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Ahmed Mourad: "Blauer Elefant"
Psychothriller über ein Psycho-Drama

Scharîf soll seine Frau ermordet haben. Die psychiatrische Untersuchung erweist sich aber als schwierig. Als Jachja den Fall übernimmt, rutscht er selbst immer weiter hinein in einen Grenzbereich des Verstandes. Der Ägypter Interpretations-Ebenen lässt dem Leser dabei viele Interpretations-Ebenen.

Von Dina Netz | 09.04.2018
    Ahmed Mourads Psychothriller "Blauer Elefant"
    Ahmed Mourads Psychothriller "Blauer Elefant (Buchcover: Lenos Verlag)
    Ahmed Mourads bisher ins Deutsche übersetzte Romane sind nicht nur spannende Krimis. Man erfuhr daraus immer auch etwas über Ägypten. In dem düsteren Politthriller "Diamantenstaub" erklärte Mourad aus der ägyptischen Geschichte heraus, wie es dazu kam, dass sich 2011 mehr und mehr junge Menschen auf dem Kairoer Tahrir-Platz zusammenfanden, um den Diktator Mubarak zu stürzen. In "Vertigo" wühlte Mourad tief im Morast aus Korruption und Opportunismus. Wer jetzt also von "Blauer Elefant" Erkenntnisse über das aktuelle Ägypten erwartet, wird enttäuscht werden: Zum einen ist der Roman im Original schon 2012 erschienen. Zum anderen hat Mourad diesmal eher einen kammerspielartigen Psycho- als einen Politthriller geschrieben, der wenig über sich selbst hinaus weist. Allenfalls könnte man in den orientierungslosen Protagonisten ein Spiegelbild der haltlosen politischen Situation Ägyptens nach dem Sturz Mubaraks 2011 sehen. Hauptsächlich aber, so scheint es, wollte Ahmed Mourad einen klassischen Psychothriller schreiben.
    Ein trinkender, rauchender, spielsüchtiger Protagonist
    Sein Protagonist Jachja ist eine ziemlich fertige Type: Er raucht, trinkt, nimmt Drogen, spielt, versinkt in seiner Wohnung im Chaos und unterhält eine halbherzige Beziehung mit einer jungen Frau. Beim Aufstehen...
    "... musste ich gegen die morgendliche Benommenheit und den Kopfschmerz ankämpfen, der wie glühende Kohle in meinem Hinterkopf brannte und mir Lava zwischen die Augen goss. In Anbetracht des Restalkohols in meinem Blut hatte dieser Schmerz allerdings auch seine Berechtigung. Im Schrankspiegel gegenüber sah ich mein Bild, eine griechische Tragödie, die nur noch jemand niederschreiben musste. Ich streckte den Rücken durch, liess die Wirbel schmerzhaft knacken und drehte mir meine Morgenzigarette."
    Aus Gründen, die man erst später erfährt, ist Jachja fünf Jahre lang nicht zur Arbeit als Psychiater gegangen. Der Roman setzt damit ein, dass die Klinik ihm ein Ultimatum stellt, wieder zu erscheinen oder rauszufliegen. Jachja erscheint, und gleich sein erster Fall ist der eines ehemaligen Kommilitonen (was Jachja natürlich verschweigt), der seine Frau getötet haben soll. Jachja will das nicht glauben, aber auch er findet keinen Zugang zum wie abwesend wirkenden Scharîf. Allerdings mehren sich die Merkwürdigkeiten: Eine Stimme, die Scharîf zu gehören scheint, ruft Jachja immer wieder auf Scharîfs altem Telefon an. Ein schwarzer Hund taucht auf, in Alpträumen, oder doch in der Wirklichkeit?
    "Meine Sinne waren auf einen Schlag aktiviert. Schweissgebadet lag ich auf dem Rücken und hörte etwas keuchen. Verstohlen blinzelte ich durch halbgeöffnete Lider und sah ihn an der Zimmertür stehen: einen kohlschwarzen Hund, der hechelte, als sei er einen Monat lang ununterbrochen gerannt, mit struppigem Haar und dunkelroter Zunge, von der Schaum troff. Wütend und mit blutunterlaufenen Augen starrte er mich an und knurrte. Hinter den hochgezogenen Lefzen erkannte ich zwei Reihen scharfer Lanzenspitzen und grosse Angriffslust. Vor Schreck fuhr ich zusammen, meine Haare sträubten sich, und Schweiss brach mir aus allen Poren. Ich wollte aus dem Bett springen und hinter irgendetwas Schutz suchen, aber meine Glieder waren taub. Ein Ameisendorf hatte meinen Körper besiedelt und ihn gänzlich seiner Kultur unterworfen. Ich war wie gelähmt, unfähig zu reagieren, mein Herz raste, und innerlich zitterte ich vor Angst."
    Reise in eine Region der Unschärfe
    Jachjas Recherchen führen ihn immer weiter in eine Region der Unschärfe, ins Unwahrscheinliche und Unglaubliche. Er hält Scharîf für schizophren oder sogar für besessen, aber seine Kollegen und Vorgesetzten lachen ihn aus.
    Dass Jachja empfänglich ist für das Mystische, hat wohl auch mit seiner eigenen labilen Verfassung zu tun. Wie der Leser erst im Laufe der Geschichte erfährt, sind fünf Jahre zuvor seine Frau und seine Tochter bei einem von ihm verschuldeten Autounfall ums Leben gekommen. Jachja versinkt also nicht bloß in Zigarettenkippen und unerledigter Post, sondern auch in Schuldgefühlen. Und als man ihn in der Klinik damit konfrontiert, dass Scharîf vielleicht überhaupt nicht gestört, sondern ein eiskalter Mörder, dafür aber er, Jachja, der Kranke ist, ist er nur allzu bereitwillig geneigt, das zu glauben. Nur Lubna hält zu ihm, Scharîfs Schwester und Jachjas einstige große Liebe. Widerwillig muss Jachja sich eingestehen, dass auch dieses Kapitel seines Lebens nicht abgeschlossen ist.
    "Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, aber nachdem ich das Mondlicht in ihren Augen gesehen, ihre Hand in der meinen gespürt und den Duft ihres Haars eingesogen hatte, war meine Analyse so mangelhaft wie ein Produkt made in China. Ich kämpfte gegen den »professionellen« Pessimismus, der mich bei der ganzen Angelegenheit beschlich. Zur Hölle mit der Tür, die sich da zu meinem ruhigen, eintönigen, toten, in der Demut eines taubblinden buddhistischen Asketen verbrachten Lebens aufgetan hatte! Mir war jede Veränderung so zuwider! Vor allem wenn sie einen mir bis zum heutigen Tage unvergesslichen Duft aus der Vergangenheit mitbrachte."
    Die sich anbahnende Liebesgeschichte zwischen Jachja und Lubna spannt einen zweiten Spannungsbogen durch den Roman. Schließlich kann Jachja das Rätsel um Scharîfs Mord an dessen Frau mittels einer Droge namens "blauer Elefant" lösen, die ihn weit in die Vergangenheit und ins Reich der Zauberer und Dämonen führt.
    Ein souveränes Spiel mit den verschwimmenden Grenzen des menschlichen Verstandes
    "Blauer Elefant" ist ein aufregender, surrealistischer Psychothriller mit Horror-Elementen, routiniert gebaut und flott in kurzen, präzisen Sätzen geschrieben. Mourad spielt darin souverän mit den verschwimmenden Grenzen des menschlichen Verstandes. Und mit den Erzählebenen, denn die Erwähnung des schwarzen Hundes legt noch eine weitere Fährte aus: Vielleicht ist die ganze Geschichte auch eine Einbildung Jachjas, der seit dem Tod von Frau und Kind unter Depressionen leidet. Damit wäre "Blauer Elefant" ein Psychothriller über ein Psycho-Drama. Mourad lässt all diese verschiedenen Deutungsmuster zu, und dieses ergebnisoffene Spiel mit den Interpretations-Ebenen ist so raffiniert, dass man die 400 Seiten am liebsten gleich noch einmal lesen will, um sicherzugehen, dass einem nicht doch noch eine der vielen Dimensionen des Romans entgangen ist.
    Ahmed Mourad: "Blauer Elefant"
    Aus dem Arabischen von Christine Battermann
    Lenos Verlag, Basel, 416 Seiten, 22 Euro