann merken wir, dass viele Vereine, Verbände eigentlich bestimmte Inhalte verbreiten, die eigentlich auch unter Islamisten als Schwerpunkt gelten. Zum Beispiel Buchstabenglaube: also, an einen Gott zu glauben, der eigentlich nicht mit sich diskutieren lässt, wo Zweifel nicht vorhanden ist und nicht vorhanden sein darf, wo kritische Fragen nicht erlaubt sind, wo Angstpädagogik, also die Angst vor Gott, die Angst vor der Hölle eine riesengroße Rolle spielt. Patriarchale Strukturen, aber auch die Tabuisierung der Sexualität, dass Männer und Frauen keinen gesunden Umgang miteinander haben dürfen. Die Islamisten tun das nur auf eine überspitzte Art und Weise, aber das Islamverständnis, das hier in Deutschland verbreitet ist, hat diese Inhalte in sich und verbreitet sie auf ihre Art und Weise. Aber auch Opfer- und Feindbilder, antisemitische Einstellungen, dieser Exklusivitätsanspruch – also nur wir haben die wahre Religion, nur wir die Wahrheit, die exklusive Wahrheit. Gott sitzt in seinem siebten Himmel und schaut nach unten und sieht die Muslime und sagt: Das sind diejenigen, die mir folgen, die das tun, was ich eigentlich für richtig halte, und alles andere ist falsch. Das ist natürlich Abwertung, das ist natürlich Ungleichheit zwischen der Religion. Das führt dann in den Schulen, im Alltag zu ganz großen Konflikten zwischen Menschen unterschiedlichen Glaubens. Und das darf nicht toleriert werden.
    Main: Ahmad Mansour ist unser Gast hier bei "Tag für Tag" im Deutschlandfunk. Wir sprechen über sein Buch "Generation Allah". Darin gibt er offen und ehrlich zu: Er war selbst Islamist. Sie legen das nicht offen, Herr Mansour, um sich in Szene zu setzen oder Voyeuristen zu bedienen, scheint mir, sondern weil Sie eben davon ausgehen, dass Ihre – sagen wir mal – islamistische Karriere prototypisch sein könnte. Was war daran das Prototypische?
    Mansour: Diese Suche nach Befreiung, die Suche nach Erleichterung. Ich, genau wie die vielen, vielen Jugendlichen und Biografien, die ich in den letzten Jahren begleitet habe, waren Jugendliche, die eine Last in sich tragen. Bei mir war das Mobbing, Langeweile, der patriarchalische Vater, Suche nach Sinn, nach Aufgaben im Leben. Und das fand ich bei den Islamisten.
    Main: Da fiel etwas von Ihnen ab, als Sie angenommen wurden?
    Mansour: Natürlich, definitiv. Viele, viele Eltern berichten, dass ihre Kinder auf einmal glücklich geworden sind, seitdem sie sich in islamistischen Kreisen bewegen. Sie sind glücklich, sie reden von Befreiung, von Angekommen-Sein, von Wiedergeburt. Das sind eigentlich Themen, die zeigen, wie groß vorher die Last, wie groß die psychologische Belastung ist, die diese Jugendlichen in sich tragen. Weil sie nicht in dieser Gesellschaft angekommen sind, oder aufgrund von Problemen in der Familie, aufgrund von depressiver Stimmung und, und, und. Bei mir waren alle diese Inhalte dabei. Und auf einmal kommt jemand und sagt, du gehörst zu uns. Du findest da Freunde und du gehörst zu einer Elite, die irgendwann die Welt beherrscht. Ich war fasziniert davon. Und ich glaube, viele Jugendliche sind fasziniert. Sie bekommen Aufgaben, sie bekommen Orientierung und Halt, sie bekommen Regeln. Ihr Alltag war vorher chaotisch, sie konnten mit ihrem Alltag nichts anfangen. Ihre depressive Stimmung, diese Suche nach Sinn: Was bin ich, was will ich, was will ich in diesem Leben erreichen? Auf einmal hat er eine ganz klare Antwort. Und leider sind die Islamisten heute diejenigen, die präsent sind und solche Antworten geben. Wir als Zivilgesellschaft versagen immer wieder, diese Jugendlichen zu erkennen erst einmal, also diese Last zu erkennen und da auch Angebote zu machen, die auch ankommen.
    Main: Im Rückblick: Fühlten Sie sich mehr angezogen, fasziniert? Oder mehr verführt, geködert?
    Mansour: Ich war nicht passiv. Nein, definitiv nicht, sondern fasziniert. Ich war leidenschaftlich dabei, besonders in den ersten Jahren. Es war natürlich auch ein Kampf gegenüber meinen Eltern, ein Kampf, dazu zu gehören. Aber ich war leidenschaftlich dabei.
    Main: Wie haben Sie den Ausweg gefunden?
    Mansour: Oh, der Ausweg war eigentlich ein Prozess, der jahrelang gedauert hat. Das ist damit verbunden, dass ich auf einmal aus diesem kleinen Dorf umgezogen bin...
    Main: Im Kernland Israel. Sie sind geboren in Israel, als arabischer Israeli.
    Mansour: Genau. In einem kleinen Dorf. Und auf einmal nach der Schule bekam ich eine Zulassung zu der Uni an der Tel Aviv und durfte da Psychologie studieren. Dadurch, dass ich da mit meinen "Feinden" zusammen studieren musste, sag ich mal so, Leute, mit denen ich vorher nichts zu tun haben wollte, die für mich mit ganz vielen Vorurteilen verbunden waren, und auf einmal merkte: Das sind Menschen, die mit mir einfach Kaffee trinken wollen. Das sind Menschen, die mir helfen wollen bei den Hausaufgaben. Ich habe Tel Aviv entdeckt und zwar die westliche Kultur, dieses Spaß-Haben, dieses Feiern, dieses einfach nicht verklemmt sein, nicht immer alles mit sündhaftem Verhalten in Zusammenhang zu bringen. Das waren Inhalte, die mich auch faszinierten, die mich neugierig gemacht haben und die dazu geführt haben, dass ich unbedingt ausprobieren wollte – und zwar alles Mögliche. Und auf einmal stand ich da - und musste eine Entscheidung treffen: Bin ich auf der Seite meiner Ideologie? Bleibe ich da? Kämpfe ich gegen die Neugier, die in mir groß geworden ist? Oder versuche ich, dieser Neugier nicht nachzugeben? Dadurch, dass ich viele Bücher gelesen habe, von Freud bis Machiavelli, Nietzsche und alles Mögliche an Psychologie-Literatur, kam eine Bewegung in mich. Ich habe angefangen nachzudenken, zu hinterfragen. Auch die Tatsache, dass meine Imame auf einmal sehr doppelmoralisch mir erschienen, hat mich dazu bewegt, einfach zu sagen, ich will es nicht mehr.
    Main: Aber wie schwierig der Ausstieg ist, zeigt ja, dass Sie bis heute, so lese ich es bei Ihnen, sich von denen, die Ihnen in Ihrer Jugend wichtig waren, ausgestoßen fühlen.
    Mansour: Ja, natürlich. Das macht mich immer wieder traurig – und zwar auch bis heute. Das sind Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin. Und auf einmal wollten sie mit mir nichts zu tun haben. Ich war vor ein paar Tagen in der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf zu Gast. Ich wurde geehrt, ich bekam einen Preis mit Hamed Abdel-Samad zusammen. Und natürlich in einer Synagoge musste ich eine Kippa tragen. Für viele dieser Menschen, die dieses Foto irgendwie entdeckt haben, war ich auf einmal Verräter. Das ist jemand, der auf einmal Kippa trägt, der nicht zu seiner Religion steht. Heuchler, Verräter – das sind Worte, die unfassbar verletzen. Solche Zustände sind nicht leicht. Und damals waren sie auch nicht leicht. Dieser Ausstieg war verbunden mit Schuldgefühlen, verbunden mit Angstpädagogik und vor allem verbunden mit sozialem Druck, dass auf einmal alle diese Menschen, mit mir nichts mehr zu tun haben wollten.
    Main: Sie haben den Ausstieg geschafft. Was das bedeutet für Ihre Arbeit und wie geholfen werden kann, radikalisierten Jugendlichen den Ausstieg aus der Salafisten-Szene zu ermöglichen, dazu morgen mehr. Danke bis hierher, Ahmad Mansour.
    Mansour: Gerne. Danke schön.